Читать книгу Mo Morris und der Staat der Flüchtlinge - Benedict Dana - Страница 5
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ОглавлениеAls er den Wagen auf dem Parkplatz eines einsam gelegenen italienischen Berghotels zum Stehen brachte, hatte er noch immer die Worte eines gewissen „Rick van de Loo“ in den Ohren. Er und Sofia hatten van de Loo nachmittags im Hauptsitz des UNHCR in der Rue de Montbrillant in Genf getroffen und ein kurzes, aber wichtiges Gespräch mit ihm geführt. Obwohl das holperige Englisch des Niederländers mit einem starken Akzent durchzogen gewesen war, war die Botschaft seiner Worte ziemlich klar gewesen: Der Fall, dessentwegen man sie aus den USA hergerufen hatte, war potentiell erheblich größer und komplizierter, als man es ihnen während der Vorbereitungsphase in New York dargestellt hatte. Van de Loo, der einer der Stellvertreter des hohen Flüchtlingskommissars war, war nicht sehr viel konkreter geworden und hatte alles Weitere einfach auf Greg McGregor, den Leiter der „UN-City“, geschoben.
Mo und Sofia blinzelten beim Verlassen des Wagens müde in die tief stehende Sonne, die in diesem Moment die letzten Strahlen über die Berggipfel schickte. Es lag ein langer und ereignisreicher Tag hinter ihnen, der sie nach einer Reihe von Gesprächen in Genf auf den Weg nach Italien geführt hatte. Ihr Ziel, ein ehemals dünn besiedeltes Seitental, das in unmittelbarer Nähe des Mont-Blanc-Tunnels begann und sich nach einigen Kilometern in nordöstlicher Richtung wie eine große Sackgasse an den Ausläufern mächtiger Alpengipfel verlor, hatte seit der Gründung der UN-RN einen beispiellosen Aufschwung erlebt. Die schmale Straße, die noch vor wenigen Jahren ins Nirgendwo geführt hatte, war auf ihrer gesamten Länge eine Baustelle, da die vielen Flüchtlingsbusse und der Ausflugsverkehr neugieriger Touristen eine Verbreiterung dringend nötig gemacht hatte. Die großen, blauen Schilder mit dem UN-Symbol, auf denen in regelmäßigen Abständen „UN-City in the UN-Refugee Nation“ mit einer Kilometerangabe abzulesen war, wirkten wie die Vorboten einer gänzlich anderen Welt; es war eine Welt, die in dem schmalen, von gewaltigen Bergmassiven umschlossenen Talkessel ein geschütztes Refugium mitten im Herzen Europas gefunden hatte. Die geographische Lage war ideal, auch wenn die sich ringsherum auftürmenden Berge und die auf ihren Gipfeln verlaufende französische und schweizerische Grenze die „UN-City“ zu einem abgeschirmten und eingeschlossenen Ort zu machen schienen.
Sie schlenderten den großen, bekiesten Parkplatz des Berghotels hinunter und schauten sich neugierig die herumstehenden Autos an, die vor allem italienische, französische, schweizerische und deutsche Kennzeichen trugen. Das Hotel, das ein beliebtes Ausflugsziel war, lag auf 1600 Meter Höhe etwas abseits von der sich durch das Tal schlängelnden Hauptstrasse am Fuß eines bis zu halben Höhe bewaldeten Bergmassivs und erlaubte einen weiten Panoramablick. Es war der letzte Gasthof auf italienischem Gebiet, bevor man in etwa zwei Kilometern auf die Grenze der UN-RN traf. Es hatte die Architektur eines typischen Bergchalets, dessen untere beide Stockwerke aus massiven Felssteinen bestanden, während das holzverkleidete Obergeschoss von einer aufwändigen Dachkonstruktion aus dicken Balken und schweren Schieferplatten gekrönt wurde.
Sofia sah in ihren zierlichen Schuhen und ihrem schlichten, grauen Kostüm noch immer genauso aus, wie während ihres zweitägigen Aufenthaltes in Genf. Die Verwandlung, die sie beide zu zwei Flüchtlingen machen würde, hatte noch nicht stattgefunden, aber stand nun unmittelbar bevor. Sie beklagte sich stöhnend über die Kälte und blieb dann plötzlich vor einem weißen Mercedes-Geländewagen älteren Baujahres mit Genfer Kennzeichen stehen, der einen großen, blauen UN-Aufkleber auf seiner Kofferraumklappe trug.
„Das muss Gregs Wagen sein!“, rief sie freudig aus und beschleunigte ihren Schritt in Richtung des Hoteleingangs. Mo verzog missmutig seine Miene. Die Art, wie sie die ganze Zeit von „Greg“ sprach, nervte ihn bereits jetzt. Auf der Fahrt hatte sie ihm voller Enthusiasmus den gesamten Werdegang des Engländers erzählt und unablässig über seinen unermüdlichen Einsatz für die Belange der Flüchtlinge und den Aufbau von „Unity“ geschwärmt. So wie sie es dargestellt hatte, war er quasi ein Heiliger, dem die meisten anderen Menschen nicht im Mindesten das Wasser reichen konnten. Überhaupt störte ihn der Ton inniger Vertrautheit, mit dem sie von Anfang an über andere UN-Mitarbeiter sprach, so als formten sie alle eine große, weltweite Familie - eine Familie, der er natürlich nicht angehörte.
Sie gingen um eine Hausecke und erreichten den vorderen Teil des Parkplatzes, von dem sich ihnen mit einem Mal die gesamte, unbeschränkte Aussicht bot, die dem Hotel seinen Namen gab: „Albergo di panorama“. Erst jetzt blieben sie für einen Moment stehen und schenkten der wunderschönen Landschaft die Aufmerksamkeit, die sie verdiente. Sie blickten über das dünn besiedelte, von Tannen bewaldete Tal, das auf der gegenüberliegenden Seite von den felsigen Hängen kleinerer Berge und im Hintergrund durch die Schnee bedeckten Gipfeln einiger zur Mont-Blanc-Gruppe zählender Viertausender begrenzt wurde. Am Rand der Hauptstraße glänzten hin und wieder die brandneu aussehenden Hallen verschiedener kleinerer Betriebe in der Sonne, die sich außerhalb des Gebietes von „Unity“ angesiedelt hatten. Mo beobachtete noch eine Weile einen großen französischen Reisebus, der in diesem Moment seine aus dem Hotel strömenden Passagiere aufnahm, und betrat dann hinter Sofia die rustikal mit Holzbalken und -verkleidungen eingerichtete Lobby.
„Greg erwartet uns in der Panoramastube“, raunte ihm Sofia verschwörerisch zu, so als hätten sie ein hochkarätiges Geheimtreffen vor sich. Neben dem breiten Durchgang zum Restaurant und einer nach oben zu den Hotelzimmern führenden Treppe befand sich eine dicke, mit Holzschnitzereien versehene Tür, die mit dem Schild „Sala Panorama“ versehen war. Schon als Sofia sie öffnete, erkannte sie sofort Greg, der am anderen Ende der Stube vor einer großen Fensterscheibe saß. Die übrigen Plätze waren mit Touristen voll belegt, was der großen Zahl der draußen parkenden Wagen verschiedenster Herkunft entsprach. Der Raum war vollständig mit Holz verkleidet und strahlte zusammen mit dem gold-gelben Licht der hereinfallenden, untergehenden Sonne und den auf den Tischen verteilten Bier- und Weinkrügen die üppige Gemütlichkeit einer typischen Berggaststube aus.
Als Greg McGregor, der bekannte und beliebte Leiter von „Unity“, sich erhob und ihnen ein Zeichen des Erkennens gab, musste Mo sich widerwillig eingestehen, dass der Engländer alles Andere als unsympathisch aussah. Er hatte einen dichten, weißen Vollbart und halblanges, schlohweißes Haar, was ihm zusammen mit seinem Vertrauen erweckenden, tief zerfurchten Gesichtszügen alle Attribute verlieh, wie sie einer gütigen Vaterfigur entsprachen. Die Art, wie sich Sofia ihm auf den letzten Metern mit ausgebreiteten Armen näherte, signalisierte ihm genau, dass ihre früheren Begegnungen nicht bloß flüchtig gewesen sein konnten. Nachdem die Beiden ein paar innige Wangenküsschen nach französischer Art ausgetauscht hatten, wurde er selbst durch ein einnehmend freundliches Lächeln und einen kräftigen Händedruck begrüßt.
„Ich hoffe, Sie hatten eine gute Fahrt! Solch illustre Gäste aus New York kann ich hier leider nur selten begrüßen. Ich bin wirklich froh, dass Sie und Sofia den Weg hierher gefunden haben!“
McGregor stimmte ein höflich-einvernehmliches Lachen an und wies ihnen einen Platz auf der bequemen, rings um den Tisch verlaufenden Sitzbank zu, wonach er sich sofort wieder an Mo wandte.
„Waren es wirklich Sie, der letztes Jahr die Hintergründe des großen Internetblackouts in den USA aufgeklärt hat, oder ist das nur ein Mythos?“
„Es stimmt schon, aber ich war natürlich nicht allein daran beteiligt. Wir waren ein Team und es ist mir manchmal etwas peinlich, dass mir am Ende die gesamte Ehre zufiel.“
„Na, na, mal nicht so bescheiden, mein lieber Dr. Morris, man hat ja oft genug in der Zeitung über Sie gelesen. Sie wundern sich vielleicht, warum Sofia und ich so vertraulich miteinander stehen. Wir kennen uns aus ihrer Genfer Zeit und sie hat die UN-City in den ersten Monaten nach ihrer Gründung im Rahmen ihrer Tätigkeit beim UNHCR regelmäßig besucht.“
Mc Gregor gab der Kellnerin einen Wink und so bekannt wie sein Gesicht im ganzen Tal war, eilte die junge Italienerin sofort herbei und nahm die Bitte um eine Speisekarte mit besonderer Freundlichkeit auf.
„Ich wusste gar nicht, dass Miss Merizadis Besuche in Unity so zahlreich waren. Halten Sie es wirklich für klug, gerade sie undercover in die Stadt einzuschleusen? Ihr Gesicht könnte doch einigen UN-Mitarbeitern immer noch gut bekannt sein.“
Mos Einwand wog offenbar nicht sehr schwer, da McGregor zunächst gar nicht richtig darauf reagierte und für einen Augenblick mit verträumter Miene in Sofias attraktives, tiefbraunes Gesicht vertieft war. Obwohl der dicke goldene Ring an seinem Finger es sehr wahrscheinlich aussehen ließ, dass er verheiratet war, schien er etwas mehr als nur freundschaftliche Empfindungen für sie zu hegen.
„Die UN hat keine andere Wahl, da ihr langsam die Leute für solche Sondereinsätze ausgehen. Außerdem sahen damals nur wenige unserer Mitarbeiter Miss Merizadi, da sie meistens nur zu Besprechungen in unserem Direktoriumsgebäude war. Viele von ihnen sind schon gar nicht mehr hier, da bei der UN die Fluktuation im Allgemeinen sehr hoch ist.“
Da Mo seinen Blick noch immer auf den goldenen Ring gerichtet hielt, legte McGregor ein vieldeutiges Lächeln auf und fragte:
„Sind Sie verheiratet, wenn ich fragen darf?“
Mo schüttelte wie aus höherer Überzeugung heftig den Kopf, was dem Engländer ein amüsiertes Lachen entlockte.
„Das hatte ich mir schon gedacht. Sie haben irgendwie so etwas an sich… Ich selbst bin übrigens schon seit vier Jahren Witwer, aber ich habe meiner Frau bis heute die Treue gehalten. Obwohl es natürlich manchmal schwer fällt, vor allem wenn man sich in der Gegenwart einer Frau wie Sofia befindet!“
Mo lachte oft und gern, aber in diesem Moment konnte ihn nichts dazu bewegen, seine Mundwinkel auch nur einen Millimeter zu verziehen. McGregor war 20 bis 25 Jahre älter als Sofia und hätte mit seinem schlohweißen Bart und seinem faltigen Gesicht in seinen Augen niemals zu der schwarzhaarigen Schönheit mit persischen Ursprüngen gepasst. Er betrachtete das erste Mal die Kleidung seines Gegenübers genauer und kam sofort zu dem Schluss, dass er ein unangepasster, zum Individualismus neigender Mensch sein musste. Durch seine naturfarbene Baumwollhose und sein zerknittertes weißes Leinenhemd, das einen weiten Ausschnitt mit Schlaufen besaß und zur Hälfte mit einer Kordel zugeschnürt war, sah er definitiv nicht wie ein hochrangiger UN-Funktionär aus. Er wirkte eher wie ein lockerer, spirituell angehauchter Zeitgenosse, der mit aller Welt auf vertraulichem Fuß stand. Zu diesem allgemeinen Eindruck trug auch die silberne Kette an seinem Hals bei, an der ein kleines Ying-und-Yang-Zeichen hing.
„Ich denke, wir sollten uns alle duzen. Nennt mich einfach Greg. Wir haben die große Gemeinsamkeit, perfektes Englisch zu sprechen. Das kann man von vielen Leuten hier in der Gegend leider nicht behaupten, obwohl es offiziell die erste Amtssprache in Unity ist.
Also, was wollt ihr bestellen? Ihr seid selbstverständlich meine Gäste. Am besten esst ihr euch noch mal richtig satt, denn in Unity werdet ihr nur noch eine bestimmte, tägliche Ration von Lebensmitteln erhalten, die ihr euch in eurer kleinen Wohnung selber zubereiten müsst. Falls ihr noch ein letztes Glas Wein trinken wollt, solltet ihr jetzt ebenfalls die Gelegenheit dazu ergreifen. In Unity gibt es nämlich keinen Alkohol. Damit nehmen wir nicht nur Rücksicht auf den hohen Prozentsatz der muslimischen Flüchtlinge, sondern wollen auch die üblichen Probleme vermeiden, die mit Alkoholkonsum zusammenhängen.“
Beim Erscheinen der Kellnerin gab „Greg“ die Bestellung in einem fließenden Italienisch auf, womit er einigen Eindruck auf sie machte. Dann begann er sie über ein paar wesentliche Dinge aufzuklären.
„Ihr wollt bestimmt eine Menge von mir wissen, aber wir müssen ja nicht gleich alles am ersten Abend besprechen. Kommen wir erst einmal zu dem unmittelbar bevorstehenden Teil: Ihr werdet die heutige Nacht hier im Hotel verbringen. Wir haben für euch ein Zimmer unter dem Namen reserviert, unter dem ihr morgen nach Unity einreisen werdet. Ihr seid ein englisch-syrisches Ehepaar und tragt den Doppelnamen Bailey-Hemidi. Morton lebt bereits seit zwanzig Jahren in Syrien und ihr beiden stammt direkt aus einem Kriegsgebiet. Unter unseren Angestellten wird es nicht weiter auffallen, dass er kein Wort syrisch oder arabisch spricht, weil sie es bis auf ein paar Wenige selber nicht verstehen. Bei diesen Wenigen handelt es sich um ein paar ehemalige Flüchtlinge, die heute bei der UN angestellt sind. Ihr werdet in einem Wohnblock einquartiert, in dem ihr den betreffenden Personen selten begegnen werdet.
Ihr solltet den restlichen Abend dazu nutzen, langsam in eure neuen Rollen zu schlüpfen. Am besten geht ihr nachher direkt auf euer Zimmer und lasst euch nirgendwo mehr sehen. Man weiß nie, wer sich alles in diesem Hotel herumtreibt. Es ist dabei, sich zu einem immer merkwürdigeren Ort zu entwickeln. Vor ein paar Jahren war es noch eine unbedeutende Herberge, aber jetzt wird es mehr und mehr zu einer Art Umschlagplatz zwischen Unity und Italien. Nicht nur viele Busse mit Touristen halten hier, sondern häufig auch welche mit Flüchtlingen. Leider gibt es Indizien dafür, dass sich hier hin und wieder einige der Kriminellen treffen, die versuchen ihre krummen Geschäfte vor den Toren Unitys zu etablieren. Es hat zum Beispiel immer wieder Versuche gegeben, einen Drogenhandel hier im Tal zu organisieren. Bisher konnten wir diese Versuche weitestgehend unterbinden, indem wir allen Flüchtlingen, die Drogen kaufen oder verkaufen, mit dem Entzug des Bleiberechts drohen. Vor kurzem hat es einige Fälle gegeben, bei denen mit Hilfe korrupter UN-Angestellter Prostituierte nach Unity eingeschleust wurden. Ich könnte euch noch mehr Geschichten in der Richtung berichten, aber ich möchte uns das Abendessen nicht verderben. Wir werden uns übermorgen in der Stadt wieder sehen, sobald ihr euch etwas eingelebt habt. Dann werde ich euch mehr erzählen.“
Als Greg sich zurücklehnte und so tat, als wäre das Wichtigste bereits geklärt, beschwerte sich Sofia aufgebracht:
„Soll das etwa bedeuten, wir erfahren immer noch nicht, worum es genau geht? Wir haben heute Mittag in Genf mit Rick van de Loo gesprochen. Er hat uns so gut wie nichts Neues erzählt, weshalb wir uns das Treffen auch hätten sparen können. Und jetzt fängst du genauso an! Wozu sind wir überhaupt hergekommen?“
Sie schlug ihre langen, schwarzen Haare resolut hinter ihre zierlichen Schultern zurück und schaute ihren alten Bekannten vorwurfsvoll an. Ihre Erregung schien eine besondere Wirkung auf ihn zu haben, da für einen Moment die Selbstsicherheit aus seinem Wesen wich und er kleinlaut zugab:
„Ich verstehe, dass euch diese Verzögerungstaktik nervt, aber natürlich hat sie ihre Gründe. Die Angelegenheit muss streng geheim behandelt werden, da womöglich auch UN-Mitarbeiter an den betreffenden Machenschaften beteiligt sind. Das erklärt zumindest van de Loos Verhalten. Meines hat noch andere Gründe. Ich will euch nämlich nicht gleich zu Anfang erschrecken, indem ich mit zu vielen Infos auf einmal herausrücke. Ich werde jetzt nur einmal ganz vorsichtig das Wort organisiertes Verbrechen in den Mund nehmen, was in einem Land wie Italien natürlich einen ganz besonderen Klang bekommt. Ich hoffe, das wird euch nicht in Angst und Schrecken versetzen.“
Greg schaute sich mit finsterer und misstrauischer Miene um, so als befürchtete er, irgendwer von den übrigen Gästen im Raum könnte heimlich mithören.
„Sie meinen, wir hätten es mit der Mafia zu tun?“, sprach Mo das böse Wort offen aus.
„Du, wir hatten uns auf das Du geeinigt“, hielt sich Greg ausweichend an einer Nebensächlichkeit fest, so als wäre eine direkte Antwort hierauf zu schmerzlich für ihn. Dann atmete er schwer aus, als wäre er von einer schweren Last geplagt und seufzte:
„Manchmal denke ich, wenn man etwas Gutes und Lichtvolles in der Welt realisieren will, ruft es mit besonderer Macht auch die Gegenkräfte hervor. Das Licht zieht die Dunkelheit wie ein Schwamm das Wasser an. Für Schmuggler, Schwarzhändler, Agenten, Mafiosi und Kriminelle aller Art scheint Unity ein regelrechter Magnet zu sein. Vielleicht liegt es daran, dass wir nur ein paar Ordnungskräfte haben, aber keine richtige, eigene Polizei. Leider haben wir es nicht nur mit einigen kleineren und größeren Vergehen hier vor Ort zu tun, sondern mit einem sehr viel weiter gespannten, internationalen Netzwerk, das das Geschäft mit den Flüchtlingen auf vielfältigste Weise im großen Stil organisiert.“
Greg wurde unterbrochen, weil die Kellnerin einen großen Weinkrug und Gläser brachte; danach blickte er sich ein paar Mal um und sprach mit einer erheblich leiser werdenden, vertraulichen Stimme weiter:
„In einigen Ländern werden Menschen geradezu überredet zu fliehen, obwohl sie es gar nicht unbedingt nötig hätten. Die Kosten für die Reise und Überfahrt nach Europa werden ihnen dann in Form eines Darlehens von den Schlepperbanden vorfinanziert. Sie werden dazu verpflichtet, es von dem Geld zurückzubezahlen, das sie in den Betrieben der UN-RN oder irgendeinem europäischen Land verdienen. Aus diesem Grund wendet man sich bevorzugt an junge, kräftige, gesunde Männer, die arbeitsfähig sind. Dies wiederum hat zur Folge, dass die Zahl der Frauen, Alten und Kinder unter unseren Flüchtlingen mit der Zeit zurückgegangen ist. Einige junge Männer, die eigentlich gar keine echten Flüchtlinge sind, halten unsere Kontingente besetzt und hindern uns daran, diejenigen aufzunehmen, die es wirklich dringend nötig hätten. Ein Skandal, der Sofia als Frauenrechtlerin besonders aufregen wird. Hier findet ein Verdrängungsprozess derjenigen statt, die nicht lukrativ genug für diese Art von Geschäft sind. Ein anderer, noch viel erschreckender Skandal betrifft das Thema Mädchenhandel. Es gibt ein organisiertes Verbrechen, das junge, hübsche, afrikanische Mädchen, die sich als Flüchtlinge ausgeben, zu Zwecken der Prostitution nach Europa einschleust.“
Greg hatte ihnen plötzlich das Wesentliche auf einen Schlag erzählt, obwohl er sich zuerst so zurückhaltend gezeigt hatte. Das Thema schien ihn so zu belasten, dass er sich mit mehreren großen Schlucken Rotwein beruhigen musste. Seine Enthüllungen hatten eine starke Wirkung auf Sofia und sie stöhnte entsetzt:
„Ich glaube, ich begreife erst jetzt so langsam, worum es geht… Das gesamte Flüchtlingsstaat-Projekt steht durch diese Missstände auf dem Spiel! Glaubst du wirklich, Morton und ich könnten dabei helfen, derartige Probleme zu lösen? Unsere Anwesenheit hier kann doch angesichts solcher Dimensionen nur ein Tropfen auf den heißen Stein sein!“
Sie seufzte resigniert und blickte mit bedrücktem Gesicht durch die große Panoramascheibe in die wunderschöne, vom Licht der untergehenden Sonne durchflutete Berglandschaft hinaus. In ihren Augen hatte diese ihren Reiz auf einmal verloren und gab nur noch die wenig trostreiche Kulisse für sehr schlechte Neuigkeiten ab.
„Natürlich glaube ich nicht, dass allein ihr beiden dieses Problem für uns lösen könnt. Wie ihr wisst, seid ihr Teil eines großen Geheimprojekts, das die UN als Antwort auf diese Missstände ins Leben gerufen hat. Seit einigen Monaten wird regelmäßig eine große Zahl von Ermittlern, Kontrolleuren und Beobachtern in unsere Gebiete eingeschleust, deren Arbeitsergebnisse regelmäßig gebündelt ausgewertet werden. Diese Auswertungen finden vor allem in Genf statt. Rick van de Loo, mit dem ihr heute gesprochen habt, ist einer der Hauptverantwortlichen hierfür. Rick ist übrigens ein fabelhafter Kerl und wenn er euch gegenüber nicht sehr redselig gewesen ist, so entspricht das nur einer festgelegten Strategie. Es hat sicher nichts mit Unfreundlichkeit zu tun.“
„Das mag ja alles sein, aber was soll nun genau unsere Aufgabe sein? Was erwartet ihr von uns?“, drängte Sofia ungeduldig darauf, Näheres zu erfahren.
„Wir verfolgen im Moment vor allem zwei Ansätze. Der eine ist das Gespräch mit den Zeugen, wobei die besten Zeugen natürlich die Flüchtlinge selber sind. Sie haben den gesamten Weg aus ihrer Heimat bis zu uns zurückgelegt und dabei das Vorgehen der Schlepper genau kennen gelernt. Sie reden zwar über das Thema nicht mit uns, aber untereinander reden sie natürlich schon. Da viele von ihnen aus arabischsprachigen Ländern stammen und du, Sofia, die Sprache perfekt beherrschst, wird es vor allem deine Aufgabe sein, unauffällig das Gespräch mit ihnen zu suchen.
Der zweite Ansatz besteht in intensiver Beobachtung. Es ist für uns längst kein Geheimnis mehr, dass die Arme dieser Schlepperbanden bis hierher reichen und direkten Kontakt mit unseren Flüchtlingen haben. Es geht darum, die entsprechenden Personen zu identifizieren, damit man etwa Interpol Hinweise geben kann.“
„Was passiert eigentlich, wenn die Flüchtlinge nicht in der Lage sind, das Geld an diese Banden zurückzuzahlen?“
Mos Frage schien einen besonders wunden Punkt zu berühren, denn Greg seufzte abermals tief auf und antwortete nur sehr zögerlich darauf.
„Du sprichst damit die schlimmste Seite des ganzen Problems an. Die jungen Männer werden solange bedrängt und erpresst, bis das gesamte Geld abbezahlt ist. Viele von ihnen werden noch verfolgt, wenn sie die UN-RN bereits verlassen haben. Einige werden zu kriminellen Handlungen gezwungen und die, die sich weigern, werden durch die Drohung erpresst, dass ihren Angehörigen in ihren Heimatländern etwas angetan wird. Die Bande scheint über die einzelnen Flüchtlinge genau Buch zu führen und ist über deren familiäre Situation gut informiert. Das Schlimmste aber ist, dass zur Abschreckung Morde an einigen säumigen Zahlern verübt wurden. Die ersten Toten, die es hier vor zweieinhalb Jahren gab, waren der Grund, warum meine Vorgesetzte Elisabeth de Verneuil, die Generalsekretärin der UN-RN, Hilfe beim UNHCR anforderte. Daraufhin wurde das UN-Geheimprojekt ins Leben gerufen. De Vernueil hätte es eigentlich schon viel früher tun müssen, denn es lagen längst genügend Indizien für grobe Unregelmäßigkeiten vor.
Zum Glück hat es seit etwa zwei Jahren keine Morde mehr gegeben. Aber das hat meiner Meinung nach nichts mit dem UN-Geheimprojekt zu tun.“
„Die UN ist kaum in der Lage, diese Bande aus eigener Kraft zu bekämpfen. Sie sollte die Mitgliedsländer der internationalen Gemeinschaft um Hilfe anrufen“, warf Mo ein, als sich Greg wegen des eintreffenden Essens unterbrach.
„Bis zu einem gewissen Grad hat sie das bereits getan. Die UN kooperiert in dieser Angelegenheit vor allem mit den Geheimdiensten Frankreichs, Großbritanniens, Spaniens, Italiens und der USA, da diese Länder als wichtige westliche, stimmberechtigte UN-Mitglieder ein besonderes Interesse an der Aufklärung gezeigt haben. Auch Deutschland hat von Anfang einen großen Beitrag geleistet. Sogar Russland hat seine Hilfe angeboten, aber durch die permanenten Spannungen mit den USA kommt die Zusammenarbeit bisher nur sehr schleppend in Gang. Leider gestaltet sich die Kooperation mit nationalen Geheimdiensten für die UN traditionell etwas schwierig, weshalb sie nicht darin nachlassen darf, sich selbst um Aufklärung zu bemühen.
Um wieder auf das eigentliche Problem zurückzukommen: Ein großes Paradox besteht darin, dass die UN langsam selber zu dem Finanzier der Schlepperbanden werden. Um diejenigen zu schützen, die Geldschulden bei den Banden haben, sind wir nämlich dazu übergegangen, ihnen mit Geld auszuhelfen, wenn sie sich offen um Hilfe an uns wenden. Im Gegenzug verlangen wir dafür einige Informationen von ihnen und sichern ihnen ein Aufenthaltsrecht zu. Bisher hat dieser Handel gut funktioniert, aber die Informationen genügen noch nicht, um das Problem an der Wurzel zu bekämpfen. Dazu müsste man an die Hintermänner kommen, die all das im großen Stil organisieren. Das ist uns bisher noch nicht gelungen.“
„Dieser Handel ist wohl die beste Strategie, um weitere Morde zu verhindern. Wenigstens habe ich jetzt verstanden, dass die Fälschung von Aufenthaltstiteln nicht das zentrale Problem darstellt. Trotzdem interessiert es mich natürlich, wie diese Fälschungen überhaupt möglich sind“, resümierte Sofia.
„Darüber werdet ihr in den nächsten Tagen mehr erfahren. Heute Abend möchte ich zunächst mal nur über eure eigenen Papiere sprechen“, wich Greg einer eindeutigen Antwort darauf aus. Der smarte Engländer öffnete eine kleine Aktentasche, die neben ihm auf der Sitzbank lag, zog zwei Ausweise im Kreditkartenformat aus ihr hervor und schob sie ihnen mit feierlicher Miene über die Tischplatte zu.
„Die Dinger sind echt. Sie wurden von einem vertrauenswürdigen Mitarbeiter in unserer Passabteilung hergestellt. Damit seid ihr jetzt gewissermaßen Mann und Frau. Ich beglückwünsche euch!“
Er erhob grinsend sein Glas, prostete Mo ironisch zu und scherzte:
„Sie sind zu beneiden, Dr. Morris…äh, ich meine natürlich Morton. Eine Frau wie Sofia ist die allererste Wahl. Vielleicht wird dich ja die Erfahrung auf die Idee bringen, das Junggesellendasein in Zukunft zu beenden!“
Mo tat ihm den Gefallen, darüber zu lachen, aber bei Sofia riefen Gregs Scherze sofort allerschärfsten Protest hervor.
„Ich habe Morton bereits abgewöhnt in dieser Richtung Witze zu reißen und dich möchte ich hiermit bitten, es genauso zu halten!“
Ihr gereizter Ton trübte die Stimmung etwas ein und führte dazu, dass sie eine Weile schweigend aßen. Bald fluchte Greg mit einem Blick auf seine Uhr laut auf:
„Verdammt! Ich muss leider bald in mein Büro zurück. Es gibt heute Abend noch eine Menge Schreibkram zu erledigen. Morgen früh verlassen 100 Flüchtlinge die Stadt und wir nehmen 50 neue auf. Ihr Beide seid übrigens in diesen 50 inbegriffen. Außerdem ist es nicht gut, wenn wir hier zu lange zusammen sitzen und gesehen werden. Hatte Rick euch bereits gesagt, wir ihr in die Stadt gelangt?“
„Er deutete an, wir würden mit einem Flüchtlingsbus nach Unity fahren“, erwiderte Sofia.
„Ja genau, und zwar ist es einer der beiden Busse, die morgen früh hier auf dem Parkplatz halten werden. Die Flüchtlinge bekommen draußen ein kleines Frühstück, um die Wartezeit zu überbrücken, bis ihre Unterkünfte fertig vorbereitet sind. Sie kommen aus zwei verschiedenen Lagern in Süditalien und die Fahrt dauert fast die ganze Nacht.“
„Das heißt also, wir werden uns unter die Flüchtlinge mischen, sobald sie weiterfahren…“
„Du sagst es, Sofia. Die Busfahrer sind vertrauenswürdige Männer, die in alles eingeweiht sind. Ihr seid nicht die Ersten, die sie hier aufgelesen haben. Es wird gar nicht weiter auffallen, und wenn euch einer von den Flüchtlingen fragt, behauptet ihr, ihr wäret von Malma – das ist ein Flüchtlingslager in Norditalien – hierher gebracht worden, um zuzusteigen. Der Bus wird etwa um 8 Uhr eintreffen und gegen 9 Uhr weiter fahren. Verschlaft die Abfahrt nicht, denn eure Einreise nach Unity muss so authentisch wie möglich ablaufen. Das Entscheidende ist, dass eure Ausweise bei der Ankunft gescannt werden; erst dadurch erhalten eure Daten Gültigkeit und ihr werdet als Bürger der Stadt registriert.“
Gregs Erläuterungen hatten fast etwas beiläufig geklungen, so als wäre für ihn ein derartiges Vorgehen mittlerweile völlig alltäglich. Er öffnete noch einmal seine Aktentasche und zog dieses Mal einen weißen Papierumschlag heraus.
„Ihr werdet darin einige Informationen über die Identität finden, die wir uns für euch ausgedacht haben. Beruf, Herkunft, Biografie und so weiter. Ihr solltet das alles noch heute Abend gründlich studieren. Ihr müsst Antworten parat haben, wenn euch jemand etwas fragt. Am besten vernichtet ihr diese Unterlagen gleich nach dem Lesen hier im Hotel. Euer Zimmer ist übrigens schon bezahlt.
So, und nun muss ich gehen! Auf mich wartet wie gesagt noch eine Menge Bürokratie!“
Als er sich daraufhin erhob und der herbeieilenden Kellnerin einige Geldscheine in die Hand drückte, fiel ihm noch ein:
„Ach, euren Mietwagen hätte ich fast vergessen! Am besten holt ihr jetzt sofort euer Gepäck und werdet mir die Schlüssel geben. Ich werde ihn durch jemanden abholen lassen. Falls ihr für eure Ermittlungen Unity verlassen müsst und ein Auto braucht, könnt ihr euch an mich wenden.“
Mo und Sofia blieb nichts anderes übrig, als seinem Vorschlag zu folgen und ihn nach draußen auf den Parkplatz zu begleiten. Dabei begann sich ihre Stimmung nochmals zu verschlechtern. Das gemütliche Abendessen war viel zu schnell vorüber gegangen und die Übergabe des Wagens markierte für sie den Punkt, an dem sie unaufhaltsam begannen, die freie Welt als freie Menschen hinter sich zu lassen und das unkomfortable Leben eines Flüchtlings zu beginnen…
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Als er am nächsten Morgen in den Spiegel des Hotelzimmers sah, hatte er einen anderen Menschen vor sich. Die Verwandlung in einen Flüchtling, der schon seit Monaten von Land zu Land und Lager zu Lager unterwegs gewesen war, schien gelungen zu sein. Bereits seit der ersten Begegnung mit Timothy Goldworthy hatte er sich zur Vorbereitung seines neuen Auftrags einen Bart stehen lassen, der seinem gesamten Aussehen einen völlig anderen Charakter verlieh. Er fuhr sich ein paar Mal durch seine ungekämmten schwarzen Haare und versuchte vergeblich die braune Kordjacke zu dehnen, die ihm an den Schultern etwas zu eng war. Sie ergab zusammen mit einem alten Wollpullover und einer einfachen Jeans das Bild eines Mannes, der unauffällig, harmlos und bescheiden wirkte. Die runde Nickelbrille auf seiner Nase veränderte seine Erscheinung so sehr, dass er selber erstaunt darüber war. Seine schlanke, bewegliche und leicht untersetzte Gestalt, durch die er noch nie wie ein typischer Amerikaner ausgesehen hatte, begünstigte es, wie ein Schauspieler in die verschiedensten Rollen schlüpfen zu können. Er war von nun an „Samuel Bailey-Hemidi“, ein Engländer, der schon lange in Syrien lebte, nach seiner Heirat mit einer Syrerin die syrische Staatsangehörigkeit angenommen hatte und nun darauf hoffte, zusammen mit seiner Frau über die UN-RN nach England gelangen zu können. Obwohl diese Story auf etwas tönernen Füßen stand und durch ein paar gezielte, neugierige Fragen schnell zum Einsturz gebracht werden konnte, vertraute er darauf, dass sie für die Dauer ihrer Untersuchungen halten würde.
Als Sofia ihn rief und ungeduldig zum Aufbruch mahnte, schaute er noch einmal kurz zum Fenster hinaus. Mittlerweile war auch der zweite der beiden Busse eingetroffen und auf der großen Außenterrasse des Hotels waren schätzungsweise 40 Flüchtlinge versammelt, die in der Morgensonne ein einfaches Frühstück genossen. Die Gelegenheit, sich unauffällig zu den leeren Bussen zu begeben, war günstig, also schlüpften sie aus dem Zimmer und eilten die Treppe hinunter. Sie stahlen sich an der Rezeption vorbei und nahmen den Hinterausgang, so dass sie sich dem Parkplatz unauffällig von der rückwärtigen Seite nähern konnten. Sie brauchten nicht lange nach den Fahrern zu suchen, denn kaum hatten sie die Busse erreicht, trat bereits einer von ihnen auf sie zu und fragte sie mit bedeutungsvoller Miene:
„Sind Sie die, die hier heute Morgen zusteigen sollen?“
Der Akzent des Fahrers gab ihn als einen Schweizer zu erkennen und es genügte ihren neuen Namen zu nennen, damit er ihnen ihr Gepäck abnahm und die Erlaubnis zum Einsteigen gab. Sie folgten seiner Anweisung, sich ganz nach hinten zu setzen, und warteten geduldig darauf, bis sich die Plätze nach dem Ende des Frühstücks langsam füllten. Ihre plötzliche Anwesenheit rief bei niemandem besonderes Erstaunen hervor, was auch daran lag, dass die Neuankömmlinge voller Aufregung und Vorfreude waren. Die Mehrzahl von ihnen waren junge, alleinreisende Männer, unter denen nur wenige Familien und einige ältere, kinderlose Ehepaare zu sehen waren. Kaum einer von ihnen hielt es nach dem Einsteigen lange auf seinem Sitzplatz aus, da sich nur eine Minute, nachdem der Bus den Parkplatz verlassen hatte und auf die Hauptstraße eingebogen war, der Tannenwald plötzlich lichtete und die ersten Vorboten der nahenden Stadt sichtbar wurden. Die Flüchtlinge, die Europa bisher vor allem aus der Perspektive öder Durchgangslager kennen gelernt hatten, drückten sich an den Fensterscheiben die Nasen platt und staunten über die sauberen, neu aussehenden Gebäude, die sich am Straßenrand aneinanderreihten. Es handelte sich um kleinere Betriebe, die sich zur Versorgung von „Unity“ auf italienischem Territorium niedergelassen hatten und mit Mitteln der europäischen Union gefördert wurden.
Obwohl die Straße noch immer eine einzige Baustelle war und sich der Bus in schleichendem Tempo eine schmale, provisorische Fahrbahn heraufquälte, nahm die Begeisterung seiner Fahrgäste stetig zu. Für sie war die UN-RN so etwas wie das gelobte Land, ein Musterstaat, mindestens ebenso gut wie die Schweiz, mit dem einen großen Unterschied, dass man nicht von der Fürsorge einer fremden Nation, sondern von der der internationalen Weltgemeinschaft abhing.
Mo und Sofia hatten alleine auf der hinteren Bank Platz genommen, und als sie plötzlich von einem jungen Mann mit schwarzem Lockenkopf auf Arabisch angesprochen wurden, zeigte Sofia keine Hemmungen, ein Gespräch mit ihm zu beginnen. Es war eine günstige Gelegenheit, die Glaubwürdigkeit der Story zu testen, die sich Greg McGregor und seine Kollegen für sie ausgedacht hatten. Mo wandte sich jedoch ab und schaute mit vermeintlicher Neugierde angestrengt zum Fenster hinaus, um nicht schon gleich zu Beginn wegen seiner mangelnden Arabischkenntnisse aufzufallen. Sehr bald war die Neugierde nicht mehr gespielt, denn das, was nach einem Kilometer an den Straßenrändern zu beobachten war, faszinierte ihn. Die Ausläufer der UN-City reichten in Form eines bunten Straßendorfs weit über die Grenzen der Stadt hinaus und wirkten wie die verheißungsvolle Ankündigung einer anderen Welt. Die kleinen Läden und Cafés, die sich dicht an der Straße an einen Hang duckten, hatten etwas Behagliches und Einladendes an sich und waren unverkennbar vom Tourismus geprägt. Ihre verspielte und provisorische Bauweise schien in ihrem artifiziell wirkenden Stil eine eigenständige Wirklichkeit zu repräsentieren, die eine Art Bindeglied zwischen Italien und Unity darstellte.
Rick van de Loo hatte ihnen in Genf die Bedeutung des Tourismus für die Stadt genau erklärt. Es ging nicht nur darum, aus ihm Einnahmen und Spenden für das Flüchtlingsstaat-Projekt zu generieren, sondern auch darum, die Begegnung zwischen Europäern und Flüchtlingen zu fördern. Unity war demnach nicht als ein Lager konzipiert, sondern als eine offene, lebendige Stadt, die sowohl ihren Bewohnern wie auch ihren Besuchern das Recht gewährte, sich frei in ihr zu bewegen und die Grenzen des Flüchtlingsstaates mit nur geringfügigen Kontrollen zu passieren.
Am Ende der Reihe der kleinen, vorwiegend aus Holz und Felssteinen erbauten Gebäude erwartete sie ein großer Kreisverkehr, der alle ankommenden Fahrzeuge auf verschiedene Parkplätze verteilte. Er markierte das Ende des italienischen Gebietes und leitete die Hauptstraße in einer scharfen Rechtskurve um einen hoch aufragenden, Felsrücken herum, der die Aussicht auf Unity bisher verdeckt hatte. Die sich verbreiternde Straße und ein langes Spalier von Fahnenmasten mit den Flaggen aller UN-Mitgliedsländer ließen die Einfahrt in das Hoheitsgebiet der UN-City wie ein großes, eindrucksvolles Tor wirken, das sich erhaben gegen die Kulisse der majestätischen Alpengipfel absetzte.
Die UN-Flagge, die wie eh und je auf einem himmelblauen Hintergrund einen weißen, von zwei Olivenzweigen umrahmten Erdkreis zeigte, befand sich am Ende des Spaliers auf einem weiteren, kleineren Kreisverkehr, von dem aus die Stadt plötzlich voll zu sehen war. Ihr Anblick versetzte die Fahrgäste so sehr in Begeisterung und Erstaunen, dass einige aufsprangen und in Jubel ausbrachen. Unity füllte das gesamte Ende des Tales aus und seine Ausläufer reichten ringsherum an den Berghängen bis zur Baumgrenze empor. Seine Silhouette wirkte durch ihre schlanken, sich hoch hinauf streckenden Gebäude auf den ersten Blick wie eine Mini-Wolkenkratzer-Skyline, die sich im Verhältnis zu der Größe und Höhe der Berge wie eine Spielzeugstadt in den Himmel abzeichnete. Die größeren Wohntürme, die das Stadtzentrum bildeten, hatten alle unterschiedliche Formen und Höhen, woraus sich der Eindruck einer organisch wirkenden, zu der natürlichen Bergwelt korrespondierenden Unregelmäßigkeit ergab.
Der andere, vor ihnen herfahrende Bus hatte bereits die Haupteinfahrt in die Stadt erreicht, die aus zwei offen stehenden Schranken und einem großen, etwas abseits liegenden, holzverkleideten Gebäude bestand. Auf seinem mit dicken Schieferplatten gedeckten Dach war ein weithin sichtbares Schild angebracht, auf dem in englischer, italienischer, deutscher und französischer Sprache „UN-Besucherzentrum“ stand. An den Schranken hatte wegen der Ankunft der Flüchtlinge eine Gruppe von UN-Mitarbeitern Position bezogen, die die nahenden Busse durch Handzeichen aufforderten anzuhalten.
Mo war durch die vielen, sich in seiner Wahrnehmung drängenden Eindrücke unschlüssig, welchen Dingen er bevorzugt Aufmerksamkeit schenken sollte. Links von ihnen lag etwas unterhalb der Stadt ein modernes Viertel mit kleineren Betrieben und Geschäften, dessen rasterartig angelegte Straßen und Gründstücke erkennen ließen, dass es nach dem Bau der Innenstadt gesondert geplant und errichtet worden war. Die einzelnen Wohnhäuser, die sich von der Menge der Flüchtlingsunterkünfte abhoben und vorwiegend erhöht an den Berghängen inmitten größerer, tannenbewaldeter Grundstücke lagen, beherbergten vermutlich einen Teil der UN-Mitarbeiter, die in der Verwaltung der Stadt tätig waren.
Als der Bus hielt und zwei italienische UN-Kontrolleure hereinkamen, spürte Mo, wie sich Sofias Hand voller Anspannung in seinen Unterarm grub. Während sich einer der Kontrolleure langsam durch die Reihen zu ihnen vor arbeitete, kramten sie nervös die blauen, kreditkartengroßen Ausweise aus ihren Taschen hervor, die sie am Abend zuvor von Greg erhalten hatten. Als der Italiener bei ihnen angekommen war, würdigte er sie nur eines oberflächlichen Blickes und steckte die Ausweise schnell und routiniert in ein Lesegerät. Daraufhin signalisierten lediglich ein kurzer Piepslaut und eine grüne Leuchtdiode, dass in diesem Moment ihr Aufenthaltsrecht für die UN-RN in Kraft getreten war und sie ordentliche Bürger der UN-City geworden waren.
Bald setzte sich der Bus wieder in Bewegung und ließ den äußeren, locker bebauten Bereich der Stadt schnell hinter sich. Er fuhr in eine schmale Straße ein, an deren Rändern die Fassaden großer Wohnhäuser so hoch und nah beieinander aufsprangen, wie in einem traditionellen italienischen Dorf. Der Dorfcharakter wurde dadurch verstärkt, dass an vielen Gebäuden bunte Holzfensterläden angebracht waren und von der Straße überall kleine Gassen abzweigten, die teilweise steil anstiegen und auf große, die Berghänge hinaufführende Treppen aus Felssteinen zuliefen. Die Architektur der Gebäude lehnte sich eindeutig an einen rustikalen Alpenstil an, da Holz und Felsstein das Hauptmaterial der meist grob gemauerten Fassaden mit ihren vorwiegend naturfarbenen Holzfenstern und –türen bildeten.
Es waren fast nirgendwo andere Fahrzeuge zu sehen, nur hier und da parkten kleine Elektrowägelchen am Straßenrand, die meist offene Ladeflächen besaßen. Die Busse rumpelten über das grobe Straßenpflaster auf das „City Center“ zu, dessen Entfernung regelmäßig durch blaue Schilder angezeigt wurde und zuletzt 350 Meter betrug. An den Straßenrändern drängten sich hier und da Menschentrauben vor kleinen Läden, in denen Lebensmittel ausgegeben wurden. Die Stadtbewohner wirkten in ihrer bunten, modernen Kleidung kaum anders als die in normalen Städten, außer dass sehr viele Frauen Kopftücher trugen.
Als die Busse wegen eines Hindernisses auf der Straße kurzzeitig zum Stehen kamen, konnten sie direkt in einen Laden sehen, auf dessen Schaufenster eine große UN-Flagge prangte und in sieben verschiedenen Sprachen „Bäckerei“ zu lesen war. Sie beobachten, wie im Inneren ein paar Frauen und Männer hinter einem einfachen Tresen damit beschäftigt waren, eine einzige Sorte von Brotlaiben in schlichtes, weißes Papier einzurollen und den eintretenden Kunden zu überreichen. Anstatt mit Geld zu bezahlen, wurde der kleine, blaue Ausweis gescannt, den jeder in der Stadt ständig bei sich trug.
Sofia war über alles in „Unity“ bestens informiert und so hielt sie es für angebracht, Mo hinsichtlich der Läden näher aufzuklären. Dabei sprach sie leise flüsternd, damit niemand mitbekam, dass sie sich auf Englisch unterhielten.
„Im Innenstadtbereich von Unity wurde bisher kein privates Gewerbe zugelassen. Laut einem UN-Dekret herrscht unter Flüchtlingen das Prinzip der Gleichheit. Flüchtlinge sind Flüchtlinge, solange sie eben Flüchtlinge sind. Lassen sie sich dauerhaft nieder und betreiben ein Gewerbe, sind sie per definitionem keine Flüchtlinge mehr. Private Geschäfte befinden sich ausschließlich unten am Stadtrand in der Gewerbezone oder ganz außerhalb auf italienischem Gebiet. Die Inhaber sind fast alle Italiener. Die Läden in der Innenstadt, einschließlich der Souveniershops, werden alle von der UN betrieben und ihre Erlöse fließen in die Stadt.“
Kurz nach ihren Erläuterungen setzten sich die Busse wieder in Bewegung, doch nach kurzer Strecke waren sie bereits wieder gezwungen anzuhalten. Der Grund schien geradezu absurd zu sein und wirkte wie eine Parodie auf die Verkehrsverhältnisse, wie man sie aus normalen Städten kannte: Von einem Drahtseil, das zwischen zwei Gebäude gespannt war, hing eine einzige, einsame Ampel hinunter, die in diesem Moment auf Rot geschaltet hatte. Auf der einmündenden Querstraße war nicht ein einziges Fahrzeug zu sehen und inmitten all der Fußgänger, die die Straße wie einen großen Gehweg benutzten, wirkten die beiden italienischen Busse wie zwei Eindringlinge aus einer anderen Welt. Bald wurden sie von einer Gruppe wild gestikulierender Männer umringt, die aus einem an der Ecke der Kreuzung liegenden Café herausgelaufen kamen und zur Begrüßung der Neuankömmlinge lachend und schreiend auf das Blech der Busse klopften. Die Stimmung war auf beiden Seiten ausgelassen und die Flüchtlinge im Bus trommelten aufgeregt an die Scheiben, so als hätten sie in den Männern ihre Brüder erkannt.
Mo beobachtete belustigt das Treiben auf der Straße und vor dem Café. Es trug den Namen „Unity Corner“ und fügte den etwas artifiziell wirkenden Häuserkulissen eine Note von authentischem Leben hinzu. Mit seinen großen, weißen Bogenfenstern und seinen bis auf den Gehweg reichenden Tischen und Stühlen unterschied es sich nicht wesentlich von einem Café, wie man es an irgendeiner Straßenecke in Italien oder Frankreich fand.
Die Ampel schaltete erst wieder auf grün, nachdem ein elektrobetriebenes Wägelchen, auf dessen Ladefläche zwei Frauen und zwei Männer in grüner Arbeitskleidung hockten, die Kreuzung passiert hatte. Die Fahrt ging weiter und je näher sie dem Zentrum kamen, desto höher wuchsen die Gebäude bis zu 15 Stockwerke empor, was der begrenzten Fläche von Bauland geschuldet war. Im Kontrast dazu stand die allmählich breiter werdende Straße, die durch die fehlenden Autos ein großzügiges Raumgefühl vermittelte. Unity gehörte zu den beneidenswerten Städten in der Welt, in denen erheblich mehr Menschen als Fahrzeuge die Straßen füllten, was eine freundliche und ruhige Atmosphäre erzeugte.
Sie erreichten einen rot gepflasterten, stark verbreiterten Straßenabschnitt, der mit seinen vielen Schaufenstern einer Hauptgeschäftsstraße nachempfunden war. Eine Reihe von einfachen Restaurants, Cafés, Souvenirshops und sonstigen kleinen, von der UN betriebenen Läden waren bereits am Morgen von Touristen gut besucht und strahlten durch ihre einladende Architektur und ihre bunten Farben eine pittoreske Behaglichkeit aus.
Sie hatten das Zentrum erreicht, und als sie in eine schmale Gasse einbogen, ließ das helle Licht, das sich an ihrem Ende sammelte, sowie ein Schild mit der Aufschrift „Unity Square 50 m“ die unmittelbar bevorstehende Ankunft auf einem großen, zentralen Platz erwarten. Bald darauf ging ein großes Raunen und Staunen durch den Bus und vor ihnen tat sich eine Fläche auf, die etwa so groß wie ein halbes Fußballfeld war. Ihre Ränder wurden von stattlichen, fünfstöckigen Häusern gesäumt, die mit ihren wuchtigen Steinquadern und ihren runden Fensterbögen erheblich aufwändiger als die übrigen Gebäude Unitys konstruiert waren. In der Mitte des Platzes befand sich ein runder Bau, der von einem kuppelförmigen, mit Schiefer gedeckten Dach überwölbt wurde und eine entfernte Ähnlichkeit mit einer Kirche oder einem Museum besaß. Der „Unity Square“ schien eine simplifizierte, eigenwillige Kopie einer klassischen italienischen Piazza zu sein. Die vergleichsweise prächtige Bauweise und die vielen UN-Flaggen an den Fassaden ließen sofort erkennen, dass sich zwischen den wenigen Wohnhäusern vor allem öffentliche Einrichtungen befanden.
Der Bus hielt direkt vor dem zentralen, runden Hauptgebäude, wo er bereits von einer Gruppe von UN-Mitarbeitern erwartet wurde. Es handelte sich um Frauen und Männer verschiedenen Alters und verschiedener Herkunft, die jedem Einzelnen der aussteigenden Neuankömmlinge freundlich begrüßten und dazu einluden, das Gebäude zu betreten. Als Sofia sich erhob, schlang sie ein dunkles Kopftuch um ihre langen schwarzen Haare, was in tiefstem Widerspruch zu ihren Überzeugungen als moderne Feministin stand. Für sie war das Kopftuch nicht weniger als das verhasste Symbol einer „archaischen, rückwärtsgewandten Frauenunterdrückerkultur“ – so hatte sie es Mo noch am Morgen im Hotel wortwörtlich gesagt. Zusammen mit dem langen, dünnen, schwarzen Mantel, den sie dazu trug, wurde sie zu einem gänzlich anderen Menschen und hatte mit dieser Verkleidung eine noch überzeugendere Verwandlung als Mo hinter sich. Sie hakte sich nach dem Verlassen des Busses wie eine brave Ehefrau bei ihm ein und trat mit ihm durch ein bogenförmiges Portal in den großen, halbrunden Vorraum des Gebäudes ein.
Es handelte sich laut eines mehrsprachigen Schildes um das „Versammmlungs-, Kultur- und Gebetshaus“ von Unity, in dem allem Anschein nach eine Begrüßungszeremonie für die neu eintreffenden Flüchtlinge abgehalten werden sollte. In dem Vorraum mussten sie eine Kontrolle über sich ergehen lassen, bei der erneut die Ausweise gescannt wurden. Dabei erhielten sie einen persönlichen Umschlag, in dem sie ein paar allgemeine Informationen sowie einen Schlüssel für ihre Unterkunft fanden. Beim Betreten des großen, kreisrunden Hauptraumes mit seiner imposanten Kuppel ahnten sie sofort, dass das „Versammlungs- und Kulturhaus“ auch die Funktionen einer Moschee, einer Kirche und eines Tempels auf sich vereinigte. Die hohen, bogenförmigen Fenster und die Ausrichtung der halbkreisförmig angeordneten Stuhlreihen auf ein hölzernes Podium mit einem Rednerpult ergaben räumliche Verhältnisse, die etwas Sakrales an sich hatten.
Die rund 50 Neuankömmlinge wurden durch ein paar Helfer, die selber Flüchtlinge waren, angewiesen sich auf die ersten Sitzreihen nahe dem Podium niederzulassen. Kurz darauf traten drei Personen aus einem Nebenraum an das Rednerpult, von denen sie eine sofort erkannten. Es handelte sich natürlich um Greg McGregor, der es sich als der leitende Direktor von Unity nicht nehmen ließ, die frisch eingetroffenen Flüchtlinge zu begrüßen und ihnen ein paar gute Worte mit auf den Weg zu geben. Eine seiner beiden Begleiterinnen war eine ältere, stark geschminkte, betont modisch gekleidete Frau, der ihre französische Herkunft sofort anzusehen war. Er stellte sie als „Margaux Morel“ vor, die als ständige Gesandte des UNHCR zugleich Gregs Stellvertreterin war. Die andere Person an seiner Seite war eine junge, dunkelhäutige Flüchtlingsfrau, die als ehrenamtliche Dolmetscherin fungierte. Sie übertrug alles, was McGregor auf Englisch und Morel auf Französisch sagten, ins Arabische, wodurch sich die Begrüßungszeremonie entsprechend in die Länge zog.
Greg begann eine etwas schwülstige Ansprache zu halten, die durch die eifrig eingestreuten Übersetzungen der Dolmetscherin ein besonderes Gewicht zu erhalten schienen. Mo hörte zunächst interessiert hin, doch mit der Zeit entlarvte sich die Rede für ihn als eine Abfolge einstudierter, etwas künstlich klingender Phrasen, die Greg wahrscheinlich schon unzählige Mal bei gleicher Gelegenheit vorgetragen hatte. Von allem, was gesagt wurde, blieben ihm später nur die einprägsamen Sätze im Gedächtnis zurück, mit der Gregs Stellvertreterin Margaux Morel die Begrüßungszeremonie sehr gelungen abgeschlossen hatte. Morels Worte hatten im Gegensatz zu denen ihres Vorredners ganz und gar nicht formelhaft geklungen und waren mit lautem Applaus belohnt worden.
„Alle Menschen haben eine Geschichte und ein Schicksal und unser größtes Bemühen sollte es sein, alle Bewohner unserer Stadt als wertvolle, von ein und demselben Gott abstammende Individuen zu betrachten. Wir wollen ihr Schicksal und ihre Geschichte respektieren und sie nicht wie Tiere in ein Lager einpferchen, wie es an manchen Orten geschieht. Der Wert des Menschen spiegelt sich im Wert eines jeden Einzelnen wider und wenn man nur einem unserer Mitmenschen diesen Wert vorenthält, spricht man ihn der ganzen Menschheit ab. Wir alle in Unity sollten uns als Brüder und Schwestern begreifen. Wir sollten uns als die Bewohner einer besonderen Stadt verstehen, in der Frieden und Freundschaft herrscht und kein Platz für den Krieg sein darf, den einige der hier Anwesenden in ihrer Heimat erleben mussten und der ihre Herzen noch immer erbeben lässt. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen allen einen angenehmen Aufenthalt in der UN-City!“