Читать книгу Mo Morris und der Staat der Flüchtlinge - Benedict Dana - Страница 3
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ОглавлениеDie Existenz eines UN-Flüchtlingsstaates („UN Refugee Nation“) und einer „UN-City“ ist fiktiv. Genauso gibt es die südlibysche Sklavenplantage „wahat alsama“ in dieser Form nicht.
Figuren und Handlung sind frei erfunden. Mögliche Ähnlichkeiten zu lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig. Die Zusammenarbeit der italienischen Mafia mit einem Flüchtlings-Schlepperring beruht in dieser Geschichte auf Fiktion.
Als Mary Kelly ihr Fahrrad an das Tor der Einfahrt lehnte, geschah genau das, was meist geschah, wenn sie „Mo“ sah: Sie musste unweigerlich lächeln und in diesem besonderen Lächeln spiegelte sich die ganze Sympathie wider, die sie über all die Jahre für ihn gesammelt hatte. Dr. Morton Morris, ihr Kollege an der kleinen Universität der New Yorker Vorstadt Rutherford, war mittlerweile berühmt und es gab fast niemanden in den USA, der nicht schon einmal von dem sympathischen und humorvollen Kriminologen, dem man eine besondere Intuitionsgabe nachsagte, gehört hätte. Sein Spitzname „Inspector Mo“, den er sich durch seine gelegentliche Arbeit als freier Berater der New Yorker Polizei zugezogen hatte, war allerdings nur in bestimmten Kreisen bekannt, genau wie all die kleinen, witzigen Geschichten, die man sich aufgrund seines außergewöhnlichen Charakters über ihn zu erzählen pflegte.
Mary, die hübsche und kluge Psychologiedozentin, die Morton schon seit Jahren verehrte, ohne dass es je zu einer echten Beziehung gekommen wäre, war an diesem sonnigen Maivormittag in einer besonderen Mission unterwegs. Sie wollte ihm persönlich eine Nachricht des Direktors der Universität überbringen und da gerade die Sommersemesterferien angebrochen waren, hatte sie alle Zeit der Welt dafür.
Das rote Backsteinhaus mit seinen drei Giebeln und weißen, vorspringenden Holzfenstern hatte immer etwas heruntergekommen ausgesehen, aber seit einigen Monaten hatte sich seine gesamte Erscheinung stark verändert: Der früher so verwilderte Garten war mit zahlreichen, bunt blühenden Ziersträuchern neu angelegt, die Einfahrt mit Natursteinen frisch gepflastert und die Holzveranda, die großzügig den Eingang umfasste und sich ein Stück weit um die linke Hausecke herumzog, glänzte in neuem Weiß.
Beim Betreten des Vorgartens sprintete Mos Cockerspaniel „Dr. Watson“ auf Mary zu und sprang freudig an ihr hoch. Sie hatte in dem jungen, verspielten Hund seit jeher so etwas wie ein Alter Ego des unverbesserlichen Junggesellen gesehen, genauso wie in seiner resoluten und etwas spleenigen Haushälterin Ruth Higgins, die zu diesem Zeitpunkt zu ihren täglichen Besorgungen unterwegs war. Als Mo aus dem Haus trat und ihr entgegenkam, blieb ihr Blick für einen Moment an einem neuen, noch nicht befestigten Schild hängen, das auf dem Rasen lag und die Worte „Dr. Morton Morris, Privatdetektiv“ trug. Nachdem sie ihn mit der vertrauten und zugleich etwas distanzierten Umarmung begrüßt hatte, die seit langem zwischen ihnen üblich war, deutete sie auf das Schild und meinte verwundert:
„Du scheinst ja wirklich ernst zu machen! Willst du wirklich deinen Job an der Universität aufgeben? Du weißt doch noch gar nicht, ob dir das Leben als Privatdetektiv überhaupt liegt!“
„Könnte es sein, dass du hierher gekommen bist, um mir die Kündigung auszureden?“, entgegnete er mit dem feinsinnigen Lächeln, das für ihn typisch war und in dem sich stets etwas von seiner berüchtigten Intuitionsgabe widerzuspiegeln schien. Da er mit seiner Vermutung goldrichtig lag, wich sie einer Antwort aus und drängte darauf, ins Haus zu gehen, um auch dort das Ergebnis der Renovierungen in Augenschein zu nehmen. Sie ließ ihren Blick mit ein paar lobenden Worten durch den Garten und über die Fassade schweifen und folgte ihm dann die Stufen zur Veranda hinauf. In der Tat sah das behagliche Haus, das entfernt an einen altenglischen, viktorianischen Stil angelehnt war, an allen Ecken und Enden wie aus dem Ei gepellt aus. Sie wusste genau, woher das Geld für die umfassenden Renovierungsmaßnahmen stammte, ja indirekt wusste es fast das ganze Land, denn die große Belohnung, die Mo für die Lösung seines letzten Falles eingestrichen hatte, war der Öffentlichkeit allgemein bekannt.
Als sie von der kühlen, halbdunklen Diele in Empfang genommen wurden, blieb sie vor einem großen, an der Wand lehnenden Gemälde stehen, genau wie schon bei ihrem letzten Besuch. Es zeigte einen Berg mit einer Art Burg voller verschlungener Türme, Erker und Zinnen, aus der Lichtgestalten die Hände flehend in den Himmel streckten; ein mächtiger Lichtstrahl ging von dem Dach des fantastischen Gebäudes aus und ließ überall Lichtflocken über ein ödes, lediglich von einem See belebtes und mit lauter Computerschrott bedecktes Land nieder regnen. Die Bedeutung des aussagekräftigen Motivs war ihr längst geläufig, da das Bild eine besondere Verbindung zu Mos letztem Fall aufwies, als ein großer Internetblackout die USA in Atem gehalten hatte. Olivia Carrigan, die Malerin des Gemäldes, die es Mo geschenkt hatte, hatte in diesem Fall eine tiefer gehende Bedeutungsebene repräsentiert, die bis heute Rätsel aufgab.
Mo stieß schwungvoll die hohe, zweiflügelige Tür auf, die aus der Diele in den Hauptwohnraum führte, und präsentierte seiner Besucherin mit einer weit ausholenden Geste stolz das Ergebnis der wochenlangen Aufräumarbeiten. Das Tohuwabohu aus zahllosen Papier- und Zeitschriftenstapeln, überquellenden Bücherregalen und den verschiedensten, überall wild verstreuten Dingen, das früher den Raum bestimmt hatte, war restlos verschwunden und hatte dem Bild eines stilechten, altenglischen Salons Platz gemacht. Die tadellose Ordnung hob den Wert der Antiquitäten, die unverändert an ihrem Platz standen, neu hervor und ließ das klassische Interieur, das eines Meisterdetektivs wie Sherlock Holmes würdig gewesen wäre, voll zur Geltung kommen. Die linke, holzvertäfelte Wand, vor der sich eine alte Standuhr befand, ging in ein hohes Bücherregal über, das den hinteren Teil des Salons wie eine große Bibliothek wirken ließ. Der mitten im Raum stehende antike Schreibtisch, vor dem fein säuberlich zwei Besucherstühle positioniert waren, sah wie der Arbeitsplatz in einer vornehmen Anwaltskanzlei aus, und auf dem ungewöhnlich langen, von einem alten Ledersofa und einigen Sesseln eingerahmten Couchtisch, der früher über und über mit allem möglichen Krimskrams übersät gewesen war, war jetzt nur noch ein brandneuer Laptop und eine leere Kaffeetasse zu sehen.
Als sie durch das blitzblanke, in den Garten weisende Panoramafenster sah, das vor wenigen Wochen noch von vergilbten, durch den Cockerspaniel zerfetzten Gardinen verhängt gewesen war, wurde ihr Erstaunen nochmals verstärkt. In der ebenfalls renovierten Garage stand neben einem alten VW Käfer ein imposanter Chevrolet im SUV-Stil, der im Vergleich zu dem VW riesengroß aussah. Der Ruf eines etwas spleenigen, witzigen und unangepassten Zeitgenossen, den sich Mo an der Universität erworben hatte, hatte auch ein wenig mit dem alten Käfer zu tun gehabt, der nun endgültig zu einem Museumsstück geworden war. Für Mary, die als Doktorin der Psychologie einige Menschenkenntnis besaß, war dies ein untrügliches Zeichen, dass eine bedeutende Veränderung in dem Wesen ihres Freundes vor sich gegangen war.
„Die Belohnung, die du für den letzten Fall eingestrichen hast, hat vielleicht auch ein paar Schattenseiten. Geld verändert die Menschen, ich hoffe du unterschätzt das nicht…“, bemerkte sie mit einem nachdenklichen und kritischen Ton, während sie ihren Blick langsam von dem teuren Chevrolet abwendete und kurz über den frisch geschliffenen Parkettboden und die schneeweiß gestrichenen Wände wandern ließ.
Er hielt es nicht für notwendig, seinen neuen Lebensstil zu verteidigen, und vertiefte sich lieber in den Anblick ihrer feinen, braunen Locken, die ihr locker bis auf die Schultern fielen und ihr zartes Profil wie immer äußerst vorteilhaft zur Geltung brachten. Ihre spitze, intelligente Nase hatte ihm schon immer am meisten an ihr gefallen und er betrachtete sie gewissermaßen als ein spezielles Merkmal, das sie einer besonderen Klasse von Menschen zuwies. Sie hatte Bildung und Stil und ihr ganzes Wesen spiegelte für ihn eine Art höheren Menschentypus wider, dem er sich selber nur bedingt zugehörig fühlte. Ihr Anblick löste wie immer widerstreitende Gefühle in ihm aus, weshalb er zur Ablenkung in die Küche flüchtete, um die Kaffeemaschine einzuschalten. Bei seiner Rückkehr in den Salon zögerte sie nicht länger, den Grund ihres Besuches anzusprechen.
„Rektor Cunningham hat mich gebeten, dich zu überreden an der Universität zu bleiben. Er bietet dir eine Tätigkeit als Privatdozent an, die nur für ein paar Vorlesungen pro Semester verpflichtend wäre. Ich würde das Angebot annehmen, denn falls dir die Arbeit als Privatdetektiv doch nicht liegt, könntest du auf diese Weise leichter an die Universität zurückkehren.“
„Ausgerechnet der alte Professor Cunningham bittet mich darum! Natürlich ist er zu stolz, es mir selbst zu sagen, nachdem er jahrelang keinen Hehl daraus gemacht hat, wie wenig er von mir und meinen liberalen Lehrmethoden hält. Ich weiß ganz genau, was dahinter steckt. Nachdem mich der letzte Fall in die Medien gebracht hat, bin ich für die Uni ein Aushängeschild geworden. Eine bessere Werbung könnte es kaum geben!“
Er erhob sich mit einem zynischen Lachen und holte ein Tablett mit Kaffeegeschirr aus der Küche. Als er zwei Tassen und eine Schale mit Keksen betont ordentlich auf dem Couchtisch aufbaute, neckte Mary ihn voller Ironie:
„Ist das dein neuer Stil? Hast du Spaß daran? Alles sauber, hübsch und adrett wie bei Omas spießigem Kaffeekränzchen… Meine Güte, wenn ich im Vergleich dazu an das Chaos früher hier denke! Es liegt doch nicht nur am Geld, oder? Steckt sie vielleicht dahinter, hast du für sie alles hier so nett gemacht?“
Er wich erstaunt zurück und brauchte eine Weile, um zu realisieren, wie viel ernst in dieser scheinbar harmlosen Frage steckte. Es war für ihn unmöglich auf Anhieb zuzugeben, dass es eine „Sie“ in seinem Leben gab, also musste er sich ahnungslos geben.
„Wovon redest du?“
„Als ich dich vor einigen Wochen besuchen wollte, bat mich Mrs. Higgins für ein paar Minuten hinein, obwohl du nicht da warst. Wir plauderten etwas und sie ließ sich nicht sehr positiv über eine gewisse Betty Cadena aus, die dir völlig den Kopf verdreht hätte. Als Psychologin finde ich das natürlich hochinteressant. Du weißt, es ist nur ein rein berufliches Interesse, denn ich mische mich nicht gern ein. Schließlich geht es mich nichts an.“
Er hätte am liebsten laut protestiert. Ihr letzter Satz war so dumm, wie das ganze psychologische Spiel, in dem sie seit Jahren ausweglos gefangen waren. Keiner von ihnen war bis heute fähig, die Sympathien und Gefühle für den Anderen zu zeigen und etwa ganz offen zu sagen: Das, was du tust, geht mich sehr wohl etwas an! Außerdem ärgerte er sich über Mrs. Higgins’ Indiskretion. Es war nicht das erste Mal, dass sich seine zwar gutmütige, aber auch resolute und manchmal etwas vorlaute Haushälterin zu sehr in seine privaten Angelegenheiten einmischte. Es war wohl der Preis für den vertraulichen und fast familiären Ton, auf den er sich mittlerweile mit ihr eingelassen hatte.
„Ich muss schon mein Erstaunen darüber zum Ausdruck bringen, dass deine gute Mrs. Higgins diese Betty Cadena ziemlich unverhohlen als ein Luder bezeichnete, das schlechten Einfluss auf dich hätte“, behielt Mary ihren angriffslustigen Ton bei. „Was ist das für eine Frau? Higgins sagte, sie wäre wesentlich jünger als du und extrem attraktiv. Hat sie dir völlig den Kopf verdreht?“
„Absoluter Unsinn! Ich hatte dir ja einiges über Tim Diamond, den bekannten Detektiv aus New York, erzählt. Betty war lange mit ihm zusammen, aber seit einigen Jahren war die Beziehung nur noch reine Fassade. Wie du weißt, hat Sie in meinem letzten Fall eine wichtige Rolle gespielt und wir sind uns dadurch näher gekommen.“
„Hast du eigentlich vor, in Zukunft mit Diamond zusammenzuarbeiten? Er scheint ja mit seiner Detektei Diamond Investigations sehr erfolgreich zu sein. Er hat viel praktische Erfahrung und könnte dich einiges lehren“, bemühte sie sich, das Gespräch in eine etwas unverfänglichere Richtung zu lenken.
„Ich kenne Diamond seit Ewigkeiten und uns verbindet das, was man fast eine Hassliebe nennen könnte. Er ist all das, was ich nicht bin, und ich bin das, was er nicht ist. Seine Art von Erfahrungen sind nicht meine und ich arbeite auf meine eigene Art!“
„Und was ist mit diesem Jayden Miller, dem jungen FBI-Agenten, der bei deinem letzten Fall dein Partner war? Hatte er nicht vor den Dienst zu quittieren?“
„Jayden konnte sich bisher noch nicht zu dem Schritt entschließen. Wir stehen in engem Kontakt und es ist nicht ausgeschlossen, dass es irgendwann wieder zu einer Zusammenarbeit kommt.“
„Aber du brauchst doch irgendjemanden, der dir hilft und einen Teil der praktischen Arbeit abnimmt!“
„Ja, das stimmt und genau da kommt wieder Betty ins Spiel. Sie hat bei Diamond Investigations eine Menge Erfahrungen gesammelt und ich werde mich hin und wieder ihrer Expertise bedienen, wenn es um praktische Dinge geht. Sie repräsentiert eine andere Welt und ich brauche jemanden, der mir die Tür in diese Welt ein Stück weit offen hält. Sie und Diamond haben Kontakte zu Leuten, deren Hilfe für mich immer wieder nützlich werden kann. Als bestes Beispiel wäre wohl ihr Mitarbeiter Michael King zu erwähnen, der mir letztes Jahr das Leben gerettet hat. Du weißt ja, Mickey.“
„Du magst Mickey offenbar sehr, obwohl er mir ein ziemlich schräger Kerl zu sein scheint. Du und Jayden hattet doch auch Diamond das Leben gerettet, oder nicht? Wäre es nicht angebracht, wenn er dir dafür in Zukunft hin und wieder unter die Arme greift?“
Mary hielt inne, da sie die Haustür ins Schloss fallen hörte. Kurz darauf kam Dr. Watson herein geschossen und sprang mit einer solchen Wucht auf Mos Schoß, dass er etwas von dem Inhalt seiner Kaffeetasse direkt auf Marys Jeansrock goss. Genau in dem Moment, als er instinktiv begann mit seiner Hand auf dem Rock hin und her zu reiben, als wären die Folgen des Missgeschicks noch zu vermeiden, trat Mrs. Higgins herein. Das Bild, das Mos Hand auf Marys Oberschenkeln ergab, wurde von ihr als ein intimes Techtelmechtel interpretiert, was sie genauso zu erfreuen wie zu beschämen schien. Die kluge und gesittete Mary Kelly war in ihren Augen genau die richtige Frau für Mo, dessen Junggesellendasein viel zu viele Spleens und Eigenwilligkeiten mit sich brachte. Betty Cadena hingegen, das kleine „Luder“, das viel zu jung und attraktiv für ihn war, hatte nach ihrem Empfinden einen negativen Einfluss auf ihn, der seinen Charakter schon jetzt unvorteilhaft verändert hatte. Eine dieser Veränderungen zeigte sich für sie etwa in der Form des angeberischen Chevrolets, der in der Garage parkte. Sie errötete leicht und wollte die Tür schon wieder zuziehen, doch Mo rief:
„Kommen Sie nur her, Ruth, es ist nicht so, wie Sie denken! Es hat nur mal wieder einen meiner kleinen Unfälle gegeben.“
Ruth schob ihre korpulente Gestalt mit einem noch immer beschämten Lächeln hinein. Sie steckte wie so oft in einem altmodisch geblümten Kleid, das sie zusammen mit ihren, grauen, dauergewellten Haaren etwas omahaft aussehen ließ, obwohl sie mit ihren 65 Jahren noch nicht übermäßig alt war. Ihr etwas grob wirkendes, fülliges Gesicht drückte grundsätzlich ein genauso großes Maß an Strenge wie Gutmütigkeit aus, was ihr widersprüchliches Wesen exakt widerspiegelte. Die Strenge, mit der sie Mo manchmal gegenüber auftrat, verwandelte sich regelmäßig in einen Anflug von Unterwürfigkeit, durch den sie ihren latent herrschsüchtigen Charakter immer wieder selber zu korrigieren versuchte.
„Darf ich Ihnen irgendetwas bringen?“, verfiel sie in Marys Anwesenheit in eine artige Servilität, die nicht ihrem üblichen Ton entsprach.
„Nein, nein, danke, wir haben uns bereits selbst bedient“, wehrte Mo sofort ab. „Ich wollte übrigens mit Dr. Kelly gerade darüber reden, wie Sie mir in Zukunft in der Detektei helfen könnten.“
„Ich? Nun, ich werde Ihnen natürlich unter die Arme greifen, so gut es geht, aber so viel kann ich ja eigentlich nicht tun. Oder soll ich vielleicht den Umgang mit Waffen lernen und mit Ihnen da draußen auf Verbrecherjagd gehen? Eine Kampfsportausbildung wäre vielleicht auch nicht schlecht!“
Sie lachten alle drei gemeinsam über den kleinen Scherz, was sie dazu bewog, näher zu treten und zu bedenken zu geben:
„Ihre neu gegründete Detektei hat Ihnen ja noch nicht einen einzigen Auftrag eingebracht oder irre ich mich da?“
„Noch nicht, aber ich bin sicher, dass sich das bald ändern wird. Es ist doch fast jedes Jahr dasselbe Spiel: Immer dann, wenn an der Uni der große Summer Break beginnt, steht bald irgendwer vor der Tür, der mir ein paar erholsame Wochen Semesterferien verderben will. Letztes Jahr war es Jayden Miller und dieser Baker vom FBI und das Jahr davor ein gewisser Carter von einer großen Versicherung. Sie erinnern sich, es ging um einen größeren Betrugsfall, bei dem man mich um Rat gebeten hat.
Das Problem wäre wohl erst dann gelöst, wenn ich den Dienst an der Uni quittiere. Dann wird dieses armselige Spiel endlich aufhören und niemand kann mehr meine Semesterferien stören. Allerdings gäbe es dann auch gar keine Ferien mehr. Außerdem ist Dr. Kelly heute hier aus einem Grund erschienen, der diesen ganzen Plan nicht mehr aufgehen lässt. Sie möchte mich nämlich überreden, weiterhin in den Diensten der Universität zu bleiben. So hat es ihr jedenfalls angeblich Rektor Cunningham aufgetragen.“
„Ich finde es sehr gut, dass Sie ihn dazu überreden wollen, Dr. Kelly. Die Sicherheit einer Anstellung würde Dr. Morris als freier Detektiv schnell vermissen, auch wenn er mittlerweile genügend Geldmittel zur Verfügung hat.
Und überhaupt frage ich mich, ob es sehr klug ist, die Detektei ausgerechnet hier in Rutherford zu eröffnen. Hier ist doch nichts los und jeder, der einen wirklich guten Privatdetektiv sucht, geht sofort nach New York…“
Ausgerechnet bei dieser Behauptung wurde Ruth durch das Rasseln und Scheppern der alten Klingel unterbrochen. Sie gehörte zu den wenigen Dingen, die noch nicht von dem großen Renovierungsfieber erfasst worden waren, und hauchte dem Haus hin und wieder etwas von seinem früheren Geist leichter Verwahrlosung ein. Dr. Watson, der inzwischen mitten auf einem runden Orientteppich lag, sprang auf und begann heftig zu bellen, was Mo als ein untrügliches Zeichen dafür interpretierte, dass das Läuten etwas Wichtiges ankündigte.
Als Ruth zur Haustür eilte und kurz darauf einen Unbekannten hereinführte, stieg plötzlich die Wahrscheinlichkeit sprunghaft an, dass es sich um den ersten Klienten von Morris Investigations handeln könnte. Damit schien nun tatsächlich wieder dasselbe einzutreten, was wie durch irgendeine höhere, unerklärliche Fügung jedes Jahr pünktlich zum Beginn der Semesterferien geschah: Ein neuer Fall kündigte sich an. Der etwa 40jährige, große, schlanke Mann, der an Ruths Seite stand, trug einen legeren Anzug ohne Krawatte und schmückte sein glattes, braun gebranntes Gesicht mit einem exakt getrimmten, kleinen Bärtchen. Die extravagante Frisur seines schwarzen, streng gescheitelten, an den Seiten kurz rasierten Haares trug neben dem Bart maßgeblich zu seiner auffällig modisch wirkenden, attraktiven Erscheinung bei. Er zählte definitiv nicht zu den unauffälligen Vorstadttypen, die man in New Jersey traf, sondern war ein Mann von Welt, dessen gewohntes Revier wahrscheinlich mitten in der New Yorker City lag.
Während Ruth sich zurückzog, wies Mo ihm einen Platz auf einem der beiden Besucherstühle zu, wobei er sich um eine besondere Höflichkeit bemühte. Falls dieser Mann wirklich der erste Klient von „Morris Investigations“ sein sollte, war es quasi ein historischer Moment und er wollte um jeden Preis einen guten Eindruck auf ihn machen. Als sich der Fremde als „Dr. Timothy Goldsworthy“ vorstellte, war das Erstaunen in Mos und Marys Gesichtern groß. Weder der Name noch der Doktortitel passte zu ihm und es war nicht leicht zu glauben, dass dieser attraktive, herausgeputzte Kerl, der wie ein Model für Kleider oder Aftershaves aussah, promoviert haben sollte.
Als Mo ihm Mary vorstellte, warf Goldsworthy der hübschen „Dr. Kelly“ ein paar schmachtende, männlich interessierte Blicke zu und leitete dann sofort sehr zielstrebig zu seinem Anliegen über. Sein ganzes Wesen ließ dabei erkennen, wie sehr er aus Prinzip darauf drängte, sich unkompliziert und geradlinig zu geben.
„Ich war so frei hier unangekündigt zu erscheinen, nachdem ich von der Neueröffnung Ihrer Detektei hörte. Ein persönliches Gespräch bringt den Vorteil mit sich, dass ich Ihnen am Telefon keine vertraulichen Dinge mitteilen muss.
Ich möchte herausfinden, ob Sie Interesse an einer ungewöhnlichen Art von Auftrag haben. Ich muss mich vorsichtig an den Kern der Sache herantasten, denn ich befinde mich in einem Dilemma: Verrate ich Ihnen zu viel und Sie übernehmen den Auftrag hinterher nicht, wäre das sehr schlecht, weil dieser Auftrag der Geheimhaltung unterliegt.“
„Grundsätzlich wird niemals etwas von dem, was hinter diesen vier Wänden besprochen wird, nach außen dringen. Dieser Punkt steht für mich ganz oben auf der Liste der grundlegenden Prinzipien, die zu meinem Berufsethos zählen!“, versicherte Mo dem ersten Klienten von „Morris Investigations“ mit heiligem Ernst.
„Sie haben ohne Zweifel ein ausgezeichnetes Renommee, Dr. Morris. Aber das ist nicht der einzige Grund, warum ich mich an Sie wende. Ein weiterer hat unter anderem mit Ihrer Vielseitigkeit zu tun. Wir benötigen niemanden, der bloß ein paar einfache Recherchen betreibt und verdächtige Personen beschattet. Mit so etwas könnte man jeden durchschnittlichen Privatdetektiv beauftragen, der heimlich an der Flasche hängt. Sie können eine ungewöhnliche Vita vorweisen und verfügen über eine umfassende, interdisziplinäre Bildung. Dies sind aus unserer Sicht die besten Voraussetzungen dafür, einen Sinn für all die komplexen sozialen und politischen Implikationen zu entwickeln, die dieser besondere Auftrag mit sich bringt.
Soweit ich weiß, haben Sie zunächst Politik und Psychologie studiert, bevor Sie sich ganz auf die Kriminologie spezialisiert haben. Sie hatten nach Ihrem Abschluss für eine kurze Zeit eine administrative Tätigkeit bei der Polizei, bevor Sie als Dozent in das Universitätsleben zurückgekehrt sind. Sie haben verschiedenen privaten und öffentlichen Organisationen als freier Berater gedient - unter anderem der New Yorker Polizei – und wollen sich nun als Detektiv selbstständig machen. Da darf man gespannt sein, was als nächstes kommt. Vielleicht werden Sie ja im Ruhestand noch Kriminalromane schreiben und verarbeiten Ihre Erlebnisse!“
„Sie werden lachen, es hat bereits Überlegungen in dieser Richtung gegeben. Da Sie nun schon mehrfach in der Wir-Form gesprochen haben, gehe ich davon aus, dass Sie einer größeren Firma oder Organisation angehören.“
„Da trügt Sie Ihre Ahnung nicht, aber nicht irgendeiner Organisation… Erinnern Sie sich noch an die Studie, an der Sie vor einigen Jahren zusammen mit zwei Ihrer Universitätskollegen mitwirkten? Es ging damals um das Thema Korruption auf höchster staatlicher Ebene und wie man diese Korruption effektiv bekämpfen kann. Sie und Ihre Kollegen haben in dieser interdisziplinären Studie, die ein internationales Kolloquium begleitet hat, die kriminologischen Aspekte erarbeitet.“
Mo schaute seinen potentiellen Auftraggeber mit zusammengekniffenen Augen an, so als müsste er sich erst durch ein ganzes Meer von Erinnerungen und Erlebnissen graben, um sich die Angelegenheit wieder vor Augen zu führen. Er erwiderte zunächst nichts und trat spontan an eines der großen Bücherregale, die dem hinteren Teil des Salons den Anschein einer Bibliothek gaben. Nach einigem Suchen zog er ein Buch hervor, blätterte kurz darin und setzte sich dann hinter den Schreibtisch zurück.
„Ich erinnere mich an diese Studie und habe sogar noch die entsprechende Publikation parat. Ich darf also davon ausgehen, dass Sie im Namen der UN bei mir erschienen sind? Die UN war ja der Hauptinitiator dieses Kolloquiums, nicht wahr?“
„Sie dürfen, Dr. Morris. Ich würde es ja sowieso nicht mehr lange durchhalten, einen solchen Auftraggeber zu verschweigen.“
Goldsworthy zog das Buch zu sich heran, das Mo ihm auf dem Schreibtisch bereit gelegt hatte. Es hatte ein nüchtern und langweilig aussehendes Cover und gehörte zu den Büchern jener Art, die zuerst ein ganzes Heer von wissenschaftlichen Autoren beschäftigt hielten, nur um später in irgendwelchen Bibliotheken zu verschwinden, nachdem der Zenit des Interesses an ihnen schnell überschritten war. Meist wurden solche Bücher nur wieder von denjenigen ausgegraben, die sie als Quelle für ähnliche Arbeiten verwendeten. Genau das war auch der Grund dafür, warum Mo die Lust an wissenschaftlichen Arbeiten verloren hatte. Goldsworthy hatte nach kurzem Blättern schon genug und legte es zurück. Daraufhin versuchte er Marys Rolle genauer zu klären.
„Darf ich fragen, in welchem Verhältnis Sie zu Dr. Kelly stehen? Arbeitet sie hier in Ihrer Detektei oder ist sie Ihre Kollegin an der Universität? Hat sie vielleicht sogar an der damaligen Studie mitgewirkt?“
„Sie ist Psychologiedozentin an meiner Universität. Ich vertraue ihr wie meiner eigenen Schwester. Von mir aus darf sie alles hören, was Sie mir zu sagen haben!“, versicherte Mo mit einer etwas übertrieben klingenden Inbrünstigkeit, die bei Mary ein zwiespältiges Lächeln auslöste. Das Wort „Schwester“ war nicht unbedingt das, was ihr gefiel.
„Na schön“, lenkte Goldsworthy scheinbar großmütig ein. „Wenn Sie mir Dr. Kellys Verschwiegenheit garantieren und mir schwören, dass sie keinerlei Verbindungen zu irgendwelchen Medien hat, will ich ihre Anwesenheit gerne dulden. Die Medien sind etwas, was wir in dieser Sache unter allen Umständen zu meiden haben.
Bei dem Auftrag geht es um die Untersuchung gewisser krimineller Machenschaften, hinter denen höchstwahrscheinlich ein gut organisiertes Netzwerk steht. Dieses Netzwerk soll sich solange wie möglich in Sicherheit wiegen und darf nicht durch Medienmeldungen auf die entsprechenden Aktivitäten der UN aufmerksam gemacht werden.
Es würde unter anderem Ihre Aufgabe sein, herauszufinden, wie weit reichend die Organisation dieses Netzwerkes ist. Wir setzen übrigens weitere Ermittler an verschiedenen Orten ein und werden zur gegebenen Zeit versuchen, die Arbeitsergebnisse entsprechend zu bündeln. Dieser Auftrag wird es für Sie erforderlich machen, voll und ganz in das entsprechende Umfeld einzutauchen und undercover zu arbeiten.
Darf ich fragen, wie weit Sie über die wichtigsten Organe und Strukturen der UN im Bilde sind?“
„Leider nur sehr durchschnittlich…“, konnte Mo nicht umhin, ehrlich zuzugeben.
„Wie Sie vielleicht wissen, besitzt die UN sechs Hauptorgane sowie zahlreiche Nebenorgane und Sonderorganisationen, die ihre Strukturen zuweilen etwas unübersichtlich erscheinen lassen. Immerhin wird uns die Sache dadurch etwas vereinfacht, dass sich fast alle Hauptorgane direkt vor unserer Haustür im UN-Hauptquartier in New York befinden: Die UN-Generalversammlung, das UN-Sekretariat, der UN-Sicherheitsrat, der UN-Wirtschafts- und Sozialrat sowie der UN-Treuhandrat. Der internationale Gerichtshof befindet sich bekanntlich in Den Haag. Alles, was unseren Fall betrifft, hat zunächst vor allem mit dem sechsten Hauptorgan, dem UN-Treuhandrat, zu tun.
Neben ihrem Hauptsitz haben die Vereinten Nationen drei weitere Sitze in Nairobi, Genf und Wien. Genf ist der Sitz der weltweit meisten UN-Organisationen und kann daher vielleicht als der bedeutendste Standort bezeichnet werden. Ich selbst war einige Jahre lang in der Stadt tätig.“
„Soweit ich weiß, war der UN-Treuhandrat lange inaktiv und wurde erst vor wenigen Jahren wieder zu neuem Leben erweckt. Ist das richtig?“, mischte sich zum ersten Mal Mary ein.
„So ist es. Er war für die Verwaltung verschiedener ehemaliger Kolonien in Form von Treuhandgebieten zuständig, von denen das letzte Mitte der 90er Jahre in die Unabhängigkeit entlassen wurde. Seitdem wurde nach neuen Aufgaben für ihn gesucht, bis sich vor 8 Jahren eine gefunden hat.“
„… mit der Gründung der UN-RN“, fiel Mary Goldsworthy ins Wort.
„Sehr richtig, Dr. Kelly. Die Gründung der UN-Refugee Nation war – wie Sie beide sicher aus den Medien wissen – unter anderem das Resultat aus der europäischen Flüchtlingskrise. Der Staat der Flüchtlinge, wie ihn die Europäer nennen, besteht aus mehreren verschieden großen, geographisch nicht zusammenhängenden, wie eine Enklave von fremden Staaten umschlossenen Gebieten, die überall demselben Rechtsstatus unterliegen. Die UN-RN wird von dem UN-Treuhandrat wie ein unabhängiger Staat verwaltet und vor allem von privaten Spenden, den Zuschüssen der UN-Mitgliedsstaaten sowie den Erträgen von vor Ort arbeitenden Firmen finanziert. Die derzeitigen Gebiete werden von verschiedenen afrikanischen und europäischen Ländern sowie von Russland und der Türkei zur Verfügung gestellt. Die meisten sind heute noch nicht größer als eine kleine Stadt, doch manche – vor allem in Russland und Afrika – könnten vielleicht eines Tages sogar an die Größe kleine Fürstentümer oder Länder heranreichen. Seit der Gründung der UN-RN vor 8 Jahren befinden sich die meisten Gebiete noch im Aufbau und sind noch längst nicht voll besiedelt. Die derzeitige, potentielle Gesamtkapazität wird auf etwa 1 Million Menschen beziffert und soll kontinuierlich ausgeweitet werden.“
Spätestens bei diesen Erläuterungen war Mos Interesse an dem neuen Fall wie ein heller Funke entzündet worden und er drang voller Neugier auf Goldsworthy ein:
„Es ist nicht mehr schwer zu erraten, dass mich dieser Auftrag in eines der Gebiete der UN-RN führen soll. Klären Sie mich etwas mehr über die politischen Hintergründe der Entstehung des Flüchtlingsstaates auf!’“
„Sie werden in dieser Hinsicht noch mehr als genug erfahren. Falls Sie den Auftrag annehmen, werden Sie nach New York eingeladen und in einer Arbeitsgruppe gründlich vorbereitet werden. Ich werde Ihnen heute nur ein paar sehr allgemeine und grundlegende Dinge sagen:
Die UN-RN wurde ursprünglich in enger Kooperation zwischen der UN und EU gegründet. Die große Zahl von Flüchtlingen und Einwanderern, die in den letzten Jahren und Jahrzehnten nach Europa gekommen sind, haben nach Ansicht der EU-Kommission zu einem schleichenden politischen Rechtsruck in einigen europäischen Ländern geführt. Dies wird als eine langfristige Gefahr für den Fortschritt des europäischen Einigungsprozesses gedeutet. Die zunehmende Zahl rechtsgerichteter Parteien und Regierungen bringt aus der Sicht Brüssels die Gefahr der Spaltung und Re-Nationalisierung europäischer Staaten mit sich. Dem soll frühzeitig vorgebeugt werden, indem eine geordnete, gesamteuropäische Lösung für die Flüchtlings- und Einwanderungsfrage gesucht wird. Die Flüchtlinge und Einwanderer sollen gerecht auf die europäischen Länder verteilt werden, damit sich einzelne Gesellschaften nicht mit den entsprechenden Assimilationsprozessen überfordert fühlen.
Ein Teil der Flüchtlinge und Einwanderer wird zunächst von der UN-RN aufgenommen und bis zu einer bestimmten Zahl nach Europa verteilt. Alle Personen, die diese Zahl überschreiten, verweilen in dem Flüchtlingsstaat. Diejenigen, die die Voraussetzungen für die Aufnahme nicht erfüllen, werden in ihre Heimatländer zurückgeschickt, um Platz für diejenigen zu schaffen, die als echte Flüchtlinge einzustufen sind und am Not leidendsten sind. Soweit das Grundprinzip.“
„Sehr interessant. Würden Sie uns verraten, welche Funktion Sie bei der UN einnehmen? Nach aller Logik müssten Sie für den UN-Treuhandrat arbeiten oder irre ich mich da?“, schaltete sich Mary erneut ein.
„Da irren Sie sich nicht, Dr. Kelly. Ich arbeite für den Treuhandrat, seit er reaktiviert wurde. Ich war früher viel im Ausland beschäftigt und bin erst seit drei Jahren wieder nach New York zurückgekehrt. Meine Hauptaufgabe besteht darin, die Interessen der UN-RN in den USA zu vertreten und für seine Idee und Unterstützung zu werben.“
„Mich würde interessieren, wie Sie persönlich das Flüchtlingsstaat-Projekt einschätzen. In den Medien waren in letzter Zeit einige negative Berichte über die UN-RN zu hören.“
Der kritisch-provokante Ton in Marys Frage gefiel dem hochrangigen UN-Funktionär natürlich nicht und er wehrte ihn wie erwartet auf ganzer Linie ab.
„Ich persönlich halte die UN-RN für eines der spannendsten Projekte des beginnenden dritten Jahrtausends! Das Ziel, das wir uns gesteckt haben, reicht sogar über unsere eigentliche Aufgabe hinaus. Es ist nämlich kein Geringeres, als das Leben in den von uns verwalteten Gebieten auf lange Sicht attraktiver als in den westlichen Wohlstandsgesellschaften zu gestalten. Diese ziehen heute die Einwanderer an, aber in Zukunft werden wir es sein! Unsere Vision ist ein selbst verwalteter, multikultureller Staat, in dem die Ansprüche eines neuen, sozialen Demokratie-, Menschenrechts- und Wirtschaftsverständnisses auf höchstem und modernstem Niveau erfüllt werden. Die UN-RN soll nicht nur eine Notlösung, sondern auch ein Vorbild für die Nationen der Erde sein. Die Idee war von Anfang an, neue Staaten an neuen Orten zu gründen und mit Hilfe großer Firmen und Konzerne steuer- und zollfreie Wirtschaftszonen zu etablieren, in denen die Menschen wie in einem richtigen Staat leben und arbeiten können. Sie sollen nicht wie Personen zweiter Klasse behandelt werden, nur weil sie in ihren Heimatländern Not gelitten haben und geflohen sind.“
Während Goldsworthy für einen Moment innehielt, untersuchte Mo dessen Gesichtszüge etwas genauer. Er hatte ihn völlig falsch eingeschätzt, obwohl sein extravagantes Aussehen einige Rückschlüsse auf seine Persönlichkeit zuließ. Er war offenbar alles Andere als ein kühler Funktionär und Bürokrat, der den ganzen Tag emotionslos Akten wälzte, sondern war zweifellos von der Leidenschaft einer höheren Idee beseelt.
Bald fuhr der UN-Mann an Mary gewandt fort:
„Zu den negativen Berichten, die Sie angesprochen haben, Dr. Kelly, ist aus meiner Sicht zu sagen, dass sie als die typischen Anfangswehen einer großen Sache zu verstehend sind. Sie spielen wahrscheinlich auf all die Irregularitäten an, die im Zusammenhang mit korrupten Beamten stehen, die UN-Aufenthaltstitel an Unberechtigte verkauft haben. Diesbezüglich sind ja viele Meldungen durch die Medien gegangen. Ich bin nicht befugt, Sie über Einzelheiten in dieser Richtung aufzuklären. Grundsätzlich sei nur gesagt, dass die Aufenthaltsberechtigung, die wir in Anlehnung an die US-amerikanische Green-Card und die Farbe der UN-Flagge informell Blue-Card getauft haben, den Inhaber zu einem voll berechtigten Bürger in einem bestimmten UN-RN-Gebiet macht. Er kann nicht mehr abgeschoben werden und ist solange zum Aufenthalt berechtigt, bis er entweder von einem Drittland aufgenommen wird oder das Gebiet aufgelöst wird. Die Blue-Cards werden normalerweise erst nach intensiver Prüfung ausgestellt, aber leider scheint durch bestechliche Beamte eine Art Schwarzmarkt für sie entstanden zu sein.
Dr. Morris wird bereits ahnen, wie sehr dieser Punkt in Zusammenhang mit seinem Auftrag steht. Allerdings wird sich seine Arbeit nicht allein auf diesen Punkt beschränken. Sie ist erheblich umfangreicher, als man auf Anhieb denken mag.“
„Dann würde ich mich freuen, wenn Sie mich diesbezüglich endlich aufklären würden, Sir! Jedes Ihrer Worte hat mich Satz um Satz neugieriger gemacht!“
Obwohl Mos begeisterter Ton Goldsworthy sehr zu gefallen schien, wehrte er die Forderung überraschend ab und gab sich plötzlich sehr reserviert.
„Das wird alles etwas anders laufen. Ich habe für heute genug gesagt. Wenn Sie den Fall annehmen wollen, müssen Sie zunächst den Arbeitsvertrag und damit zugleich eine Verschwiegenheitsklausel unterzeichnen, bevor Sie weiteres erfahren. Ein Verstoß gegen diese Klausel würde eine saftige Konventionalstrafe nach sich ziehen. Entschuldigen Sie, dass ich das so drastisch formulieren muss!“
Noch während er sprach, öffnete er eine schwarze Mappe, die er bereits die ganze Zeit in seinen Händen hielt, und zog einen Stapel zusammengehefteter Papiere hervor. In Mos Wahrnehmung weitete sich der Stapel sofort zu einem monströsen, unüberschaubaren Paragraphen-Urwald aus, den er ohne juristischen Beistand kaum bewältigen konnte.
„Ich lasse Ihnen den Vertrag für den Auftrag hier. Ich empfehle Ihnen, ihn vor der Unterschrift genau zu studieren“, erklärte sein Gegenüber mit eindringlicher Miene und schob ihm die Papiere über den Couchtisch zu. „Sie sind mir sympathisch, Dr. Morris, deswegen sage ich Ihnen ganz offen, dass Sie darin einige Bedingungen finden, die Ihnen nicht gefallen werden. Die relativ geringe Entlohnung gehört bestimmt dazu.“
Erst jetzt bemerkten sie, wie sehr Goldsworthy unter dem Diktat eines prallgefüllten Terminkalenders zu stehen schien. Er leitete nämlich ganz plötzlich und unerwartet das Ende seines Besuches ein, indem er sich erhob, Mo seine Visitenkarte überreichte und meinte:
„Sobald Sie den Vertrag studiert haben und mit den Bedingungen einverstanden sind, melden Sie sich bitte umgehend bei mir. Ich teile Ihnen dann mit, wann und wo Sie in New York erwartet werden. Außerdem erhalten Sie einen Code, der Ihnen für den Zutritt auf das UN-Gelände besondere Rechte verschafft. Das erste der Treffen, auf dem unsere zukünftigen Mitarbeiter instruiert werden, findet Anfang nächster Woche statt.
Ich würde mich freuen, wenn nicht nur Dr. Morris und ich uns wieder sehen würden!“
Den letzten Satz richtete er mit einem kokettierenden Blick auf Mary. Sein vieldeutiger Ton hatte etwas von einem latenten Annäherungsversuch an sich, auf den sie mit einem frostigen Lächeln reagierte. Sie hielt grundsätzlich nicht viel von Männern, die sich stark herausputzten und deswegen von sich selber glaubten attraktiv zu sein. Während sie beobachte, wie er aus dem Raum stolzierte, fiel ihr ein passender Spitzname für ihn ein: „Peacock“ – „Pfau“ – hatte sie ihn in diesem Moment insgeheim getauft…