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Ich fuhr mit der Zunge über die Stelle, an der gebohrt und gespachtelt worden war, und ich konnte kaum glauben, dass das alles erst ein paar Stunden zurücklag. Die Autobahn war immer noch eine Fußgängerzone, aber es sah so aus, als sei es mit dem vielen Blaulicht dort drüben bei McDonald's nicht mehr ganz so wild, die Dinge schienen sich allmählich in Richtung einer gewissen Normalisierung zu entwickeln.

,,Einen Zahnarzt, warten Sie...ja, es gibt einen gleich hier in der Nähe“, hatte er gesagt und mir einen Namen und eine Adresse aufgeschrieben. Die Formalitäten mit unserer Anmeldung hatte eine junge Frau erledigt, eine hübsche Blonde mit einer schlanken Figur, die nur von einem knappen Bikini verhüllt war. Ich hatte das sehr wohl registriert, obwohl Anna dabei war, schließlich behauptet sie immer, sie finde nichts dabei, wenn ich nach anderen Frauen schaue, das sei schließlich ein Zeichen dafür, das ich ein normaler Mann sei.

Ob sie das jedes Mal ganz ernst meint, weiß ich allerdings nicht. Später hatte ich die Frau noch am Pool mit einem kleinen Kind gesehen, das schrie, weil es allein ins Wasser wollte, was die Frau aber nicht zuließ, offenkundig deshalb, weil das Kind höchstens zwei war und nicht schwimmen konnte. Die Frau wirkte ein bisschen angespannt, beinahe schon unglücklich, nicht nur wegen des Theaters mit dem Kind, wie mir schien.

Der, der mir den Zettel mit der Zahnarztadresse über die Anmeldetheke schob, war ihr Mann, das wurde mit jetzt klar, manchmal brauche ich, wie Anna sagt, etwas länger, um die Zusammenhänge zu begreifen, sofern es sich nicht gerade um Politik handelt. Der Mann sah ein bisschen aus wie Keith Richards, das war das Nächste, was ich dachte, und das hatte wahrscheinlich auch damit zu tun, dass ich vor zwei Wochen bei dem Konzert der Stones im Olympia-Stadion gewesen war. Er war um einiges älter als ich, so etwas sieht man sofort, sein Gesicht war auf diese bestimmte Art zerfurcht, von der ich nie genau weiß, ob ich hoffen oder doch eher befürchten soll, dass meines auch einst so aussehen könnte. Irgendwie hat es etwas, so auszusehen - so jung und alt zugleich und so frivol lavierend zwischen den Gezeiten. Manchmal, wenn ich am Morgen in den Spiegel gucke, weiß ich nicht, ob ich wie ein junger Alter oder wie ein leicht verlebter Fast-noch-Junger aussehe. Manchmal gucke ich mich minutenlang an und weiß beim besten Willen nicht, was ich von der ganzen Sache halten soll.

Es gibt eine gewisse physiognomische Manier des Alterns, die hart an der Grenze zur Würdelosigkeit rangiert, deren Charme aber eben daher rührt, dass sie diese Grenze nicht wirklich streifen wird. Bei Mick Jagger war ich mir diesbezüglich nie so sicher, im Fall von Keith Richards aber wohl. Der alterte nach Art dieser schwarzen Blues-Sänger, die noch mit achtzig auf der Bühne mehr herum tapsen als stehen und dabei an eine Mischung aus Vogelscheuchen und vergreisten Tunten erinnern. Aber dennoch bewahren sie sich ihre Würde, ganz abgesehen von der Tatsache, dass sie Gitarre spielen wie die Götter.

Bei diesem Stones-Konzert in Berlin hatte ich mit einer Frau aus Zehlendorf, deren Kinder weiter vorn vor der Bühne herumturnten, einen Joint geraucht. Anna war nicht dabei, sie mag keine solch großen Menschenansammlungen, ich an sich auch nicht, aber für die Stones machte ich eine Ausnahme, ich hörte sie hier schließlich zum ersten Mal live, nach all den vielen Jahren, die seit meiner Schulzeit vergangen waren, nach all der Zeit, in der sie mich begleitet hatten, allen Spöttern zum Trotz, sie gehörten zu meinem musikalischen Standardsortiment genau wie Beethoven und Dvorak und noch ein paar andere, für die man sich nicht entschuldigen muss.

Ich trank mit labberigem, überteuertem Bier gegen den Joint an, was aber wenig nützte. Die Leute, mit denen ich hergekommen war, hatte ich plötzlich verloren - zwei Kollegen von anderen Zeitungen-, aber als die Frau mir den Joint in die Hand drückte, hatte ich einfach nicht Nein sagen können. Irgendwann war mir so, als versuche die Frau sich an mich zu lehnen, und ich wäre beinahe auf dumme Gedanken gekommen, doch der Joint und Keith Richards und das Bier und überhaupt all dies Ganze waren letzten Endes das, was mich übermannte, die Frau war es jedenfalls nicht. Später las ich die Rezensionen in den Feuilletons und war überrascht - sie waren überschwänglich und deckten sich fast nahtlos mit meinen eigenen Empfindungen, was einem eigentlich zu denken geben sollte, aber dies war etwas anderes. Die Stones - ein Ereignis von „geradezu unwiderstehlicher Macht und überwältigender Präsenz“, stand irgendwo. Es konnte also nicht nur an dem Haschisch gelegen haben, meinem ersten seit vielen Jahren.

Ich war jedenfalls froh, dies erlebt zu haben - obwohl ich am nächsten Morgen große Schwierigkeiten hatte. Ich saß in meinem Büro wie ein Zombie, nachdem ich die halbe Nacht durch Berlin geirrt war, weil ich erst eine bestimmte S- oder U-Bahn verpasst und dann die Übersicht verloren hatte und später in einer Gegend gelandet war, in der es keinen Taxistand gab, ich irrte ziemlich lange durch Berlin, meinen Hauptwohnsitz, bis ich schließlich ein Taxi fand, und Anna hatte mich morgens beim Frühstück mit sehr kritischen Blicken gemustert, ohne jedoch viel dazu zu sagen, was ich ihr hoch anrechnete. Sie hörte sich meine Schwärmereien an und meinte nur, ich solle den Wagen lieber stehen lassen und die Bahn nehmen, falls ich noch nicht wieder richtig fit sei, was ich dann auch tat. Es war einfach nicht der Morgen zum Autofahren. In der Redaktion sagte ich der Sekretärin, sie solle für eine Weile niemanden hereinlassen. Das sind Momente, in denen ich es zu schätzen weiß, Ressortleiter zu sein und ein Vorzimmer zu haben, obschon es eigentlich auch wieder traurig ist: Tür zu, Ruhe bitte, der Chef ist nicht zu sprechen - ein wirklich famoses Privileg, wenn hinter der geschlossenen Tür jemand mit einem schwerem Kopf sitzt.

Der Krieg in Bosnien trieb gerade von einem blutigen Höhepunkt zum nächsten, und an diesem Morgen nach dem Stones-Konzert entstand in meinem schweren Kopf der Gedanke, etwas über den Kriegszustand in einer sich friedlich dünkenden Gesellschaft wie der deutschen zu schreiben, einer Gesellschaft, die tatsächlich schon viel weiter in die ganze Sache hineingezogen ist, als sie selbst wahrhaben will. Sie guckten mich alle sonderbar an, meine Kollegen, als ich das in der Konferenz vortrug, so als wollten sie sagen: Na, was ist denn nun in den gefahren? Unseren innenpolitischen Hauspazifisten verschlägt es auf den Balkan?

Stendler, Chef der Außenpolitik und im Gegensatz zu mir zugleich in Personalunion stellvertretender Chefredakteur, versuchte mich zunächst auszubremsen, er wusste immer alles besser, aber das wussten mittlerweile alle. Auch daher fanden sie es wahrscheinlich spannend, einmal etwas von mir zu diesem Thema zu lesen. Stendler hatte schon schätzungsweise hundert Kommentare zum Balkan-Konflikt geschrieben. Er hielt sich - als Oberleutnant der Reserve - für den geborenen Verteidigungsminister und für den wahren Chefredakteur sowieso, das Schema zwischen ihm und Amann glich jenem zwischen Rottmann und mir. Stendler und ich, wir hassten einander nicht gerade, doch wir mochten uns auch nicht besonders, obschon wir wahrscheinlich dieselbe Partei wählten, aber so ist es ja oft. Stendler glaubte an diesem Tag offenbar, der Genosse Worthmann sei zur Einsicht gelangt und tendiere nun ebenfalls zum Interventionismus, was aber keineswegs der Fall war. Mir ging es um ganz etwas anderes - nämlich um die These, dass die innere Verfassung einer Gesellschaft von dem Moment an, da sie ihre Soldaten irgendwohin schickt, nicht mehr dieselbe ist wie vorher. Ich wollte auch jenes fiktive Bild der Rückkehr der ersten Zinksärge paraphrasieren, ohne mich allerdings festzulegen, ob ich das unvermeidlich oder schrecklich fand.

Weder der ideelle Verteidigungsminister Stendler noch sonst jemand ahnte allerdings, dass ich mich dieser schwierigen gedanklichen Übung vornehmlich zu einem eher sachfremden Zweck zu unterziehen wünschte - nämlich um mich durch die Konzentration wieder zur Besinnung zu bringen und einigermaßen nüchtern zu werden. Das Haschisch und das Bier machten mir immer noch enorm zu schaffen, und aus Erfahrung wusste ich, dass Schreiben ein gutes Mittel gegen jeder Art von Kater ist. Als Stendler, der an diesem Tag die Geschäfte führte, weil Amann, der Chefredakteur, einen freien Tag hatte, mein fertiges Werk dann zu Gesicht bekam, gab er es nach dem Gegenlesen ohne große Einwände zum Abdruck frei. Er meinte er nur, es sei „keine leichte Kost“, und das deckte sich durchaus mit meinem eigenen Eindruck. Leicht war mir das tatsächlich nicht gefallen, ich hatte regelrecht geschwitzt, was mir beim Schreiben sonst relativ selten passiert, doch ob das mehr an den Drogen oder am Thema lag, wird vermutlich nie aufzuklären sein. Ich empfand das Ganze als eine Art selbstauferlegte Strafe für meine Ausschweifungen. Zugleich schämte ich mich ein bisschen für das, was ich da geschrieben hatte. Später erhielt ich ein paar Leserbriefe, in denen die „skrupulöse Gedankenschwere“ gewürdigt wurde. Ich zerriss sie und warf die Schnipsel in den Papierkorb. Im Nachhinein kam es mir frivol vor, ein Kommentarthema, das Leben und Tod betraf, für meine eigensüchtigen Ausnüchterungszwecke missbraucht zu haben. Von der Warte des journalistischen Berufsethos aus gesehen, war das keine Heldentat gewesen.

Dieses Stones-Double, dieser Keith Richards im Büro seiner Ferienanlage in Mecklenburg-Vorpommern löste all diese verrückten Gedankenwogen wieder bei mir aus. Früher in der DDR, wo der Rock'n Roll verboten war, hatten die Rundfunkmoderatoren die Stones heimlich ins Programm geschmuggelt. Sie mussten sich vorher die Listen mit den Titeln absegnen lassen, die sie spielen wollten, und die Leute in den Zensurabteilungen hatten sich regelmäßig täuschen lassen, wenn dort von der „Mike-Jäger-Combo“ die Rede war. Das hatten mir die Kollegen aus Ostberlin erzählt, und auch das fiel mir jetzt wieder ein. Gelegentlich frage ich mich, was es mit meiner Neigung zu derartigen assoziativen Ausschweifungen auf sich hat, vielleicht ist es eine Art Krankheit.

Unfall auf der Autobahn, Bekanntschaften am Rand eines Pools in der Ex-DDR, mein Ärger im Job, 1968, meine Frau im Bikini, meine Zähne, die chinesische Tyrannei, die Rolling Stones, noch eine Frau im Bikini, die Bundeszentrale für politische Bildung - ein seltsames Kaleidoskop. Doch was soll man machen, die Wirklichkeit bleibt das Merkwürdigste überhaupt, und das Gehirn, das hinkt sowieso ein Stück hinterher.

Im Moment standen wir immer noch auf der Autobahn, und gerade rollte der dritte Leichenwagen vorbei. Anna verbarg ihr Gesicht in den Händen, die McDonald's-Reklame leuchtete weiterhin gegen den Mond an und die Grillen zirpten. Dort drüben brieten sie ihr kleingehacktes Fleisch und verkauften es an Autofahrer, während vor ihrer Haustür gerade ein paar Menschen durch die Tücken der Technik oder ihre eigene Blödheit oder beides zusammen zerfleischt worden waren, und dazu sangen Insekten ihr Todeslied - Insekten, die erfolgreichste Art überhaupt, die die Evolution hervorgebracht hat, das ist auch so ein Thema. Man müsste einmal die Gesamtmenge von Insektenplasma auf der Erdoberfläche wiegen und es gegen das der menschlichen Plasmamasse aufrechnen.

Patricia Arquette aus Mannheim statt Magdeburg sammelte ihre Kinder ein, während ihr Gatte gerade die nächste Flasche öffnete. Aber plötzlich ging es weiter und er musste mit der Sauferei aufhören, zumindest zeitweilig.

Meine Frau, der Osten und ich

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