Читать книгу Mo Morris und der Staat der Flüchtlinge - Benedict Dana - Страница 6

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Die zwei ungewohnten Reize, die zu seinem Erwachen führten, lösten zugleich ein Gefühl der Befremdung und Beglückung in ihm aus. Der eine war der von einem Tonband abgespielte Ruf eines Muezzins, der bei Sonnenaufgang aus mehreren Lautsprechern in der Stadt erklang, und der andere war Sofias Unterarm, der irrtümlicherweise um seinen Unterleib geschlungen war. In dem Moment, als er sich ihr zuwandte und vorsichtig den Arm berührte, erwachte sie, blickte ihn erschrocken an und zog blitzschnell ihren Arm zurück.

Mo schlüpfte enttäuscht aus dem Bett und zog die Vorhänge vor den beiden einzigen Fenstern ihrer Unterkunft zurück. Es handelte sich um eine 20 Quadratmeter-Einraumwohnung mit einer einfachen Möblierung, die aus nicht mehr als einem Doppelbett, einem Tisch, zwei Stühlen und einem Schrank bestand. In den Raum war eine winzige Kochnische integriert und über einen ebenso winzigen Flur konnte man zu einem noch winzigeren, fensterlosen Badezimmer gelangen. Für all die Flüchtlinge, die echtes Elend kennen gelernt hatten, konnte eine solche Unterkunft ein kleines Paradies sein, doch Mo hielt es nur zum Schlafen in dem engen Raum aus. Dabei hatte Greg sogar dafür gesorgt, dass ihnen eine der besseren Wohnungen zugeteilt worden war, da das große, bodenlange Fenster, das durch sein Geländer mit einem angedeuteten französischen Balkon ausgestattet war, einen weiten Blick über die Stadt und das Tal zuließ.

Er öffnete es, sog die kalt-feuchte Bergluft in sich ein und blickte auf die Dächer von Unity hinunter. Dabei hörte er den Glockenschlag der kleinen Kirche, die oberhalb der Stadt am Ende der letzten bebauten Straße lag. Nach dem lauten Muezzinruf klang er ein wenig wie eine trotzige Antwort, die der Minderheit der Christen galt. In den Straßen waren hier und da einige der typischen Elektrotransporter zu sehen, die zu früher Stunde die Läden mit dem Brot belieferten, das von einer großen Bäckerei in der Gewerbezone täglich frisch gebacken wurde. Er beobachtete noch, wie sich einige Frühaufsteher auf einem kleinen Platz vor einer Moschee zum Morgengebet versammelten und wandte sich dann zu Sofia um, die schwungvoll aus dem Bett sprang und voller Tatendrang rief:

„Heute geht es endlich an die Arbeit! Um neun Uhr treffen wir Greg. Ich bin gespannt, was er uns zu sagen hat. Noch einen Tag länger in Untätigkeit halte ich nicht aus!“

Sie schlüpfte in das schlichte, schwarze Kleid, das zur ihrer Verkleidung als Flüchtlingsfrau gehörte, und machte sich bald darauf an der Kaffeemaschine zu schaffen.

„Hast du gestern Abend noch irgendetwas Auffälliges bei deinem Spaziergang entdeckt?“

Obwohl der beiläufige Klang ihrer Frage keine besondere Antwort zu erwarten schien, hatte Mo tatsächliches etwas Außergewöhnliches zu berichten.

„Mir sind ein paar verdächtige Typen aufgefallen, die unten in der Touristenmeile im Café Grand Golliat zusammensitzen. Für mich sieht es so aus, als hielten sie sich absichtlich außerhalb des Stadtgebietes auf und beobachteten genau, wer in die Stadt fährt und sie verlässt. Ich habe mich eine Weile an einen Nebentisch gesetzt und ihr Gespräch belauscht. Sie haben italienisch gesprochen, aber ich habe einen Teil ihres Gespräches auf Band aufgenommen. Vielleicht kann es uns Greg übersetzen. Ich halte es für nicht ausgeschlossen, dass diese Typen zu einer Art Mafia gehören könnten.“

„Hm, Mafia hört sich auf jeden Fall gefährlich an. Sag mal, Morton, hast du eigentlich eine Waffe dabei?“

Sofia goss ihm eine Tasse Kaffee ein, und als er gerade die Frage verneinen wollte, erfüllte plötzlich ein ungewohnter Summton den ganzen Raum.

Sie bemerkten zum ersten Mal, dass das winzige Apartment mit einer eigenen Klingel ausgestattet war, und als Mo verwundert durch das Guckloch der Eingangstür sah, blickte er direkt in das Gesicht eines jungen Mannes hinein. Ein gelbes Symbol auf seiner blauen Jacke wies ihn als Mitarbeiter der „UN-City Post“ aus, die nebenbei so etwas wie eine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme für die Flüchtlinge war.

„Ein Einschreiben für Sie, Mr. Bailey-Hemidi“, tönte es ihm sofort diensteifrig auf Englisch entgegen, als er die Tür öffnete.

Nach dem Unterschreiben bekam er einen Umschlag ausgehändigt, auf dem mit einer sauberen, fast maschinell wirkenden Druckschrift „Mr. und Mrs. Samuel und Jalila Bailey-Hemidi, Rue de la Paix No. 33, Postarea 3, 1000 UN-City“ geschrieben stand. Er riss den Umschlag noch in der offen stehenden Eingangstür auf, überflog die drei Zeilen des Briefes innerhalb von wenigen Sekunden und fluchte laut auf. Er lief eine Weile unschlüssig draußen auf dem Gang hin und her und entschloss sich dann die Verfolgung des Postboten aufzunehmen. Er stürmte die Holztreppe des engen Treppenhauses 8 Etagen hinunter und als er atemlos auf die menschenleere Strasse trat, konnte er gerade noch sehen, wie der junge Mann auf einem Elektrofahrrad hinter einer Hausecke verschwand. Die „Rue de la Paix“ war genau genommen keine Straße, sondern nur eine schmale Gasse am oberen Stadtrand, weswegen es nicht verwunderlich war, niemanden sonst draußen anzutreffen. Er unternahm keine weiteren Versuche, dem Postboten zu folgen, da durch ihn wahrscheinlich sowieso nicht herauszubekommen wäre, wer den Brief aufgegeben hatte.

Die Nachricht änderte alles und ließ plötzlich ihren weiteren Aufenthalt in der Stadt zweifelhaft erscheinen. Er hatte es nicht eilig, wieder nach oben zu gehen und die schlechte Botschaft zu überbringen. Als er schließlich wieder die Wohnung betrat und Sofia den Brief mit ernster Miene unter die Nase hielt, musste sie folgendes lesen:

Wir wissen genau, dass ihr beide UN-Spitzel seid, und kennen eure wahre Identität. Wir geben euch, Sofia Merizadi und Dr. Morton Morris, zwei Tage Zeit, Unity zu verlassen, oder es wird etwas Schlimmes passieren. Lasst es nicht darauf ankommen, denn es könnte auch Dritte treffen und dann würdet ihr es doppelt bereuen!“

Sofia ließ den Brief so kraftlos und schockiert sinken, als hätte sie eine Todesnachricht erhalten. Dann lief sie einige Male unruhig wie ein Löwe im Käfig in dem kleinen Zimmer hin und her, bis sie schließlich erregt hervorstieß:

„Wieso sind wir so schnell aufgeflogen? Hat das vielleicht etwas mit deinem gestrigen Besuch im Café Grand Golliat zu tun?“

Mo erwiderte nichts, da er plötzlich von einer höheren Ahnung erfasst wurde. Es stand auf einmal bildhaft vor sein geistiges Auge geschrieben, dass ihre wahre Identität schon vor ihrer Ankunft durchgesickert war und es bei der UN irgendwo eine undichte Stelle gab. Er war bei dieser blitzartigen Erkenntnis für einen Moment wie abwesend und fand erst wieder in die unmittelbare Gegenwart zurück, als Sofia anklägerisch rief:

„Willst du etwa auf das Ultimatum eingehen und die Stadt verlassen?“

Es war die alles entscheidende Frage, die er zu diesem Zeitpunkt noch nicht beantworten konnte. Also meinte er nur:

„Wir müssen mit Greg darüber sprechen. Lass’ uns gehen, wir haben ja sowieso heute Morgen einen Termin bei ihm. Es bleibt uns noch genug Zeit, um vorher in einem der Cafés am Unity Square frühstücken zu gehen.“

Als sie wenige Minuten später die Gassen und Treppen hinunterspazierten, die in die Innenstadt führten, brütete er in sich gekehrt vor sich hin und wechselte mit ihr kaum ein Wort. Die größeren Straßen waren wie immer von vielen Fußgängern und nur von einigen wenigen Elektrofahrzeugen gefüllt, zwischen die sich hier und da Touristengruppen mischten. Rein äußerlich war Unity ein Ort des Friedens und der Beschaulichkeit, obwohl sich zweifellos einige dunkle Geheimnisse hinter den harmlosen und einladenden Kulissen der Stadt verbergen mussten.

Sie folgten den kleinen, regelmäßig an den Hauswänden angebrachten Holzschildern in Richtung des Unity Squares und wurden auf ihrem Weg durch ein besonders hübsches Stadtviertel geführt. Vor einigen Fenstern hingen bunte Blumenkästen und an den Kreuzungen der engen, mit Natursteinen gepflasterten Gassen befanden sich hier und da steinerne Wasserbecken, so wie man es aus alten italienischen oder französischen Dörfern kannte. Die schwarzen, antik aussehenden Metalllaternen, die an manchen Hauseingängen angebracht waren, ergaben zusammen mit dem urigen Gassenpflaster und den natürlichen Felssteinen vieler Hauswände ein fast historisch wirkendes Straßenbild.

Erst als sie das Cafè „Mueller“ am Unity Square betraten, hellte sich Mos Laune etwas auf und er wurde vorübergehend wieder gesprächiger. Es handelte sich um das größte und bekannteste Café der Stadt und trug seinen Namen nach einem reichen Schweizer, der es – wie es ein neben der Eingangstür angebrachtes Messingschild verriet - samt dem fünfstöckigen Gebäude an die UN gestiftet hatte. Mos gute Stimmung hielt jedoch nicht lange an, denn je länger er sich in dem prächtig eingerichteten, an ein klassisches Kaffeehaus erinnernden Innenraum des Café Mueller umblickte, desto mehr wurde er von einer subtilen Paranoia gepackt. Bereits am zweiten Tag ihres Aufenthaltes hatte sich der Spieß herumgedreht und nicht mehr sie waren die heimlichen Beobachter, sondern irgendwelche Anderen, die sich quasi überall befinden konnten und von denen sie nicht wussten, wie gefährlich sie waren. Das gemeinsame Frühstück uferte in bedrücktes Schweigen aus und erst an seinem Ende rührte Sofia genau an den Punkt, der Mo selber die ganze Zeit beschäftigt hatte.

„Hältst du es für eine gute Idee, Greg in die Sache einzuweihen? So wie ich ihn einschätze, würde er uns empfehlen der Aufforderung in dem Brief Folge zu leisten. Außerdem würde er sich wahrscheinlich mit Genf in Verbindung setzen und dann müssten wir die Stadt bestimmt verlassen. Niemand von denen will die Verantwortung dafür übernehmen, wenn uns etwas zustoßen sollte. Ich fände es extrem ärgerlich, ohne Ergebnisse nach New York zurückzureisen, nachdem ich wochenlang auf diesen Auftrag vorbereitet worden bin!“

Insgeheim teilten sie längst dieselbe Haltung, weswegen Mos Antwort für sie wie erwartet ausfiel.

„Das sehe ich genauso. Die Absender des Briefes geben uns zwei Tage Zeit, also sollten wir wenigstens diese Zeit für unsere Arbeit nutzen. Danach können wir Greg immer noch alles berichten. Außerdem besteht die Möglichkeit, unsere Ermittlungen von einem Standort außerhalb der Stadt weiterzuführen. Ich gebe auf keinen Fall auf!“

Ihre Entschlossenheit einte sie, und als sie bald das Café verließen, schlugen sie die Richtung zum Hauptverwaltungsgebäude ein. Es lag nicht weit entfernt oberhalb eines kleinen Platzes leicht erhöht am Hang und war mit seinen anthrazitfarbenen Aluminiumfenstern und seiner ästhetischen Verkleidung aus schmalen Holzstreben eines der modernsten und imposantesten Bauten in der Innenstadt. Dies erklärte sich daraus, dass die Verwaltung nicht nur für Unity, sondern für alle Gebiete der UN-RN zuständig war und daher auch das Büro der Generalsekretärin Elisabeth de Verneuil beherbergte. Mit seinen drei ineinander verschlungenen, verschieden hohen Gebäudekuben sah es ein wenig wie ein postmodernes Architekturexperiment aus, das einen interessanten Kontrast zu der eher simplen Bauweise der meisten übrigen Gebäude der Stadt einging.

Als sie sich auf einer der Granitbänke niederließen, die auf einem grünen, ungepflasterten Bereich in der Mitte des kleinen Platzes standen, überquerte bald darauf eine Gruppe männlicher afrikanischer Flüchtlinge den Platz. Die Männer starrten sie finster und herausfordernd an, was in einem auffälligen Kontrast zu den vorwiegend freundlichen Gesichtern in der Stadt stand. Mo beobachtete nachdenklich, wie sie in eine Gasse abbogen, die im Hintergrund auf eine der steilen, aus der Stadt hinausführenden Steintreppen zulief. Dabei spürte er auf einmal sehr genau, dass es lohnend gewesen wäre ihnen heimlich zu folgen, und entschloss sich, auf eine andere günstige Gelegenheit zu warten.

Als er sich kurz darauf in den reizvollen Anblick vertiefte, wie sich Sofia ihres Kopftuches entledigte und ihre langen, schwarzen Haare ausschüttelte, spürte er auf einmal eine Hand auf seiner Schulter. Unmittelbar danach dröhnte ihm Gregs tiefe und kernige Stimme direkt ins Ohr:

„Na, da ist er ja unser berühmter Meisterdetektiv aus New York! Und, mein Freund, hast du schon etwas herausgefunden? Oder tappst du nach wie vor im Dunkeln, wie fast alle hier? Wenn ich nicht so verflucht viel Büroarbeit hätte, würde ich euch glatt helfen und selber Sherlock Holmes spielen!“

Greg ließ sich neben ihm auf der Bank nieder und ordnete seine schlohweißen, vom Bergwind zerzausten Haare. Im Gegensatz zu seiner legeren Kleidung bei ihrem ersten Treffen in der „Albergo di Panorama“ trug er einen korrekten blauen Anzug und einen schwarzen Mantel. Er versprühte beste Laune, wobei ihm nicht entging, dass dies im krassen Gegensatz zu Mos und Sofias trüber Stimmung stand. Er brachte einen oberflächlichen Smalltalk in Gang, bis Sofia sich beschwerte:

„Wollen wir etwa hier draußen bleiben? Es ist ziemlich kalt hier oben, findest du nicht?“

Sie warf einen Blick zu den schneebedeckten Berggipfeln, die in der Ferne in der Sonne glitzerten, und knöpfte sich ihren schwarzen Mantel bis nach oben zu.

„Ich wollte mich mit euch hier draußen treffen, damit ihr nicht durch den Haupteingang zu mir hereinspaziert kommt. Am besten gehen wir unten durch die Tiefgarage und fahren mit dem Aufzug in mein Büro rauf. Das dürfte etwas unauffälliger sein.“

Greg sprang bei dieser Erklärung bereits wieder auf und führte sie in Richtung einer gerundeten Natursteinmauer, die links des Gebäudes in die betonierten Wände einer Garageneinfahrt überging. Die moderne Tiefgarage, die sie bald darauf durch ein offen stehendes Gittertor betraten, wirkte ziemlich fremdartig an einem Ort, an dem es außer den Wagen der UN-Angestellten keine privaten Fahrzeuge gab. Mo fiel sofort ein großer, weißer Mercedes der Luxusklasse mit Genfer Kennzeichen auf, der nach seinem Empfinden im starken Widerspruch zu dem sozialen Anspruch des Flüchtlingsstaates stand. Als er neugierig vor ihm stehen blieb, klärte Greg ihn auf:

„Der gehört Elisabeth de Verneuil, die bereits im Gründungsjahr zur ersten Generalsekretärin der UN-RN berufen worden war. Sie pendelt ständig zwischen Genf und Unity hin und her. Die meisten Angestellten parken ihre Wagen außerhalb der Stadt, während die Tiefgarage für die leitenden Mitarbeiter reserviert ist.“

Sie durchquerten die Garage und gelangten durch eine Glastür in ein schmuckloses Betontreppenhaus, in dem sich auch der Zugang zu einem Aufzug befand. Sofia wollte keine weitere Zeit mit Nebensächlichkeiten verlieren und rückte bereits während der Fahrt nach oben mit einem entscheidenden Punkt heraus.

„Morton hat gestern Abend das Gespräch einiger Italiener im Café Grand Golliat belauscht und auf Tonband aufgezeichnet. Könntest du es für uns übersetzen?“

„Aha, dann habt ihr also schon eine erste Spur? Das ist ja großartig! Selbstverständlich kann ich das!“, versicherte Greg mit seinem typischen Elan.

Sie erreichten das Stockwerk, in dem sich sein Büro befand, und folgten einem hellen Gang, von dem rechts und links moderne, mit getönten Glasscheiben voneinander abgetrennte Räume abzweigten. Allein Gregs Büro, das am Ende des Gangs lag, besaß massive Wände und eine eindrucksvolle, zweiflügelige Eingangstür. Es erwies sich als ein heller, puristisch eingerichteter Eckraum, dessen schmale, bodenlange Fenster zu der hinter dem Gebäude entlang führenden „Rue des Nations“ und der Fassade eines gegenüberliegenden Touristenhotels namens „Hotel des Nations“ hinauswiesen. Im Hintergrund konnte man hinter den letzten Häuserzeilen der Stadt in die Berge hinauf sehen.

Greg wies ihnen zwei Plätze an einem kleinen Konferenztisch zu und warf sich selber schwungvoll auf einen Drehstuhl vor seinem breiten Schreibtisch. Während er in ein paar Papieren herumkramte und seinen Computer einschaltete, fragte er mit einer Begeisterung, die Bestätigung von ihnen zu verlangen schien:

„Und, wie gefällt euch die Stadt? Ein unglaublicher Ort, nicht wahr? Vor allem wenn man bedenkt, dass sich noch vor vier Jahren nichts als die Überreste eines verlassenen italienischen Bergdorfes an dieser Stelle befanden! Der Dorfplatz war etwa dort, wo heute der Unity Square ist. Diese Vorgeschichte ist auch einer der Gründe, warum die Stadt wie ein Dorf geplant wurde. Der Hauptgrund ist allerdings der, dass sich das Stadtbild in die Natur einfügen und den Flüchtlingen ein Gefühl von Geborgenheit und Heimat vermitteln soll. Meiner Meinung nach beweist die UN-City wie kaum ein anderes Projekt, was die Kooperation vieler Nationen in kurzer Zeit bewirken kann!“

„Obwohl ich in New York auf Unity vorbereitet wurde, hatte ich keine so hoch entwickelte Stadt erwartet. Was hier innerhalb von vier Jahren geschehen ist, ist wirklich unglaublich!“

Mo gelang es, für einen Augenblick begeistert zu klingen, obwohl seine Laune wegen des Drohbriefes noch immer stark eingetrübt war. Greg machte sich an seinem Computer zu schaffen und kurz darauf sprang der neben seinem Schreibtisch stehende Drucker an.

„Ich druck euch zuerst einmal eine Liste all derjenigen Flüchtlinge aus, die wir für verdächtig halten, sich ihren Aufenthaltstitel mit der Hilfe von Schlepperbanden und korrupten Beamten erkauft zu haben. Es handelt sich, was Unity betrifft, vor allem um allein stehende beziehungsweise allein reisende junge Männer, die von Nordafrika über das Mittelmeer nach Sizilien übergesetzt hatten. All diejenigen, die etwa aus dem arabisch-syrischen Raum stammen, können wir zurzeit vernachlässigen. Wir benötigen mehr Informationen über die Schlepperbanden, die die Überfahrten von Nordafrika aus organisieren und die Mitarbeiter in den italienischen Flüchtlingslagern und Behörden dahingehend bestechen, eine Berechtigung für eine Blue Card und damit zur Weiterreise in die UN-RN auszustellen. Nach den Erkenntnissen verschiedener Geheimdienste sind die Schlepperbanden Teil eines weit gespannten, mafiaähnlichen Netzwerkes, das mehrere große Operationsbasen im größeren Mittelmeerraum betreibt. Wie ich vorgestern Abend in dem Gasthof schon sagte, ist dieses Netzwerk nicht mit der italienischen Mafia zu verwechseln. Die ist lediglich auf italienischem Boden an dem Schleppergeschäft beteiligt.“

Er drückte den Knopf einer Sprechanlage auf dem Schreibtisch, um Getränke für seine Besucher zu ordern, und fuhr danach fort:

„Da ihr völlig neu in der Stadt seid, ist die Liste der beste Weg, mit euren Nachforschungen zu beginnen. Ihr werdet die Namen und Adressen aller Männer auf ihr finden, die den genannten Kriterien entsprechen. Diejenigen, die wir für besonders verdächtig halten, haben wir entsprechend gekennzeichnet. Es sind die, von denen wir wissen, dass sie regelmäßig größere Summen in bar von ihren Sozialleistungen oder ihrem Arbeitslohn bei unserer UN-City-Bank abheben. Diese Personengruppen fallen auf, weil die meisten der Anderen ihr Geld entweder als Startkapital für ein neues Leben auf ihrem Konto sparen oder es direkt an Familienangehörige in ihre Heimat überweisen. Alle, die in Unity mit größeren Bargeldsummen umgehen, stehen im Verdacht, mit ihnen die Schulden bei den Schleppern zu bezahlen, die sie nach Europa brachten. Natürlich ist es auch möglich, dass sie das Geld einsetzen, um irgendwelche krummen Geschäfte zu betreiben. Wenn ihr die Verdächtigen systematisch beobachtet, werdet ihr früher oder später sicher zu Ergebnissen kommen.“

„Mir sind mehrmals Gruppen von jungen Männern aufgefallen, die in Richtung der stadtauswärts führenden Treppen gehen und in den Bergen verschwinden. Machen sie nur eine harmlose Bergwanderung oder wollen sie sich vielleicht mit irgendwem da draußen treffen?“

„Ich bin wirklich froh, dass dir das bereits aufgefallen ist, Morton. Es beweist, wie richtig es war, einen echten Detektiv anzuheuern“, belohnte Greg die Frage mit einem freundlichen Lob. „Tatsächlich könnten sie die Geldeintreiber der Schlepper irgendwo da oben treffen. Allerdings könnten diese Ausflüge auch mit Drogenhandel oder sonstigen kriminellen Geschäften zu tun haben.

Natürlich halte ich Flüchtlinge nicht generell für krimineller als andere Menschen. Es ist nur so, dass die Not und die Einsamkeit in der Fremde manche zu falschen Dingen verführen.“

„Natürlich, natürlich. Drogenhandel ist ein Kaliber für sich, aber ansonsten ist es ja kein Verbrechen, sich von einer Schlepperbande zur Flucht verleiten zu lassen. Die wahren Schuldigen sind die, die das große Geschäft damit machen und mit dem Schicksal hunderttausender Menschen spielen. Davon abgesehen halte ich es für kritisch, wenn vorwiegend Männer ihre Heimat verlassen und womöglich sogar Frauen und Kinder zurücklassen. Auf diese Weise verliert die Bevölkerung in den Herkunftsländern wichtige Beschützer und Ernährer und verarmt tendenziell noch mehr.“

„Da stimme ich dir zu, Morton. Die ganze Sache hat eine Größenordnung, die über einen normalen Kriminalfall weit hinausgeht und eine weltpolitische Dimension aufweist. Eine vollständige Aufklärung wird daher kaum möglich sein. Wenn du auch nur etwas Licht in das Dunkel bringen kannst, würde das dem Renommee des berühmten Inspector Mo bereits sehr gut stehen.

Sag mal, wie bist du eigentlich zu diesem Spitznamen gekommen?“

Greg lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und blickte Mo mit einem viel sagenden Lächeln neugierig an, so als hätte er an diesem Morgen eine ganz besonderes Exemplar von Mensch in seinem Büro zu Gast. Mo hatte jedoch keine Lust auf nebensächliche Konversation und drang darauf, bei der Sache zu bleiben.

„Diese Geschichte werde ich ein anderes Mal erzählen. Im Augenblick bin ich vor allem an der Beantwortung einer Frage interessiert: Sind eigentlich die Ermittler, die bereits vor uns in Unity gewesen sind, nie den Flüchtlingen in die Berge gefolgt? Es dürfte doch nicht allzu schwer herauszufinden sein, was da oben vor sich geht!“

Mos Frage schien aus irgendeinem Grund einen heiklen Punkt zu berühren, denn Greg seufzte und antwortete nicht sofort. Er erhob sich, trat an eines der schmalen, hohen Fenster und blickte für einen Augenblick versonnen in die Berge hinauf. Schließlich drehte er sich wieder um und sah sich gezwungen, ein sehr entscheidendes Geständnis zu machen.

„Wisst Ihr, Freunde, es ist leider so… Alle verdeckten Ermittler, die bisher hier waren, sind bereits nach kürzester Zeit aufgeflogen. Die meisten von ihnen haben die Stadt ohne nennenswerte Untersuchungsergebnisse frühzeitig verlassen. Es ist fast so, als hätte der Teufel höchstpersönlich seine Hand im Spiel. Ich habe die große Hoffnung, dass wenigstens euer Einsatz länger als nur zwei bis drei Tage währen wird. Wir haben im Grunde nur viele Verdachtsmomente, aber bisher so gut wie keine konkreten Ergebnisse.“

„Und wie sind sie aufgeflogen? Wie hat sich das geäußert?“, warf Sofia mit einer gezwungen Ruhe ein. In Wahrheit hatte sie alle Hände voll damit zu tun, ihre Erregung vor Greg zu verbergen, für die es wegen des Drohbriefes mehr als ausreichende Gründe gab.

„Sie wurden durch anonyme Drohanrufe, -emails oder –briefe aufgefordert die Stadt zu verlassen, andernfalls würde ihnen etwas zustoßen. Dabei wurden sie mit ihrem richtigen Namen angesprochen, um zu beweisen, dass man über ihre wahre Identität im Bilde ist. Wir gaben diesen Drohungen in allen Fällen nach, da die Arbeit eines verdeckten Ermittlers sowieso keinen Sinn mehr macht, wenn seine Tarnung aufgeflogen ist.“

Mo und Sofia tauschten vieldeutige Blicke aus. Nach Gregs letztem Satz waren sie insgeheim umso entschlossener, ihn zu diesem Zeitpunkt noch nicht in den Erhalt des Briefes einzuweihen.

„Die möglichen Erklärungen, die es für die frühzeitige Enttarnung der Ermittler gibt, sind allesamt höchst unerfreulich“, fuhr Greg fort. „Möglicherweise verfügen unsere Gegner über exakte Informationen, was die Zahl und Identität der in der Stadt registrierten Flüchtlinge betrifft. Falls sie zu irgendeinem Zeitpunkt Zugriff auf das Melderegister Unitys hatten, hätten sie womöglich die Daten mit den Registern anderer Flüchtlingslager abgleichen können. Jeder überzählige Flüchtling, der vorher nirgendwo registriert gewesen war, müsste so sofort auffallen und unter dem Verdacht stehen, ein UN-Agent zu sein. Leider würde das bedeuten, dass UN-Mitarbeiter involviert sein müssten, da es nicht so aussieht, als ob das Register einem Hacker zum Opfer gefallen ist. Allerdings haben wir die entsprechenden Leute in unserer Melde- und Passabteilung mehrfach im Rotationsverfahren ausgetauscht, ohne dass sich eine Besserung eingestellt hat.“

„Haben noch weitere Mitarbeiter Zugriff auf das Register?“

„Ja natürlich, Morton. Fast alle höheren Mitarbeiter in Unity und Genf können von ihrem Dienstcomputer auf die Daten zugreifen. Insofern ist die Reihe der potentiellen Verdächtigen, die als Maulwurf tätig sein könnten, sehr hoch. Zu hoch, möchte ich fast sagen, um in der Richtung erfolgreiche Nachforschungen anstellen zu können. Natürlich fällt speziell auf die UN-Mitarbeiter ein besonderer Verdacht, die in die Identität der Ermittler eingeweiht gewesen sind.

Einer der Gründe, warum sie aufgeflogen sind, könnte übrigens auch darin liegen, dass sie dabei entdeckt wurden, wie sie den Flüchtlingen in die Berge gefolgt sind. Das Gebirge ist jenseits der Baumgrenze weit zu überblicken. Womöglich wird das Gelände oberhalb der Stadt systematisch beobachtet, weil irgendwo da oben ein Unterschlupf für die Komplizen der Schlepper existiert.“

„Na, dann wissen wir ja, was wir als nächstes zu tun haben! Ich hatte sowieso vor, demnächst eine Bergwanderung zu unternehmen!“, kam Mo aufgrund der neuen Informationen sofort zu einem festen Entschluss.

Greg erhob sich, um sich zu seinen Besuchern an den kleinen Konferenztisch zu setzen und ihnen die ausgedruckte Liste der verdächtigen Flüchtlingsnamen vorzulegen. Dabei meinte er:

„Eine solche Bergwanderung müsste gut vorbereitet sein, damit euch nicht das gleiche Schicksal wie euren früheren Kollegen blüht. Ich schlage vor, nur Mo wird gehen und Sofia hält die Stellung in der Stadt, falls ihm etwas zustößt. Damit ihr in Verbindung bleibt, gebe ich euch das hier.“

Er überreichte Sofia einen Umschlag und als sie ihn öffnete, fand sie zwei SIM-Karten und einen Zettel mit zwei Passwörtern und Telefonnummern darin.

„Es sind italienische Karten, mit denen eure Telefone hier oben klaren Empfang haben werden. Ich empfehle Morton, sich für die Wanderung als Tourist zu verkleiden und sich einer Wandergruppe anzuschließen. Bei einer günstigen Gelegenheit wirst du dich von der Gruppe trennen, dir irgendwo ein geeignetes Versteck suchen und die Nacht in den Bergen verbringen. Am nächsten Tag hast du dann genügend Zeit, mit dem Fernglas deine Beobachtungen zu machen. Sobald die nächste Gruppe kommt, kannst du mit ihr wieder in die Stadt zurückgehen. Unauffälliger könnte es kaum sein. Es wird allerdings ein bisschen ungemütlich sein, weil die Temperaturen nachts unter den Gefrierpunkt fallen.“

„Das werde ich schon überstehen. Hat eigentlich niemals die italienische Polizei dort oben Nachforschungen angestellt?“

„Die Polizei? Ich bitte dich, Morton! Die werden von sich aus gar nichts unternehmen. Die bleiben schön unten in ihrer warmen Stube im Tal und warten, bis einer Anzeige erstattet, was aber nie passiert. Dass irgendwer irgendeinem Schlepper Geld gibt, ist ja noch nicht einmal direkt verboten.

Nein, das müssen wir schon selbst in die Hand nehmen. Allerdings habe ich vor kurzem mit Goldsworthy in New York telefoniert. Er hat mich bei dieser Gelegenheit nochmals daran erinnert, dass die CIA und das FBI grundsätzlich bereit sind uns Unterstützung zu geben, wenn wir ihnen ein paar erste Hinweise geben. Was wir brauchen sind Namen und Verbindungen zu Hintermännern, die wiederum Verbindungen zu weiteren Hintermännern haben. Wir müssen die ganze Kette bis zum Mittelmeer und nach Afrika zurückverfolgen. Wenn uns die Amerikaner helfen, haben wir sogar eine reelle Chance!“

Nachdem Greg auf diese Weise Zuversicht verbreitet hatte, erhob er sich wieder und lief einige Mal unruhig vor dem Fenster hin und her. Schließlich forderte er:

„Und jetzt spielt mir mal dieses Tonband vor, das ihr im Café Grand Golliat aufgenommen habt!“

Mo gehorchte sofort dem Befehl und schaltete das Tonbandgerät ein. Das Band lief eine längere Zeit, bis Greg plötzlich hellhörig wurde und ein paar Worte auf einen Zettel kritzelte. Es war nur ein kurzer Höhepunkt, da darauf keine weiteren Notizen folgten. Am Ende der Aufzeichnung resümierte er:

„Nun, ich denke, das ist schon ein recht schönes Ergebnis für den ersten Tag. Du hast einen guten Riecher gehabt. Die Kerle reden zwar die meiste Zeit nur irgendwelche Nebensächlichkeiten, aber irgendwann stellt einer von ihnen eine sehr interessante Frage. Und zwar will er wortwörtlich von irgendeinem Anderen wissen, ob er schon die Adressen der neu eingetroffenen Flüchtlinge hätte. Der Andere verneint es, sagt aber, er würde sie bald erhalten. Das ist recht aufschlussreich, nicht wahr? Was schließt ihr daraus?“

„Dass sie unter Umständen die Namen der Flüchtlinge schon haben, sonst hätte der Betreffende vielleicht nicht allein nach den Adressen gefragt. Auf jeden Fall ist völlig klar, dass die Typen höchst verdächtig sind“, gab Sofia anstatt Mo Antwort darauf.

„Dem pflichte ich selbstverständlich bei. Falls diese Kerle regelmäßig im Café Grand Golliat anzutreffen sind, sollte man sie auf jeden Fall systematisch observieren. Die wichtigste Frage, die das Ganze für mich aufwirft, ist natürlich, von wem sie die Adressen erhalten werden. Falls es einer unserer Mitarbeiter ist, möchte ich das so schnell wie möglich wissen, verdammt noch mal!“

Greg schlug seine geballte Faust auf den Tisch und schaute sie mit grimmiger Entschlossenheit an.

„Die Observation werde ich übernehmen!“, kündigte Sofia entschieden an. „Vielleicht würden sie Mo wieder erkennen. Schließlich hat er ja direkt am Nachbartisch gesessen. Außerdem soll er ja in die Berge gehen, dann hätte ich in der Zwischenzeit eine Aufgabe.“

Mo willigte in den Vorschlag ein und versah ihn sofort mit einigen Anweisungen:

„Du solltest nicht direkt ins Café Grand Golliat gehen. Gegenüber gibt es eine Snackbar. Setz dich täglich dort rein und versuch so viele Fotos wie möglich von den Kerlen mit deinem Smartphone zu machen. Versuch auch herauszufinden, mit wem sie sich in der Stadt treffen, und mach’ auch Bilder von denen. Wir brauchen Fotos, anhand derer man sie identifizieren kann. Es wäre doch gelacht, wenn wir nicht bald wüssten, wer die sind!“

Greg ließ ein paar zustimmende Worte fallen und erklärte schließlich mit abschließendem Ton:

„Wie ihr im Einzelnen vorgehen wollt, überlasse ich euch, schließlich seid ihr ja die Detektive. Nur Eines wäre mir sehr wichtig: Sobald ihr erste relevante Ergebnisse habt, wendet euch direkt an mich. Und zwar ausschließlich an mich und an niemand Anderen! Ruft mich auf meiner privaten Nummer an, ihr findet sie in dem Umschlag, den ich euch gegeben habe. Wir müssen sehr leise und vertraulich arbeiten, da es wie gesagt eine undichte Stelle unter den UN-Leuten geben könnte. Das ist essentiell wichtig!“

Die Unterredung warm damit beendet und nachdem Greg sie zur Tür begleitet und ihnen für ihre Ermittlungen viel Glück gewünscht hatte, hielt er sie noch einmal kurz zurück und gab ihnen zwei letzte Sätze mit auf den Weg. Sie ließen sie unbeantwortet, um ihn nicht zu belügen.

„Ach übrigens, falls auch ihr so einen Drohbrief bekommen solltet, in dem ihr aufgefordert werdet Unity zu verlassen, teilt mir das bitte umgehend mit! Ich möchte es vor niemandem in Genf verantworten müssen, das Leben von zwei unserer Geheimermittler aufs Spiel gesetzt zu haben!“

-

Die Gruppe der vier Männer, die plötzlich in den beschlagenen Linsen seines Fernglases Gestalt gewann, kam ihm im ersten Augenblick wie ein schemenhaftes und unwirkliches Schattenspiel vor. Als er sich zitternd erhob, fürchtete er, er könnte es nicht schaffen, den Fremden mit seinen steif gefrorenen Füßen schnell genug zu folgen. In der Nacht war es so außerordentlich kalt geworden, dass er gegen drei Uhr morgens kurz davor gewesen war, zurück in die Stadt zu gehen. Davon hatten ihn vor allem der eiserne Wille seines höheren Ichs, ein Fläschchen mit hochprozentigem Schnaps und ein spezieller Handwärmer für Bergwanderer abgehalten. Sein ganzer Ehrgeiz bestand im Moment nur darin, noch vor dem Verstreichen der durch den anonymen Drohbrief gesetzten Zwei-Tages-Frist herauszufinden, wohin einige der vorwiegend jungen Flüchtlingsmänner gingen, wenn sie die Stadt verließen und in die Berge hinaufstiegen.

Mo lenkte den Blick in das Tal hinunter und konnte dabei weite Strecken des Weges übersehen, dem die Meisten folgten, wenn sie von Unity aus in Richtung des 1944 Meter hohen Schweizer Berggipfels „Tête de Ferret“ aufstiegen. Bis auf die vier Männer sah er keine weiteren Wanderer, sondern nur das schier unendliche Grün der Gräser und Kräuter eines lang gestreckten, sanft abfallenden Hanges, der erst am Beginn der Baumgrenze endete. Die Dächer von Unity, die hinter dem Wald in einem der äußersten Ausläufer des Tales zu erkennen waren, sahen aus der Ferne wie Kieselsteine aus, die wie in einem großen Flussbecken vor die Hänge der gewaltigen Bergmassive geschwemmt worden waren. Die Stadt passte sich in ihrer leicht länglichen und schmalen Form exakt dem Tal an und wirkte wie das letzte Bollwerk der Zivilisation, bevor die reine, gewaltige Natur der majestätischen Bergwelt begann. Wo er auch hinsah, hoben sich felsige Berggipfel bis zum Horizont empor, zwischen denen sich grasgrüne, schneeweiße und felsgraue Flächen abwechselten.

Irgendwann waren die tiefschwarzen Gesichter der Vier unter ihren dicken Wollmützen klar genug zu erkennen, um sie eindeutig als afrikanische Flüchtlinge zu identifizieren. Sie schienen keine bessere Orientierung als er selber zu haben, da sie häufig unschlüssig stehen blieben, sich kurz berieten und dann die Richtung wechselten. Sie wanderten einen schmalen, sich langsam absenkenden Bergrücken entlang, dessen Schnee bedeckte Flächen tiefer unten langsam in ein spärliches Grün übergingen. Er ging ihnen auf der anderen Seite des Bergkammes nach, so dass er für sie unsichtbar blieb. Bald wanderten die Afrikaner einen breiten, flach abfallenden Hang hinunter, der in die Richtung des auf der anderen Seite der Berge liegenden Schweizer Tales wies. Er verließ die Deckung des Bergkammes und folgte ihnen am Rand eines abseits gelegenen Geröllfeldes, bis sie einen Weg erreichten, der ins Tal hinunterlief und auf einen Tannenwald zuführte. Er wartete ab, bis sie nicht mehr zu sehen waren, und lief dann entlang des Waldrandes bis zu der Stelle, wo die Vier zwischen den Tannen verschwunden waren, um ihnen direkt auf der Spur zu folgen.

Als nach zweihundert Metern plötzlich eine kilometerlange Lichtung bis ins Tal abfiel und der Wald nur noch rechter- und linkerhand weiter in die Tiefe lief, sah er eine rustikale Almhütte vor sich und wusste instinktiv, dass er das Ziel seiner Wanderung erreicht hatte. Wenig später konnte er durch das Fernglas erkennen, wie sich die vier Männer auf einer Holzbank vor der zweistöckigen, aus halbierten Baumstämmen errichteten Hütte niederließen und Proviant aus ihren Jackentaschen holten. Nur wenige hundert Meter hinter der Hütte begannen sich saftige, grüne Almwiesen zu erstrecken, auf denen weiter unten dicke, grasende Kühe zu sehen waren. Im Tal war eine kleine Ortschaft zu erkennen und ganz weit im Hintergrund stieg eine riesige weiße Rauchsäule aus irgendeinem Fabrikschlot empor. Irgendetwas auf dieser Seite des mächtigen Gebirgskammes war anders, und obwohl es schwer in Worte zu fassen war, was es war, war es klar, dass es mit dem Überschreiten der italienisch-schweizerischen Grenze zusammenhing.

Seine Geduld wurde fast eine Stunde auf die Folter gespannt, bis auf dem unbefestigten Weg, der sich in Serpentinen durch die Wiesen schlängelte, ein sich nähernder, schwarzer Geländewagen im SUV-Stil zu sehen war. Als der Wagen die unmittelbare Nähe der Hütte erreicht hatte, filmte Mo alles mit der Kamera seines Smartphones: Wie das Auto vor der Hütte hielt, vier dunkelhaarige, mit schwarzen Anzügen bekleidete Männer ausstiegen, sich eine Weile mit den vier Flüchtlingen unterhielten und dann alle gemeinsam in der Hütte verschwanden. Es dauerte nicht lange, bis alle wieder herauskamen, und die Afrikaner dieselbe Richtung einschlugen, aus der sie gekommen waren. Die anderen Männer, die wahrscheinlich Italiener waren, stiegen sofort wieder in den Wagen und brausten in einer großen Staubwolke davon.

Nach einer Weile wagte er es, die Deckung des Waldes zu verlassen und sich der Hütte gebückt zu nähern. Er trat durch eine schwere, unverschlossene Holztür in einen großen Raum, der durch herumliegenden Müll und mehrere Sitzgruppen aus dicken, groben Holzbänken samt Tischen verriet, dass die Hütte als Rastplatz für Wanderer diente. Er ließ sich an einem der Tische nieder, wobei ihm sofort eine Streichholzschachtel auffiel, die neben einem überquellenden Aschenbecher lag. Ein paar Zahlen und arabische Schriftzeichen deuteten auf irgendeine Adresse in Libyen hin, die für ihn nicht näher zu entziffern war. Er steckte sie ein und kam durch den Aschenbecher auf den Gedanken, sich eines der Zigarillos anzustecken, die er in einem Tabakladen in Unity gekauft hatte. Er gab sich mit ruhigem Paffen einer Reihe von Überlegungen hin und wurde irgendwann darin gestört, als sich die Tür mit leisem Knarren langsam öffnete.

Im ersten Moment hatte er einen Wanderer erwartet, doch dann führte der Anblick eines breit und süffisant grinsenden Gesichts dazu, dass er entsetzt seine Augen aufriss und sich hustend an dem Rauch des Zigarillos verschluckte. Bei den vier Männern, die nun hintereinander eintraten, handelte es sich um keine Anderen als die Italiener, die er kurz zuvor beobachtet hatte. Ihre noblen, schwarzen Anzüge ließen sie in der leicht verwahrlosten Berghütte wie die Protagonisten eines gänzlich anderen Filmes wirkten und die schallgedämpfte Pistole, die einer von ihnen in den Händen hielt, wies sie als Kriminelle der besonders gefährlichen Art aus. Der Kerl mit der Waffe war offensichtlich der Anführer, da ein kurzes Fingerschnippen von ihm genügte, damit einer der drei Anderen sofort auf Mo zustürmte und ihn und seinen Rucksack gründlich durchsuchte.

Nachdem sein Telefon und sein Taschenmesser in den Sakkotaschen des Bewaffneten verschwunden waren, näherte sich dieser dem Tisch und redete ihn das erste Mal an. Dabei verrieten schon seine ersten Worte in einem holperigen Englisch, wie wenig Mos Identität für ihn noch ein Geheimnis war.

„Sie sind doch dieser bekannte Detektiv aus New York, nicht wahr? Was führt sie denn bloß hier in die Berge hinauf, mein Freund? Denken Sie nicht, es ist hier oben ein bisschen zu gefährlich für Sie? Sie könnten sich doch verletzten und das wollen wir doch alle nicht…“

Der kräftige, bärtige Kerl vermischte in seiner Stimme eine freundlich-gefährliche Ironie, die die drei übrigen Männer mit einem spöttischen Grinsen untermalten. Er ließ sich Mo gegenüber am Tisch nieder und tat so, als fiele ihm erst jetzt das qualmende Zigarillo auf. Er nahm es ihm kurzerhand ab, zog ein paar Mal daran, rümpfte dann die Nase und beschwerte sich:

„Oh mein Güte, schmeckt ja fürchterlich! Wenn Sie schon nach Europa reisen, sollten Sie die Gelegenheit wahrnehmen und sich einen ordentlichen Tabak als Souvenir mit in ihr verdammtes Amerika nehmen.

Also? Wollen Sie meine Frage nicht beantworten? Was machen Sie hier oben?“

„Wandern. Und Sie?“

Mos denkbar knappe Gegenfrage löste ein grimmiges Lachen bei dem Bärtigen aus, in das die drei Anderen wie auf einen unhörbaren Befehl hin einfielen. Sie waren erheblich jünger als er und ihr ganzes Verhältnis zu ihm wirkte so, als wären sie die Gesellen und er der Meister-Kriminelle.

„Dass wir keine Wanderer sind, haben Sie ja wohl schon begriffen. Sagen wir, wir betreiben Geschäfte, und so wie es aussieht, interessieren Sie sich dafür. Es scheint ein typischer Fehler von euch Yankees zu sein, euch immer in fremde Angelegenheiten einzumischen. Aber da es nun schon einmal so gekommen ist, könnten Sie für unsere Geschäfte nützlich sein. Vielleicht sollten Sie mit meinem Chef darüber reden.

Es soll nachher Regen und Schnee und vielleicht sogar ein Gewitter geben. Sie sollten heute nicht mehr in die Berge gehen, mein Freund. Das ist viel zu gefährlich für Sie. Das Beste ist, Sie kommen mit uns und fahren im Wagen. Das ist doch viel bequemer und sicherer für Sie!“

Als der Anführer hierauf mit den Fingern schnippte, war der vergleichsweise höfliche Teil der Begegnung unwiderruflich vorbei. Zwei der jungen Kerle stürzten auf Mo zu, packten ihn an den Armen und zerrten ihn zur Tür hinaus. Draußen warfen sie ihn brutal ins Gras und ließen ihn dort liegen, bis die anderen Beiden kamen und in den Wagen stiegen. Sie stießen ihn auf den Rücksitz, stülpten ihm eine schwarze Mütze bis zum Kinn über den Kopf und drückten ihn nach vorne an die Rücklehnen der Vordersitze.

Er war innerhalb kürzester Zeit in eine wehrlose Dunkelheit verdammt worden und spürte nur noch den eisernen Griff seines neben ihm sitzenden Peinigers im Genick. Schon nach wenigen Minuten Fahrt hatte er seinen Orientierungssinn vollständig verloren. Während der Wagen wild über unbefestigte Bergwege rumpelte, drehte sich sein ganzes Denken bald nur noch verzweifelt um sein beschlagnahmtes Telefon, das das einzige Mittel war, um Sofia zu warnen…

Mo Morris und der Staat der Flüchtlinge

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