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ОглавлениеUrlaub an der ostdeutschen Ostseeküste - das war keine wirklich gute Idee gewesen. Aber ich hatte es irgendwie wissen wollen, trotz gewisser Warnungen. Dabei waren es keineswegs verbohrte, einigungskritische Westdeutsche gewesen, die diese Warnungen ausgesprochen hatten. Von denen gab und gibt es ja genug, und interessanter Weise trifft man darunter etliche, die noch vor einigen Jahren, als für alle Fälle vorgesorgt schien, nur nicht für den Mauerfall, regelmäßig ihre biederen Bekenntnisse zu dem im bundesdeutschen Grundgesetz verankerte Wiedereinigungsgebot abgelegt hatten, und zwar nicht zu leise, sondern mit deutlichem vernehmbarem konservativem Timbre. Doch als es dann ernst wurde damit, fanden sie das gar nicht mehr so witzig - etwa nach dem Motto: Mein Gott, die deutsche Einheit, so ernst haben wir das doch gar nicht gemeint, musste das denn wirklich sein?
Dieser Badeort ein paar Kilometer nordwestlich von Rostock rühmte sich einer gewissen Authentizität, und das nicht einmal zu Unrecht, schließlich hat die ganze Bäderkultur hier ihren Anfang genommen, und die Berliner waren die ersten gewesen, die von der neuen Errungenschaft Gebrauch machten. Auf der anderen Seite musste ein Begriff wie Authentizität im Osten Deutschlands immer noch nicht viel bedeuten. Authentisch war da vieles - einfach deswegen, weil es der DDR an Geld oder an Interesse oder auch an beidem gefehlt hatte, sich um die Erhaltung gewisser traditioneller Einrichtungen zu kümmern.
Der Strand zum Beispiel war zwar nicht völlig unbenutzbar, ließ aber doch zu wünschen übrig, weil einfach im Verhältnis zu dem Sand zu viele Steine herumlagen. Es gab auch Strandkörbe, und Anna, die ein besonderes Faible für diese Freiluftmöbel hat und sich dort besser auskennt als ich, behauptete sogar, sie seien ganz bequem, nur waren sie leider dauernd alle ausgebucht, weil es zu wenige gab. Das Wasser - nun ja, es war die Ostsee, aber im Unterschied zur westdeutschen Ostsee schien diese ostdeutsche Ostsee einen deutlich höheren Besatz mit Tang, Algen und Quallen aufzuweisen. Anna hatte hierzu nichts anzumerken, da sie es ohnehin ablehnt, im Meer zu baden. Julius meinte nur, dies sei nicht das, was er von Timmendorf gewohnt sei.
Wollte man essen gehen, war das so eine Sache. Man konnte Glück haben und auf einigermaßen bemühtes, leidlich kompetentes, gelegentlich sogar freundliches Bedienungspersonal treffen. Doch zu behaupten, der Dienstleistungsgedanke hätte sich hier bereits auf breiter Front durchgesetzt, wäre eine Übertreibung gewesen. Was dominierte, war jene gewisse Abwehrhaltung aus den Zeiten, da der Gast als der natürliche Feind des Kellners gegolten hatte. Die Preise allerdings, die bewegten sich ohne weiteres auf Timmendorfer Niveau, in dieser Beziehung war die Angleichung der Lebensverhältnisse vollauf gelungen.
Und dann gab es noch die Strandpromenade. Eine Strandpromenade sollte zur Erbauung und Entspannung der Urlaubsgäste dienen, sozusagen als eine kleine Aufmerksamkeit der örtlichen Verhältnisse an die Adresse derjenigen, die schließlich Geld mitbringen - denkt man. Hier allerdings verhielt es sich so, dass die Strandpromenade von jugendlichen Glatzköpfen als Rennstrecke benutzt wurde. Man konnte den Eindruck haben, dass sie mit ihren ost- und westdeutschen Kleinwagen beinahe rund um die Uhr auf- und abfuhren, wohl in der stillen Hoffnung, vielleicht doch einmal einen Touristen auf die Kühlerhaube nehmen zu können. Vermutlich waren sie frustriert, weil es in dieser Gegend nicht genügend Asylbewerber gab. Es gibt auch heute immer noch Menschen, denen solche Typen leid tun, weil es dort, wo einmal die DDR war, keine Jugendheime mehr gibt und zu wenig Arbeit und zu viele Videotheken und überhaupt einen Mangel an Lebenssinn. Ich fand und finde es schlicht ärgerlich, ansehen zu müssen, wie tief der Mensch sinken kann, viel mehr muss man dazu im Grunde nicht sagen.
Anna war jedenfalls nicht besonders begeistert von diesem Urlaubsort, Julius auch nicht, und was mich betraf, so mischte sich der Mangel an Begeisterung mit meinen Sorgen wegen meines Jobs und noch einigem anderen Ärger, so dass sich insgesamt nicht gerade die allerbeste Stimmung ergab. Mir fielen die Warnungen einiger Kollegen wieder ein, die aus dem Osten stammten und von denen es bereits eine Reihe bei jener Westberliner Zeitung gab, bei der ich als Leiter des Ressorts Innenpolitik beschäftigt war. Insbesondere ein älterer Reporter, ehemals bei führenden Publikationsorganen des Arbeiter- und Bauernstaates beschäftigt und neuerdings ein großer Verfechter des Projekts Vereinigtes Vaterland, hatte mich sorgenvoll beiseite genommen und mir dringend geraten, das Ganze zu überdenken. Es sei noch zu früh für solche Abenteuer, hatte er gemeint. Seine „Landsleute“, wie er sie nannte, seien noch nicht so weit, um „in urlaubsspezifischer Hinsicht“ allen westlichen Ansprüchen zu genügen.
Ich schlug seine Warnung in den Wind, obschon er im Grunde ein vertrauenswürdiger Mensch war, so vertrauenswürdig, wie jemand in diesem Metier sein kann. Ich duzte mich übrigens aus Prinzip mit allen, die aus dem Osten waren, ungeachtet der Hierarchie. Das war mir einfach ein Bedürfnis. Dieses ganze Kapitel deutsche Einheit hatte ich für mich längst abgehakt, das war eigentlich kein Thema mehr, es war so gekommen, wie es irgendwann hatte kommen müssen, auch wenn es keiner geglaubt hatte, aber ich fand es ganz in Ordnung. Und das hatte nichts mit dieser Renegatenhaltung zu tun, die groß in Mode war und ein paar Jahre später bekanntlich noch einmal zu höchster Blüte gelangen sollte.
1968 erledigen - das wurde rasch zum erklärten Lieblingssport der Nachgeborenen. Die sogenannten 89er machten sich überall breit, auch bei unserer Zeitung, und das einzig Bemerkenswerte an ihnen war, wenn man es unter soziologischen, ästhetischen und dramaturgischen Aspekten betrachtet, die Erkenntnis, dass junge Leute ziemlich alt aussehen können. Sie wollten oder konnten nicht verstehen, dass 68 vor allem eine große Fete gewesen war - es gab endlich die richtige Musik und die Mädchen waren nicht mehr so verklemmt.
Für manche mag die Chiffre 1968 mit Berlin verbunden sein, schon wegen der vielen Demonstrationen, die im Fernsehen gezeigt wurden. Doch selbst das ist ein Missverständnis. Für alle, die damals nicht in Berlin weilten - also für die meisten ebenso wie mich -, hatte 1968 mit Berlin wenig zu tun. Mir war damals Berlin nicht nur gleichgültig, es ging mir die Nerven. Diese dubiose Mischung aus Heinrich Zille und Luftbrücke, Stacheldraht und spießigem Ku'damm-Glamour, aus verlogenem Insulaner-Trotz und abgestandenen Erinnerungen an tote goldene Zwanzigerjahre, dieser ganze Preußen-Humbug, garniert mit Bratwurst und Plüschbären, all dieses pathologische Pathos mit Weißbier und Kreuzberger Müsli - das war für meine Begriffe einfach deprimierend. Meinethalben hätte Berlin nicht nur zwei-, sondern viergeteilt gewesen sein können.
Manchmal dachte ich, man sollte Berlin gegen Israel umtauschen, das wäre für alle Beteiligten die gerechte Strafe gewesen. Berlin in den Nahen Osten exportieren und dafür Israel mitten nach Deutschland verlegen - das hätte die Lösung vieler Probleme sein können, nur konnte man so etwas kaum jemandem erzählen, ohne schief angeguckt zu werden.
Doch als dann gut zwanzig Jahre später die bekannten Ereignisse eintraten, machte ich rasch meinen Frieden mit dieser Geschichte. Vielleicht war dies auch die diskrete Rache Berlins an mir. Jedenfalls, ich war schon dort, als die Mauer fiel - wenn auch weniger Berlins wegen, als hauptsächlich aus Karrieregründen, was aber nichts daran ändert, dass ich es völlig in Ordnung fand, als das große Ereignis passierte, und damit ist mein Konto aus ethischer Sicht im Grunde ausgeglichen. Es war einfach eine Frage der Gerechtigkeit, den Ostdeutschen nicht weiter vorzuenthalten, was die Westdeutschen unverdientermaßen bereits hatten. Man hätte ja ganz Deutschland nach dem Zweiten Wehkrieg auch abschaffen können, moralisch wäre das leicht zu begründen gewesen.
Das wirklich Problematische an den sogenannten 89ern war in meinen Augen, dass sie die Vorgängergeneration immer nur nach 68 fragten, das nagte an ihnen, dass sie nicht dabei gewesen waren, es war fast schon rührend. Wir 68er hatten unsere Väter immerhin nach Auschwitz gefragt, und dass wir dort nicht dabei gewesen waren, empfanden wir nun wahrlich nicht als Mangel. In gewisser Weise taten mir die 89er leid, sie litten offenbar unter einer biographischen Defizit-Neurose - das war die ganze Geschichte, aber helfen konnte ihnen letztlich keiner.
So begrüßenswert mir übrigens die Einigung erschien, so schwierig fand ich es anschließend, den nunmehr mit uns Vereinten durchweg mit Wohlwollen zu begegnen. Einige Bewohner des sogenannten Beitrittsgebiets waren, gelinde gesagt, eine Enttäuschung, sobald man sie erst in natura erlebt hatte. Zu den Privilegien derjenigen, die ihren Hauptwohnsitz in Berlin hatten, zählte es, diese Entdeckung etwas schneller zu machen als etwa die Bewohner von Mönchengladbach oder Kaiserslautern. Tief im Westen brauchten sie noch Jahre, um die Feinheiten der neuen föderalistischen Folklore mitzubekommen. Noch weniger als manche Ossis allerdings gefielen mir die Wessis, die die Ossis nicht mochten. Diesen Spruch, dass Deutschland ein schwieriges Vaterland ist, hätte sich gar nicht jemand anderes auszudenken brauchen - er hätte auch ohne weiteres von mir sein können. Ambivalenz, das ist das Wort, das es beschreibt, und unser Urlaub an der ostdeutschen Ostseeküste hatte in dieser Beziehung etwas Symptomatisches.
Es war wahrscheinlich klug von mir gewesen, diese Warnungen wohlmeinender Kollegen Anna gegenüber gar nicht zu erwähnen. Das ging mir jetzt durch den Kopf, während wir immer noch in diesem Stau standen und ich mich zu fragen begann, ob wir hier je wieder wegkommen würden, selbst mir das Ganze langsam etwas unheimlich. Andererseits hatte ich womöglich einen Fehler gemacht, als ich die Warnungen nicht beherzigte. Denn hätte ich das getan, wären wir nicht in diesen Ort nordwestlich von Rostock gefahren und hätten uns überhaupt viel Ärger erspart. Am besten wäre es gewesen, in diesem Jahr ganz auf einen Urlaub zu verzichten, zumindest zu der fraglichen Zeit, als sich bei unserer Zeitung die Dinge etwas unerfreulich entwickelten. Aber was richtig und falsch ist, weiß man ohnehin immer erst dann, wenn es zu spät ist, das ist die eigentliche Tragik der menschlichen Existenz.
Was mich angeht, so wäre ich am liebsten gleich am ersten Tag wieder abgereist, doch ich sagte nichts, ich schluckte es herunter. Männer machen das ja bekanntlich gern, sie teilen sich nicht mit, sondern fressen alles in sich hinein und leiden einsam und schweigend, weshalb sie auch früher sterben.
Anna und Julius hatten zwar anfangs ihre kritischen, teilweise abfälligen Bemerkungen gemacht, aber das gab sich, Anna wirkte nach verhältnismäßig kurzer Zeit zunehmend entspannt. Und Julius hatte offenbar beschlossen, dies hier als eine Art Abenteuerurlaub zu betrachten - was es ja in gewisser Weise auch war - , und ich konnte mir vorstellen, dass er bereits daran dachte, wie er sich in der Schule mit seinen Erlebnissen „in der Zone“ brüsten würde. Der Grund für diese positive Sicht der Dinge war in erster Linie in dem Umstand zu sehen, dass wir in einer ziemlich komfortablen Appartement-Anlage untergebracht waren, einer Art von Enklave, in der es sich aushalten ließ. In einem Seebad Urlaub zu machen, nur um sich möglichst vom Meer fernzuhalten und den Badeort selbst zu meiden - das kam mir zwar ein wenig schizophren vor, aber Anna und Julius sahen das weniger streng. Das hatte vor allem mit dem Swimmingpool zu tun, den es in der Anlage gab. Dort hielten sich ständig ein paar dreizehn-, vierzehnjährige Mädchen auf, womit für die Deckung des Grundbedarfs an Erlebnishunger erst einmal gesorgt war, soweit es unseren etwas frühreifen Sohn betraf. In Annas Fall lagen die Gründe dafür, die Dinge in milderem Licht zu sehen, auf einer ähnlichen Ebene, nämlich etwa auf Höhe des Beckenrandes. Es gab hier eine große Liegewiese, auf welcher zahlreiche Menschen anzutreffen waren, nicht nur die Eltern jener Mädchen, an denen unser Sohn sein Wohlgefallen fand. Das aber hieß: Anna hatte, trotz mancher Entbehrungen, etwas gefunden, das meiner Erfahrung nach auf ihrer Positiv-Liste weit oben rangiert, noch vor anderen zivilisatorischen Errungenschaften wie gepflegten Ostseestränden oder im Sinne ihrer Zweckbestimmung nutzbaren Strandpromenaden. Sie hatte Leute um sich herum, mit denen sie von morgens bis abends reden konnte. Anna redet gern, um nicht zu sagen, gelegentlich zu viel. Man könnte sie eine Virtuosin auf dem Gebiet der verbalen Kommunikation nennen - oder, neutral formuliert: Sie ist mit der Fähigkeit ausgestattet, Neugier und Mitteilungsdrang auf frappierende Weise in eine Balance zu bringen, die höchste Effizienz garantiert, falls ein Begriff wie Effizienz in diesem Zusammenhang angemessen ist. So gesehen war dies hier ein Dorado für sie.
Als ich Anna vor Jahren kennenlernte, stand sie als schüchterne blonde Elfe in einem der langweiligen Flure jenes Zeitungshauses, in dem wir beide Volontäre waren. Wir sollten hier zu brauchbaren Redakteuren ausgebildet werden, das war der prosaische Zweck unserer Anwesenheit in diesem Betrieb, doch Annas Anblick, der kam mir wie ein reines Wunder vor. Das hatte nichts mehr mit dem Leben eines Zeitungsvolontärs zu tun. Ich sah sie, und ihr Anblick weckte in mir sogleich diese archaischen Instinkte eines männlichen Beschützers hilfloser weiblicher Wesen.
Es gibt ja inzwischen diese Theorien von den genetisch codierten Reflexen. Vielleicht nahm ich in Sekundenbruchteilen auf, dass sie trotz ihrer Zierlichkeit relativ breite Beckenknochen hatte - günstige Reproduktionsvoraussetzungen also -, und dass ihre Haut glatt und rosig und ihre Lippen voll waren und ihr Haar fest und dicht und die Augen blau und klar, alles Signale der Vitalität. Ich dachte jedenfalls: Die oder keine, wobei „dachte“ es nicht ganz trifft. Da waren eher die Instinkte und die Emotionen am Werk, und außerdem die Intuition - lauter Mächte, gegen die wenig auszurichten ist.
Anna erzählte mir hinterher, bei ihr sei es völlig anders gewesen. Zuerst einmal hatte sie mich angeblich gar nicht zur Kenntnis genommen. Sie konnte sich nach unserem ersten Zusammentreffen kaum an mich erinnern, nach dem zweiten, auf irgendeiner Redaktionsparty, bei der ich mich ziemlich unverblümt an sie heranmachte, dann allerdings schon. Im Rückblick schilderte sie es dann etwa so: Ein heruntergekommener Späthippie sei ich gewesen, und wenn sie sich meiner nicht angenommen hätte, wäre ich gewiss vor Erreichen meines dreißigsten Jahrs in der Gosse geendet. Ich sei derjenige gewesen, sagte Anna, der an ihre mütterlichen Instinkte gerührt habe. Der Himmel weiß, wie so etwas zusammenpasst - ein altertümlicher Hippie-Beschützer und eine mütterliche Elfe, aber es passte, irgendwie. Ihre Freundinnen, lauter strenge Gutachterinnen, gaben uns beiden übrigens maximal drei bis vier Monate.
Nach ein paar Wochen hatte ich auf einer Fete erstmals erlebt, wozu meine blonde, etwas schüchterne Anna fähig war, wenn es darum ging, andere Menschen auszufragen und sie zugleich in Grund und Boden zu reden. Ich glaubte meinen Ohren nicht zu trauen, was ich da alles mehr oder minder unfreiwillig mitbekam. Hemmungen kannte Anna offenkundig nicht, es war, milde gesagt, erstaunlich, wie viele Worte solch ein zarter, vermeintlich zurückhaltender Mensch weiblichen Geschlechts binnen verhältnismäßig kurzer Zeit von sich zu geben vermochte.
„Du quatscht sie zu und du quetscht sie aus, und du machst das beides zugleich“, sagte ich hinterher zu ihr, einigermaßen fassungslos. „So etwas ist, logisch gesehen, eigentlich gar nicht möglich.“
„Wie meinst du denn das?“, fragte sie unschuldsvoll und strahlte mich dabei aus ihren kornblumenblauen Augen an. „Willst du damit sagen, dass ich zuviel rede?“
Sie sagte das in dem Ton, in dem eine Frau erschrocken sagt: „Huch, was ist denn das, das ist ja eine Laufmasche“, und dazu fiel mir dann überhaupt nichts mehr ein. Ihr wiederum fiel dazu ein, dass ich nicht immer so stur sein solle. Ich musste später noch oft daran denken.
Das lag zu jener Zeit, da wir gemeinsam mit unserem jüngsten Sohn Urlaub nordwestlich von Rostock machten, fast zwei Jahrzehnte zurück. Mittlerweile hatten wir drei Söhne, von denen zwei, Max und Paul, mehr oder weniger erwachsen waren, und jene Beziehungsprophetinnen aus unserer Anfangszeit waren inzwischen immer noch frustrierte Singles oder mindestens einmal geschieden. Ich war, nachdem mir Anna jahrelang mit ihren Klagen wegen meines Mangels an Karriereehrgeiz in den Ohren gelegen hatte, Ressortleiter bei dieser Zeitung in Berlin, die dank der Einheit einen gewissen Bedeutungsaufschwung erfahren hatte, es ging uns nicht schlecht, die Kinder waren so gut geraten, wie drei Knaben eben geraten können. Anna war immer noch eine auffallend hübsche Frau, und ich, ich hatte mich auch einigermaßen gehalten oder versuchte es doch zumindest. Wir hatten eigentlich keinen Grund, uns zu beschweren - objektiv betrachtet und von meinen aktuellen Sorgen abgesehen.
Aber was heißt schon „objektiv gesehen“? Was letztlich zählt, ist das Subjektive. Vor Jahren hatten wir Nachbarn, die wir immer beneideten, weil sie ein eigenes großes Haus besaßen. Eines Tages erhängte sich der Mann, weil seine Firma pleite war, und wenig später schluckte seine Witwe, nach Annas Meinung eine resolute, selbstsichere, dazu noch attraktive Frau von Mitte dreißig, die letale Dosis Rattengift. Ihr Bruder starb im Sommer darauf an einem Stromstoß, als er beim Rasenmähen die Schnur durchschnitt.
Ich habe Anna gegenüber oft dieses Beispiel zitiert, wenn sie wieder einmal damit anfing, wie leicht bei anderen alles laufe. Ich fand, es war ein passendes Exempel, um den Unterschied zwischen subjektiv und objektiv zu illustrieren und außerdem die Irrelevanz des Materiellen.
„Fassaden“, sagte ich dann, „was sagen schon die Fassaden des Erfolgs? Wie es dahinter zugeht, weiß ohnehin keiner.“
Inzwischen fand ich allerdings, dass ich eigentlich längst stellvertretender Chefredakteur hätte sein sollen. Es stand mir einfach zu, so sah ich das, und wenn ich es jetzt nicht bald schaffte, würde es zu spät sein. Ich war Innenpolitik-Chef, was seit jeher eine gute Basis für den Sprung nach oben ist, und ich hatte mir einen gewissen Namen als Verfasser von Leitartikeln und Kommentaren gemacht, außerdem konnte ich fast zwanzig Jahre Berufserfahrung vorweisen - allerdings war ich mir mittlerweile nicht mehr so sicher, ob das viel zählte, neuerdings schienen es manche besonders schnell besonders weit zu bringen, die so gut wie keine Erfahrung hatten.
Vor allem machte ich mir seit einiger Zeit Sorgen um Amann, unseren Chefredakteur. Amann wäre der einzige gewesen, der mein Anliegen hätte befördern können. Ohne sein Wort konnte ich nicht sein Stellvertreter werden, logisch, das hatte gar nichts mit den spezifischen Bräuchen der Zeitungsbranche zu tun. Aber es sah so aus, als sitze Amann selbst nicht mehr ganz fest im Sattel, auch wenn es noch keine handfestes Indizien gab, aber dass er in letzter Zeit müde wirkte und noch etwas deutlicher desinteressiert als sonst, das war einfach nicht zu übersehen.
In den Verlagsleitungen diverser anderer Blätter schien eine Art Paranoia ausgebrochen zu sein. Wer würde es schaffen, „die Hauptstadtzeitung“ zu werden? Das war die große Frage. Sie redeten von nichts anderem, und die Art und Weise, wie sie das taten, war kaum geeignet, einen erfahrenen Journalisten irgend etwas Gutes ahnen zu lassen. Hier würden bald der eine oder andere Amoklauf und alle möglichen Blutbäder im Personalbereich fällig sein. Bei einem der Konkurrenzblätter hatten sie kürzlich einen Mittdreißiger als Verlagschef engagiert - also als den Mann an der Spitze des ganzen Unternehmens-, der vorher als Jungmanager eines Zigarettenkonzerns reüssiert und noch nie einen Zeitungsbetrieb von innen gesehen hatte. Das publizistische Credo, das er vor der versammelten Mannschaft ablegte, lautete: „Kohle machen!“ Und obschon es sich um unsere härteste Konkurrenz handelte und wahrlich kein Blatt von überragendem Niveau, sträubten sich mir die Haare, als ich davon hörte. Das Mitleid, das ich mit den Kollegen dort empfand, war indes nicht nur altruistischer, sondern gewissermaßen auch prophylaktischer Natur. Es konnte leicht sein, dass wir selbst über kurz oder lang zu Objekten des Kollegenmitleids wurden.
Aktuell galten meine Befürchtungen vor allem Rottmann, meinem Stellvertreter. Rottmann war ein Schwein, so hart das klingen mag. Ich wusste seit längerem, dass er jede Gelegenheit zu nutzen versuchte, um gegen mich zu intrigieren. Unter normalen Umständen hätte mich das nicht weiter gestört, so viel Härte hatte ich inzwischen auch. Aber die Umstände waren nicht normal, sie waren jedenfalls nicht so stabil, wie sie hätten sein sollen. Kleine Machtverschiebungen, die sonst ohne Bedeutung geblieben wären, drohten Angriffsflächen erzeugen, die unangenehme Folgen nach sich ziehen konnten. So viel hatte selbst ich, der diese Aspekte des Berufslebens lange vernachlässigt hatte, inzwischen mitbekommen. Rottmann war zehn Jahre jünger als ich, er war unverheiratet und die meiste Zeit war er in aussichtslose Beziehungen verstrickt. Er stellte es zwar so dar, als sei er derjenige, der sich vor Bewerberinnen kaum zu erwehren wisse und deshalb immer wieder in prekäre Situationen gerate. Aber er hatte den fast schon exhibitionistischen Drang, mich immer sehr detailgetreu auf dem Laufenden zu halten, und um sich aus dem, was er so erzählte, zusammenzureimen, wie seine Affären oder besser Pseudo-Affären tatsächlich beschaffen waren, musste man kein diplomierter Psychologe sein. Es war offenkundig, dass die Probleme, die er da beschrieb, nur einen Namen hatten: Rottmann.
Da er im Unterschied zu mir einen Doktortitel besaß, hielt er sich außerdem sozusagen kraft Naturrecht für den besseren Ressortchef, was die Sacher nicht leichter machte. Immerhin war ich inzwischen soweit, dass ich keine Scheu hatte, ihn dann und wann recht deutlich daran zu erinnern, wer das Sagen hatte - „die harte Tour“, wie Anna es nicht ohne Genugtuung nannte, wenn ich ihr abends davon erzählte. Sie war nach wie vor der Meinung, dass ich mich viel zu schwer damit tat, mich ins richtige Licht zu setzen. Aber sie war fair genug, um die kleinen Fortschritte zu registrieren.
Rottmann spielte sich auch gern damit auf, das bürgerliche Leben abzulehnen, allerdings nur, sofern ihm durch derartige Bekenntnisse kein Nachteil drohte. Mich nannte er einen angepassten Liberalen, was in seinen Augen so ziemlich das Schlimmste war, wie er behauptete, zumindest dann, wenn es sonst niemand hörte. Die meisten bei dieser Zeitung bezeichneten sich selbst als mehr oder weniger liberal. Manchmal dachte ich, dass Rottmann weniger ein Schwein als eine arme Sau sei. Das Heikle an solchen psychogrammatischen Diagnosen ist, dass man die Leute in ihrer Gefährlichkeit manchmal unterschätzt.
Rottmann konnte obendrein nicht gut schreiben, was für einen Journalisten ein Problem sein kann, wenn auch nicht sein muss. 1m Lauf der Jahre habe ich etliche kennengelernt, die es trotz erheblicher Defizite auf diesem Gebiet weit gebracht haben. Immerhin war Rottmann intelligent genug, um selbst einzusehen, dass er kein guter Schreiber war, doch das machte die Sache nicht viel besser. Er verwandte seinen Ehrgeiz nämlich darauf zu verhindern, dass die Beiträge anderer, die im Unterschied zu ihm schreiben konnten, ins Blatt gelangten. Auch bei mir hatte er das schon probiert, obschon er wusste, dass er da kaum eine Chance hatte. Jetzt, in meiner Abwesenheit, tat er jedoch gewiss alles, um beispielsweise zwei von mir hinterlegte Leitartikel aus der Kategorie der zeitlosen, grundsätzlichen Betrachtungen zu Fragen der politischen Kultur unter Verschluss zu halten. Amann hatte zwar Duplikate dieser Beiträge und eine Sekretärin, die ihm zeigen konnte, wie diese Texte im Computer zu finden waren, aber er war etwas schusselig, auf seine nicht einmal unsympathische Art neigte er zu dieser etwas professoralen Zerstreutheit, was letzten Endes auch der Grund dafür war, weshalb ich mir Sorgen um ihn - und damit indirekt auch um mich - machte. Vermutlich war er gar nicht in der Lage, die Existenz der von mir hinterlassenen, im Textverarbeitungssystem gespeicherten Beiträge überhaupt zu realisieren.
Während ich hier meinen Urlaub absaß, malte ich mir aus, wie Rottmann jeden Tag, wenn in der Konferenz über die Kommentarthemen beraten wurde, mit irgendwelchen abseitigen Vorschlägen aufwartete, nur um nicht auf meine „Stücke“, wie wir in unserem Jargon sagten, hinweisen zu müssen. Es gab hier im Ort einen gutsortierten Kiosk, der auch die Blätter aus Berlin führte, und ich schaute jeden Tag dort vorbei, um einen Blick in unsere Zeitung zu werfen. Jedes Mal musste ich feststellen, dass noch keine Zeile von mir erschienen war.
Doch nicht nur der Schatten Rottmanns und die Sorgen um Amanns und damit auch um meine Position lagen mir auch der Seele. Ich
machte mir außerdem Gedanken wegen meiner Figur. Ich treibe zeit meines Lebens Sport, hebe Gewichte, gehe ins Studio und achte darauf, meinen Körper in Schuss zu halten. Es gehört für mich einfach zum Tageslauf wie Essen, Trinken und Schlafen. Da in dem Urlaubsprospekt zu lesen gewesen war, die Ferienanlage verfüge über einen Fitnessraum, hatte ich diesmal meine beiden verstellbaren 25-Kilo-Hanteln zu Hause gelassen. Was ich dann in der Ferienanlage vorfand, waren ein paar Aerobic-Hanteln von zwei, drei Kilo aus Plastik, die im Vorraum einer selbstgebastelten Heimsauna herumlagen, sowie ein Sprungseil - ein ziemlich erschütterndes Bild.
Anna versuchte mich zu beschwichtigen, sie meinte, ich solle mich nicht so anstellen, ich würde schon keinen Muskelschwund bekommen, wenn ich mal eine Weile etwas kürzer träte, außerdem könne ich ja täglich in dem Pool meine Bahnen schwimmen.
„Ach ja?“, fragte ich höhnisch, „Bahnen schwimmen? In diesem Plantschbecken, das obendrein mit Kindern überfüllt ist? Meine Güte, du hast vielleicht Nerven.“
Viel hätte nicht gefehlt, und meine Laune wäre auf den Nullpunkt gesunken. Aber ich gab mir Mühe, es nicht so weit kommen zu lassen. Ich versuchte meine Freude daran zu haben, wie meine Frau und mein jüngster Sohn offenbar dabei waren, dem Ganzen hier einen gewissen Unterhaltungswert abzugewinnen. Ich nahm mir vor, dies einfach als verlorene Zeit abzubuchen. Ich würde körperlich weiter verfallen und in dieser Tristesse hier ein bisschen verblöden, was womöglich gar nicht das Schlechteste war. „Wer weiß, wofür es gut ist“ - das ist so eine Lebensweisheit, die ich sonst immer gern anbringe, auch wenn ich dafür meistens nur skeptische Blicke von Anna ernte. Vielleicht war es gut, sich für eine gewisse Zeit einem Zustand der Anspruchslosigkeit sowohl in physischer als auch psychischer und geistiger Hinsicht hinzugeben. An nichts denken, nichts tun und nur dasitzen, höchstens etwas lesen und ansonsten abwarten, bis es vorüber ist - wenn ich Glück hatte, würde es mir am Ende noch gelingen, einen Blick ins Nirwana zu tun.
Ich hatte den neuen John Irving dabei und noch ein paar andere Neuerscheinungen, die schon seit Wochen zu Hause eingeschweißt und ladenfrisch im Regal gelegen hatten, eigentlich eine Schande. Die wichtigste Schule des Schreibens ist Lesen, das sollte sogar für Zeitungsredakteure gelten, und dass ich diese Regel so lange missachtet hatte, war auch ein Zeichen dafür, dass längst nicht alles so war wie es hätte sein sollen.
Ich suchte mir morgens etwas abseits einen ruhigen Platz auf der Liegewiese und positionierte den Liegestuhl so, dass nicht nur mein Gehirn etwas von diesen Exerzitien hatte. Ich wollte wenigstens ein bisschen braun zu werden, wenn ich schon sonst nichts für mein Äußeres tun konnte. Es kam sogar vor, dass sich die Sonne blicken ließ, auch wenn es ihr weitaus besser zu gefallen schien, sich immer wieder hinter Wolkengebirgen zu verkriechen, bei deren Anblick der Himalaya vor Neid erblasst wäre. Wenn das hier kein reduziertes Dasein war, dann sollte mir mal einer sagen, was überhaupt noch unter Reduktion zu verstehen ist. Der einzige Adrenalinstoß des Tages rührte von dem Ärger, den ich spürte, wenn ich meinen Spaziergang zum Zeitungskiosk machte und wieder feststellen musste, dass Rottmann mich immer noch sabotierte, und darauf hätte ich gut verzichten können.
Doch der Kelch der Bitternis war noch keineswegs zur Neige getrunken. Es dauerte nicht lange, da machte Anna Anstalten, mich in ihre kommunikativen Exerzitien, um nicht zu sagen, Exzesse, einzubeziehen, und das war nun wirklich das Letzte, wonach mir der Sinn stand. Als ich eines Morgens, am vierten Tag war es, um genau zu sein, zum Pool kam, um meine Leseecke zu beziehen, gab Anna mir Zeichen, ich solle doch näher heranrücken. Sie saß gerade bei einem korpulenten, weißhäutigen Mann und einer etwas älteren Frau von schätzungsweise fünfzig in einem geblümten Einteiler, das waren Leute, mit denen ich sie schon am Nachmittag zuvor im intensiven Gedankenaustausch bemerkt hatte, nachdem sie einen Wurstfabrikanten aus Gummersbach mit Frau und drei Kindern, eine alleinstehende Handarbeitslehrerin aus Oelde sowie ein junges, alternatives Ehepaar aus Frankfurt/Main - er ein Werkzeugmacher mit Zopf, sie eine hochschwangere Kindergärtnerin in Latzhosen - ausgeforscht hatte. Am Abend war mir hierüber ausführlich Bericht erstattet worden, ohne dass offenbar Zweifel bestanden, ob mich das Ganze interessierte.
Ich ließ mich in meinen Liegestuhl sinken und versuchte, Annas Gesten zu ignorieren, aber ich saß noch nicht ganz, da stand sie auf und kam zu mir herüber. Sie beugte sich zu mir - ich ahnte nichts Gutes - und sagte: „Du könntest ruhig mal etwas kommunikativer sein, manchmal ist es richtig peinlich, wie du dich abkapselst.“
Ich entgegnete, dass ich lieber lesen würde, doch das prallte an ihr ab, sie ließ nicht locker.
„Die Frau ist Ärztin und er, er arbeitet bei der Bundeszentrale für politische Bildung oder so ähnlich, das ist doch bestimmt interessant für dich, ich habe ihm erzählt, dass du bei der Zeitung bist, nun komm schon, hab dich nicht so“, sagte sie, und so wie sie es sagte, löste es diese grundsätzlichen Überlegungen bei mir aus über die Frage, was sich letztlich lohnt und was nicht. Womöglich gab es etwas, das noch weniger interessant für mich war als ein dicker Mann von der Bundeszentrale für politische Bildung, aber mir fiel so auf Anhieb nicht ein, was es sein könnte. Diese Bundeszentrale war mir insofern ein Begriff, als sie diverse Druckerzeugnisse und Broschüren herausgab, die gelegentlich auf meinem Schreibtisch landeten, wie wohl auf etlichen Redakteursschreibtischen, aber bei mir blieben sie dort nie lange liegen, weil ich sie sofort in den Papierkorb warf, ohne dies für ein Sakrileg zu halten. Mir sollte hier offenbar nichts erspart bleiben, soviel war klar. Doch ich wollte nicht auch noch Stress mit Anna bekommen, deshalb tat ich ihr den Gefallen, ich klappte den Irving zu, erhob mich seufzend und trottete hinüber, indem ich meinen Stuhl hinter mir her schleifte.
Kaum saß ich bei Anna und den beiden, begann der Dicke sofort davon zu reden, wie aufregend und spannend es doch gewiss bei der Zeitung sei. Er selbst habe auch einmal mit dem Gedanken gespielt, Journalist zu werden, und während seines Politologie-Studiums habe er ein Praktikum beim „Bonner Generalanzeiger“ absolviert. Aber es sei ihm zu hektisch gewesen.
,,Hektisch?“, fragte ich ihn, „wieso soll es bei der Zeitung hektisch zugehen? Die meiste Zeit ist es eher langweilig. Das meiste ist Routine, fast wie im öffentlichen Dienst.“
Er guckte mich merkwürdig an und meinte dann, dass doch die Politik neuerdings sehr spannend geworden sei, wegen der Einheit und überhaupt. Selbst in Bonn bekomme man das mit, und für mich in Berlin habe sich doch erst recht alles grundlegend verändert.
„Na ja, wie man's nimmt“, erwiderte ich und musterte versonnen meine Zehennägel. „Man kann jetzt zum Alexanderplatz fahren und eine Bratwurst essen, ohne zwischendurch von den Vopos erschossen zu werden - falls man auf Bratwurst steht. Ich persönlich bin eher der Döner-Typ, wissen Sie, und die Döner sind im Westen einfach besser.“
Annas Kopf fuhr herum und mich traf ein Blick wie ein Messer, das fühlte ich, obschon ich weiter in erster Linie meine Füße betrachtete. Im Gesicht des Dicken zuckte etwas, wahrscheinlich ein Nerv, was unter dem Fleisch nicht genau auszumachen war, aber er wahrte Haltung, das musste ich ihm lassen. Er startete einen neuen Versuch und wollte wissen, was ich denn so im einzelnen bei der Zeitung mache, und ich tat ihm den Gefallen und sagte es ihm. Es schien ihn zu beeindrucken.
„Was ich immer schon einmal wissen wollte...“, sagte er nach kurzem Überlegen. „Diese Kommentare - wie und wann und von wem wird das eigentlich festgelegt, wer zu welchem Thema schreibt? Da gibt es doch sicherlich sehr intensive Diskussionen, ich stelle mir das jedenfalls sehr schwierig vor, ich meine, die Meinungsbildung ist doch sozusagen die Krone des Journalismus, zumal wenn man es unter dem Aspekt der gesellschaftlichen Verantwortung sieht.“
„Schwierig ist das überhaupt nicht“, sagte ich und versuchte dabei, den Blick nicht von meinen Zehen zu wenden, ich fühlte mich beinahe von ihnen hypnotisiert. „Sehen Sie mal, das meiste im Journalismus - wie auch in der Politik - besteht doch aus Wiederholung. Alles ist schon mal dagewesen, wie der arabische Philosoph Ben Akiba bereits vor zweitausend Jahren feststellte. Kennen Sie Ben Akiba? Er ist gewissermaßen der Hausheilige der Kommentatoren. Ein ordentlicher Politikkommentator hat also eine Reihe von fertigen Kommentaren im Computer gespeichert, und sobald sich das passende Ereignis einstellt, wird der entsprechende Kommentar gedruckt. Der Kommentar zum Ministerrücktritt beispielsweise. Ben Akiba. Oder der Kommentar zu dem Gesetz, das im Bundestag beschlossen wurde, im Bundesrat aber durchfällt. Ben Akiba. Oder, neuerdings sehr beliebt, der Kommentar zu dem mühevollen Prozess der inneren Einigung - irgendeine Sonntagsrede von irgendeinem Kanzler oder Bundespräsidenten. Ben Akiba. Man schaut in seine elektronische Vorratskiste, prüft kurz die Kompatibilität, und wenn es halbwegs passt, fügt man noch ein paar Sätze wegen des aktuellen Bezugs ein und schon ist die Sache erledigt.“
Ich weidete mich am Mienenspiel meines Liegestuhlnachbarn, für den augenscheinlich eine Welt zusammenbrach, und was aus Richtung Anna herüber blitzte, übersah ich einfach. Die Sonne trat gerade hinter einer Wolke hervor, und ich genoss ihre bräunende Wärme, ich genoss sie ebenso wie die Sekunden des Schweigens. Der Dicke guckte wie ein Ministrant beim Hochamt, nachdem gerade der Pfarrer mit der Flasche Messwein durchgebrannt ist. Er sagte immer noch nichts.
„Den Rest“, fuhr ich fort, „den wirklich unvermeidlichen aktuellen Rest, solche Stücke also, die am Tage geschrieben werden müssen - die knobeln die Ressortleiter dann untereinander aus, entweder mit
Streichholzziehen oder per Münzwurf. Wer gewinnt, ist raus und braucht nicht zu schreiben, und wer am Ende übrigbleibt, muss ran. Das machen wir möglichst kurz vor Redaktionsschluss, damit der Zeitdruck größer ist. Es ist nämlich immer schlecht, wenn man beim Schreiben eines Kommentars zu viel nachdenkt. Immer locker aus der Hüfte, so ist es am besten. Langes Nachdenken ist der Feind jedes guten Textes.“
Ich erhob mich und entschuldigte mich damit, dass ich mal kurz in unsere Wohnung müsse, um etwas zu erledigen. Ohne einen Blick zurück oder nach links und rechts zu werfen, ging ich davon.
Ich wollte gar nicht genau wissen, wie er jetzt guckte, es interessierte mich ungefähr so sehr, als würde in Taiyuan ein Fahrrad umfallen. In einer Stadt dieses Namens war ich einmal, um in dem üblichen Journalistentross den Wirtschaftsminister eines deutschen Bundeslandes zu begleiten und zufällig mitzuerleben, wie bundesdeutsche Wirtschaftsminister der bundesdeutschen Wirtschaft im neokapitalistischen, kommunistischen Rotchina ein Entree verschaffen. Es war, ehrlich gesagt, eine niederschmetternde Erfahrung, und weshalb mir ausgerechnet dies jetzt einfiel, wüsste ich nicht einmal zu sagen.
Der Großraum Taiyuan hat schätzungsweise sechs Millionen Einwohner, fast doppelt so viele wie Berlin. Aber ich habe in Berlin noch nie einen Menschen getroffen, der je etwas von Taiyuan gehört hat, und außerhalb von Berlin auch nicht. Als ich dort war, saßen sich einen Nachmittag lang eine deutsche und eine chinesische Delegation an einem langen Tisch gegenüber, und ich durfte dabei sein. Man servierte grünen Tee, von dem ich müde wurde - ebenso wie von dem monotonen Gemurmel der Dolmetscher. Es gab einen chinesischen und einen deutschen Dolmetscher, und alles wurde doppelt übersetzt. Es gab einen sehr langen chinesischen Monolog, den ich folglich zweimal anhören musste, und ich kämpfte mannhaft gegen mein Schlafbedürfnis, zumal in China gerade eine Hitzewelle tobte, was man unter anderem daran bemerken konnte, dass die Leute nachts auf den Bürgersteigen schliefen, weil es ihnen in ihren Käfigbatterien von Wohnblocks zu heiß wurde. Einmal stolperte ich abends über mindestens zwei Dutzend schlafende Chinesen, aber das war in Nangking, wo es noch heißer war, ich dachte erst, es sei eine
Seuche ausgebrochen. Und in Peking sah ich auf dem Platz des sogenannten Himmlischen Friedens, wie Polizisten ein paar Menschen einkassierten, sie schubsten sie in olivfarbene Lieferwagen, durch die Hecktür.
Ich dachte mir nicht viel dabei, aber ein Jahr später sah ich dann im Fernsehen, wie die Panzer rollten, und bei der Zeitung hatten wir alle wieder einmal das Gefühl, dass dieser Sommer 1989 es in sich hatte.
Diese unterbewusste Gedankenverbindung war es wahrscheinlich auch, die mich jetzt, während dieses unerfreulichen Urlaubs in Mecklenburg-Vorpommern, wieder auf Taiyuan brachte - das Wissen um die ganze Härte des Lebens drang da empor aus den tieferen Hirnschichten. Damals, im Sommer des himmlischen Blutbads, hatte ich sozusagen retrospektiv eine gewisse Genugtuung darüber empfunden, dass ich mit meinen Aversionen gegen dieses Land nicht völlig falsch gelegen hatte. Wahrscheinlich haben die Pekinger Polizisten die Leute, die sie im Sommer 1988 in die Lieferwagen schubsten, auch schon hinter der nächsten Ecke massakriert, dachte ich später.
Mir gefiel das alles nicht, und die chinesische Politik der Öffnung, die so viele Leute beeindruckte, konnte mir gestohlen bleiben. Die Chinesen aßen Hunde und rülpsten bei Tisch, und sie führten Peking-Opern auf, bei denen man nicht in Ruhe schlafen konnte, weil jemand plötzlich auf einen Gong schlug. Als sich dann zeigte, dass sie auch Ihresgleichen mit Panzern totfuhren, wunderte mich das kaum.
Aus einer Haltung des vorausschauenden Protests, wenn man so will, nahm ich auf dieser Reise diverse Gegenstände aus den Hotels mit: einen weißen Bademantel mit der englischen Aufschrift „Great Wall“, dann eine Seifenschale mit goldenem Rand und Drachenmuster, ein Wandbild, auf dem eine Landschaft mit einem gelben See und drei oder vier zerrupften Tannen sowie ein exotischer Vogel zu sehen waren, ferner zwei Garnituren Essstäbchen. Kurz vor dem Rückflug, in der Cafeteria des Flughafens, steckte ich noch unter den Augen irgendwelchen Wachpersonals - wie ich mir einbildete - einen Löffel und einen Aschenbecher ein.
Anna schien befremdet, als ich zu Hause diese Souvenirs auspackte und ihr weiszumachen versuchte, ich hätte all das Zeug gekauft. Und als ich mit der Wahrheit herausrückte, fand sie das auch nicht viel komischer. Ein Jahr später sah sie es mit etwas anderen Augen, und ich nahm den ganzen Plunder und stopfte ihn in den Mülleimer.
Bei dieser Wirtschaftsdelegationskonferenz war es übrigens so, dass der chinesische Monolog aus einer Aufzählung von Kooperationsgeschäften bestand, von Kraftwerken über Autofabriken und Stahlwerken über Straßenbau und Chemieindustrie bis hin zu U-Bahn-Projekten, und die Augen der netten Herren in Begleitung jenes Wirtschaftsministers, der mich aufgrund der Tatsache, dass ich bei der größten Zeitung jenes Bundeslandes beschäftigt war, in dem er Minister war, als einzigen Journalisten mit zu diesem speziellen Termin genommen hatten, begannen zu leuchten. Die Pointe war dummer Weise die, dass all die aufgelisteten Vorhaben bereits unter Dach und Fach waren, und zwar in Kooperation mit Schweden und Italienern, Franzosen und Amerikanern, Australiern und Kanadiern - mit dem Ergebnis, dass für die verehrten deutschen Gäste leider gar nichts übrigblieb. Ich hatte einen Abend und eine halbe Nacht zu tun, um den Minister zu trösten. Wir tranken Maotai, den stärkeren, der etwa 75 Prozent Alkohol hat und der sich auch als Treibsatz für Grillkohle verwenden lässt im Unterschied zu dem 55-prozentigen, der mehr für die Touristen ist. Diese ganze China-Reise war ein einziges Debakel, nüchtern gesehen, auch wenn es offiziell anders dargestellt wurde. Von großen deutsch-chinesischen Projekten war hinterher offiziell die Rede - und von der Vertiefung der Zusammenarbeit. Nach dem Massaker sagte aber darüber erst einmal niemand mehr etwas.
Dass mir dies jetzt wieder in den Sinn kam, während ich den Weg vom Pool zu unserem Appartement zurücklegte, hing vielleicht auch damit zusammen, dass der Mann von der Bundeszentrale für politische Bildung eine gewisse Ähnlichkeit mit einer Buddha-Karikatur hatte, genau wie Kohl, der vor lauter Zufriedenheit über sein einheitsdeutsches Gesamtkunstwerk jeden Tag dicker wurde. Vielleicht hing es auch mit meiner Stimmung zusammen. Oft, wenn ich mich nicht richtig gut fühle, fällt mir China ein. Man muss das nicht überwerten, womöglich liegt es daran, dass dieses Land ideologisch gesehen zu kompliziert ist - Stalinismus und Kapitalismus zusammen, das ist ein bisschen viel, selbst für einen auf- und abgeklärten Alt-68er, der mittlerweile ein innenpolitisches Ressort leitet. Was ich sagen will: Das Leben eines Journalisten kann zuweilen auf subtile Weise hart sein, selbst dann, wenn er sich gerade im Urlaub befindet.
Ich schloss die Tür des Ferienappartements hinter mir und warf mich auf die Couch und zündete mir eine Zigarette an, und gerade war ich dabei, wieder ein bisschen zu mir zu finden, als Anna hereingestürmt kam.
„Sag mal, spinnst du?“, wollte sie wissen.
„Bitte, hör auf, ich habe keine Lust, mit dir zu streiten“, sagte ich. „Ich bin einfach nicht so besonders gut drauf, das ist alles. Außerdem habe ich Urlaub, und im Urlaub möchte ich nicht über meinen Beruf reden, vor allem nicht angesichts der gegenwärtigen Umstände.“
„Es sind sehr nette Leute“, sagte Anna, „und ich finde es schlichtweg blamabel, wie du dich manchmal aufführst, völlig daneben ist das. Ich weiß, dass du nicht gut drauf bist, aber deswegen musst du dich nicht so gehen lassen.“
Ich hatte ihr einiges von meinen beruflichen Sorgen erzählt, wenn auch nicht alles, und sie hatte gemeint, ich solle mich damit nicht verrückt machen. Ungewohnte Klänge in meinen Ohren waren das gewesen - sie, die sich sonst ständig Sorgen um alles machte, versuchte mich zu beruhigen. Jetzt stand sie da in ihrem gelbenBikini, und ich hatte auf einmal die Idee, sie einfach zu mir auf dieses Sofa zu ziehen und den ganzen Ärger zu vergessen, der mir auf der Seele lag, wenigstens für ein paar Minuten. Weiß der Himmel, was manchmal in einem Menschen vorgeht, selbst wenn dieser Mensch man selbst ist. Doch ein Rest von Verstand sagte mir sofort, dass dies wohl wirklich nicht der richtige Moment war, einen sich abzeichnenden kleinen Ehezwist auf die bewährte Methode im Keim zu ersticken. Anna war einfach sauer auf mich, und wenn sie auf diese Art missgestimmt ist in Bezug auf meine Person, dann hilft gar nichts - außer abwarten. Irgendwann gibt sich das wieder. Aber mir kam eine Idee, um diesen Prozess etwas zu beschleunigen.
„Außerdem habe ich Zahnschmerzen“, sagte ich.
Manche Männer müssen Heldentaten vollbringen, um ihre Frauen oder überhaupt die Frauen zu beeindrucken. Wenn ich irgendetwas geschrieben habe, was alle einigermaßen gelungen finden, bleibt Anna meistens kühl. Es imponiert ihr auch nicht besonders, dass ich körperlich noch ganz gut in Form bin, während andere Männer in meinem Alter schmale Schultern, Hühnerbrüste oder Hängebäuche haben. Bisweilen gelingt es mir, sie durch irgendeinen dummen Spruch zum Lachen zu bringen - was eine Menge ist. Eine Frau zu unterhalten, ist ohnehin das Größte, was ein Mann vollbringen kann. Was Anna, meine schöne, manchmal etwas schwierige Frau, jedoch völlig aus der Fassung und sofort zum Schmelzen bringt, ist ein Mann - vorzugsweise natürlich ihr Mann -, der Zahnschmerzen hat und sich zu diesen auch bekennt und folglich nicht zögert, einen Zahnarzt aufzusuchen. Anna hat Angst vor dem Zahnarzt, zurückhaltend ausgedrückt. Tatsächlich gibt es kaum etwas, wovor sie mehr Angst hat. Und wer diese Angst nicht kennt, hat in ihren Augen zwangsläufig etwas Heroisches. Weibliche Logik kann mitunter auch sehr simpel sein.
„Um Gottes willen!“, sagte Anna. ,,Ist es schlimm? Welcher Zahn ist es?“
„Das weiß ich selbst nicht so genau“, antwortete ich. „Es ist ein eher diffuser Schmerz, möglicherweise so etwas wie eine nervliche Reizung, keine Ahnung, aber es beeinträchtigt mein Befinden ein bisschen.“
Sie zerfloss vor Mitgefühl. Ob es irgendetwas gebe, das sie für mich tun könne, fragte sie und streichelte meine Schulter. Ich schwankte kurz, ob ich meine anfängliche Überlegung wieder aufgreifen sollte, kam aber zu dem Schluss, dass mir meine Ruhe letzten Endes wichtiger war. Ich sagte, das sei sehr lieb von ihr, aber so wie die Dinge lägen, sei es nicht leicht, etwas für mich zu tun. Mir würde bestimmt später, am Abend, bestimmt noch etwas einfallen. Sie dürfe mir aber einen Kuss geben, so etwas wüssten wehe Mäuler immer zu schätzen. Ich versuchte, zugleich gequält
und ein bisschen verführerisch zu lächeln.
Anna guckte skeptisch, setzte sich dann aber doch auf die Couchkante. Sie wollte eine Zigarette, sie redete ständig davon, mit dem Rauchen aufzuhören. Doch was man darauf geben konnte, war so gut wie nichts. Ich zündete eine für uns beide an und wir rauchten abwechselnd und schwiegen.
„Du bist ziemlich fertig, stimmt's?“, sagte sie nach einer Weile, so als sei diese Erkenntnis gerade über sie gekommen, ,,nicht nur wegen des Zahns, oder?“
Ich nickte nur. Sie fragte, ob sie noch bleiben solle, ich müsse das nur sagen, oder ob es mir lieber sei, wenn sie gehe. Ich hätte es gern selbst gewusst. Ich sagte nichts. Nachdem sie die Zigarette ausgedrückt hatte, stand sie auf und ging. Ich sah ihr nach, ein bisschen traurig, aber auch ein bisschen erleichtert. Als sie weg war, stellte ich fest, dass ich tatsächlich Zahnschmerzen hatte.