Читать книгу Mo Morris und der Staat der Flüchtlinge - Benedict Dana - Страница 4

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Der geheime Zahlencode, den ihm Timothy Goldsworthy wenige Tage später per Email geschickt hatte, war für ihn wie das Ticket zu dem neuen Abenteuer, auf das er schon seit Monaten sehnsüchtig gewartet hatte.

An dem Vormittag, als er den Code einem der Sicherheitsleute an der Einfahrt zum UN-Hauptquartier in New York nannte, war er von einer außergewöhnlichen Vorfreude auf die vor ihm liegende Mission erfüllt. Die Männer in dem Kontrollgebäude kamen ihm wie Grenzbeamte vor, da das UN-Gelände Teil eines internationalen Territoriums war, das eigene Hoheitsrechte besaß. Es befand sich am rechten Ufer der Manhattan-Halbinsel direkt am East River auf einem ehemaligen Schlachthofgelände, das der UN nach dem zweiten Weltkrieg gestiftet worden war. Obwohl für ihn eine Fahrt in die City so etwas wie ein Heimspiel war, fühlte er sich bei dem Durchschreiten der schweren, vergitterten Eisentür fast wie ein Fremder im eigenen Land. Vor ihm ragte das Wahrzeichen des Hauptsitzes auf, das 37-stöckige Sekretariatshochhaus, dessen schlanke Quaderform auf besondere Weise einer zeitlosen, klassischen Moderne verpflichtet war. Mit dem UN-Gelände war es wie mit vielen Dingen in New York: Sie waren zwar permanent da, aber man nahm sie in der Riesenstadt nicht immer bewusst wahr und unterschätzte zwangsläufig ihre wahre Dimension und Bedeutung.

Er ging auf die sich links an das Hochhaus anschließenden, weit verzweigten Nebengebäude zu, in denen die großen Hauptsäle sowie die verschiedensten Sitzungs- und Versammlungsräume untergebracht waren. Als er schließlich das UN-Besucherzentrum betrat, stieg sein Blick sofort in die hoch aufragende Empfangshalle auf, deren prägnante Architektur durch die drei weißen, rundlichen Galerien der oberen Stockwerke sowie eine flach ansteigende Freitreppe Assoziationen zu einer modernen Kunsthalle aufkommen ließ. Die moderne, jedoch bereits in die Jahre gekommene Halle drückte das aus, was in seiner Wahrnehmung für das gesamte Gebäudeensemble galt: Die Architektur reflektierte eine große, weltumspannende Idee, die im Lauf der Jahrzehnte etwas an Glanz verloren hatte, aber durch bestimmte Erneuerungsschübe immer wieder belebt worden war. Einer dieser Schübe war etwa die gründliche Sanierung des gesamten UN-Hauptquartiers seit dem Jahr 2008 gewesen und ein anderer der, wegen dem er an diesem Tag hergekommen war: Die Gründung der „United Nations Refugee Nation“ – kurz UN-RN - und die selbstständige Verwaltung ihrer Gebiete.

Ihm fiel sofort eine größere Personengruppe auf, die sich vor dem runden Tresen der Information versammelt hatte und aus ebenso vielen Frauen wie Männern bestand. Sie alle wirkten sehr verschieden, weshalb er sie auf den ersten Blick für eine bunt durchmischte, internationale Touristengruppe hielt. Erst als sich jemand aus ihr löste und auf ihn zukam, realisierte er, dass es die Gruppe war, der er von nun an selber angehörte. Sie schien äußerlich vom ersten Augenblick an genau das perfekt zu erfüllen, was eine der wesentlichen Grundforderungen Dr. Goldworthys gewesen war: Alle, die Teil der Arbeitsgruppe wurden und damit zeitweilig den Status eines UN-Geheimermittlers erhielten, arbeiteten wie Agenten „undercover“ und waren verpflichtet, ihre wahre Identität und Funktion verborgen zu halten.

Der junge Kerl, der sich ihm näherte und ihn durch seine moderne Brille schon von weitem intensiv musterte, trug einen UN-blauen Anzug und hatte einen ebenso blauen Dokumentenhalter mit einer Namensliste in der Hand. Er wurde von ihm mit einer nüchtern und seriös wirkenden Geschäftigkeit willkommen geheißen, die lediglich durch die deutlich erkennbare Neugier in seinen Blicken eine persönliche Note erhielt.

„Dr. Morris, nehme ich an. Es fehlt ja nur noch einer auf der Liste. Mein Name ist Peter Mayfield und ich bin heute Vormittag für Sie zuständig.“

Mo war als letzter deutlich verspätet erschienen, wodurch er sich schon gleich zu Anfang in die Sonderrolle manövrierte, die ihm meistens zufiel. Er folgte Mayfield zu der Gruppe, in der er genau 23 Leute zählte. Als er es sich nicht nehmen ließ, jedem einzelnen seiner neuen „Kolleginnen und Kollegen“ persönlich zu begrüßen, vermied er es instinktiv sich mit seinem Namen vorzustellen. „Dr. Morton Morris“ existierte offiziell schon jetzt nicht mehr, auch wenn er zu diesem Zeitpunkt noch nicht wusste, welchen Decknamen er für die geheime Auslandsoperation erhalten würde. Die ausgewählten Ermittler waren schätzungsweise zwischen 30 und 55 Jahre alt, und ihm fiel sofort auf, dass die meisten von ihnen nicht wie typische US-Amerikaner aussahen.

Mayfield hielt sich nicht lange mit Begrüßungsfloskeln auf und machte sich direkt daran, die Aufgabe zu erfüllen, die ihm von seinem Chef Goldsworthy aufgetragen worden war: Er sollte der Gruppe die wichtigsten Säle und Gebäudeteile zeigen und ihr etwas über die Geschichte der UN erzählen. Als sich der kleine Menschentross unter seiner Führung in Bewegung setzte, bildete Mo das Schlusslicht, bis sich nach einiger Zeit eine junge, arabisch aussehende Dame an seine Seite heftete. Er spürte genau, dass sie kein zufälliges Interesse an ihm hatte und aus irgendeinem bestimmten Grund seine Nähe suchte. Ihre schlanke, in einem modischen, weißen Kostüm steckende Figur verlieh ihr zusammen mit ihrem langen, schwarzen Haar eine außergewöhnlich attraktive Erscheinung und ihre vornehmen Gesichtszüge verrieten Bildung und Intelligenz. Die schöne Unbekannte machte keinen Hehl aus ihrem Namen und stellte sich ganz offen als Sofia Merizadi vor, wobei sie ihm noch ihre Visitenkarte unter seine Nase hielt: Sofia Merizadi, Abteilung für die Rechte und den Schutz der Frauen beim United Nations High Commissioner for Refugees (UNHCR). Er wog die Visitenkarte für einen Moment nachdenklich in seinen Händen und kam dann zu dem nicht sehr fern liegenden Schluss:

„Ich nehme an, Sie sind für die Rechte und den Schutz der Frauen in den Gebieten der UN-RN zuständig?“

„Das ist richtig, auch wenn damit mein gesamtes Aufgabenfeld noch nicht ganz exakt umrissen ist“, entgegnete Merizadi in einem akzentfreien Englisch, das darauf schließen ließ, dass sie in den USA aufgewachsen war.

„Dann umreißen Sie es bitte ein wenig genauer, damit ich mir etwas vorstellen kann. Ich bin, was die Aufgabenfelder der UN angeht, noch nicht gut informiert“, forderte er mit der charmanten und Vertrauen erweckenden Freundlichkeit, die ihn Fremden gegenüber sofort sympathisch wirken ließ. Es war eine Freundlichkeit, die einem besonderen psychologischen Einfühlungsvermögen entsprang und bei einer Frau wie Merizadi sofort auf fruchtbaren Boden fiel. Während sie einem breiten, hell erleuchteten Gang folgten, der mit großen grauen und weißen Fliesen im Schachbrettmuster ausgelegt war, erklärte sie:

„Wie Sie wahrscheinlich wissen, befindet sich das Hauptquartier des UNHCR in Genf. Meine Grundaufgabe besteht zusammen mit einer Reihe weiterer Kollegen und Kolleginnen darin, den Hochkommissar für Flüchtlinge hier in New York beim UN-Treuhandrat zu vertreten. Die Verantwortung für die UN-RN fällt beiden Organen zu – der Treuhandrat übernimmt den administrativen Teil, während der UNHCR als der humanitäre Betreuer der Flüchtlinge auftritt.

In meine Zuständigkeit fällt der gesamte Weg, den eine Frau – beziehungsweise auch ein Kind oder ein Mädchen - nimmt, und nicht nur ihr Aufenthalt in einem UN-RN-Gebiet. Wir in unserer Abteilung interessieren uns für das Leben der Frauen in ihren Heimatländern, die Gründe, warum sie zu Flüchtlingen werden, ihren Weg, der sie in ein anderes Land oder in eines unserer Gebiete führt, ihre Lebensbedingungen dort und alles, was danach sonst noch geschieht. Es ist ein ganzheitlicher Ansatz, der nichts von dem ausblenden will, was einer Frau, die sich in Not befindet, widerfahren kann. Wir arbeiten bewusst allen Tendenzen in der Gesellschaft entgegen, die versuchen etwas von dem unter den Teppich zu kehren, was Frauen im 21. Jahrhundert noch immer an Unrecht erdulden müssen.“

„An was für Dinge denken Sie speziell?“, fragte er, während die Gruppe mittlerweile eine leicht geschwungene, moderne Treppe hinaufstieg.

„Ich ziehe das gesamte Spektrum krimineller Energien und Handlungen in Betracht, die man überall auf der Welt finden kann. In unserem Bereich haben wir es mit Menschenhandel, sexueller Nötigung, Zwangsprostitution, Vergewaltigung, allen Formen von körperlicher Gewalt und Folter, Erpressung, Ausbeutung und seelischer Unterdrückung zu tun. Wir kümmern uns auch um so heikle Dinge wie etwa die rituelle Beschneidung von Frauen, die natürlich in den meisten Fällen gegen deren Willen vorgenommen wird.

Mich würde interessieren, welchem der beiden großen Lager Sie als Kriminologe zuzuzählen sind: Gehören Sie zu den Hardlinern, die ein maximales Strafmaß für den Täter fordern, oder verfolgen Sie eher den weichen Verständnisansatz, der die Gründe für die Tat verstehen will? Ich bin übrigens kein Psychologe wie Sie, denn ich habe Recht und Politik studiert.“

Mo antwortete nicht sofort, da sich die Gruppe jetzt vor dem Eingang zu einem der Hauptsäle sammelte und Mayfield im Ton eines Fremdenführers ankündigte:

„Wir betreten gleich die Besuchergalerie des Sitzungssaals des UN-Sicherheitsrates. Er wird auch der norwegische Saal genannt, weil er von Norwegen gestiftet worden ist. Das große Wandbild, das Sie im Hintergrund sehen werden, zeigt in seinem Zentrum einen Phönix als Symbol für den Neubeginn nach dem zweiten Weltkrieg. Näheres dazu gleich.“

Er öffnete die großen, modernen Türen der Besuchergalerie, und die 24-köpfige Gruppe folgte ihm langsam und ehrfürchtig ins Innere, so als beträte sie ein Museum oder eine Kathedrale.

„Ich halte selbstverständlich beide Ansätze für berechtigt, Mrs. Merizadi. Die harte Strafe…“

Miss Merizadi“, wurde er von ihr sofort etwas brüsk korrigiert. Er nahm den Einwurf mit scheinbar desinteressierter Miene hin, obwohl ihm eine „Miss Merizadi“ instinktiv lieber als eine „Mrs. Merizadi“ war. Nach dem Betreten des Saales fuhr er fort:

„Ich betrachte eine harte Strafe als das unverzichtbare Korrektiv, zu dem das Tätergewissen in den meisten Fällen selber nicht mehr fähig ist. Und das Verstehen der Hintergründe wiederum ist unerlässlich, um die Ursachen krimineller Taten auf der gesamtgesellschaftlichen Ebene zu bekämpfen. Einseitigkeit, egal in welchem Lebensbereich, halte ich grundsätzlich für dumm und schädlich. Sie führt nicht nur bei den Hardlinern zu den drastischsten Übertreibungen und Verzerrungen, sondern auch auf der Gegenseite, wenn es unter dem Deckmantel einer falsch verstandenen Toleranz und Menschlichkeit zu sozialen Verhältnissen kommt, in denen das Verbrechen ungehindert blüht und gedeiht. Wenn Kriminelle über eine verweichlichte Judikative, Legislative und Exekutive lachen, kann das kaum im Sinne eines gesunden Staatswesens sein.“

Seine Begleiterin nahm das Statement mit ein paar zustimmenden Lauten auf, so als ob sie seine Meinung grundsätzlich teilte. Er verstand natürlich, dass sie kaum den „weichen Ansatz“ vertreten konnte, da sie von Berufs wegen permanent mit drastischen Unrechtsfällen konfrontiert war, die hunderttausende Frauen weltweit betrafen.

Die Unterhaltung wurde unterbrochen, da sie in diesem Moment die Besuchergalerie des imposanten norwegischen Saales betraten. Sie wirkte wie der erhöhte Rang eines Theaters, von dem man auf den runden Konferenztisch des Sicherheitsrates wie auf eine Bühne hinuntersah. Der Tisch wurde in einigem Abstand von zwei Reihen blauer Stühle umrahmt, die für die Berater der vor ihnen sitzenden Delegierten reserviert waren. Rechts und links schlossen sich je drei Reihen roter Stühle für die Vertreter derjenigen UN-Mitgliedsländer an, die an einer Sitzung teilnehmen durften, aber über kein Stimmrecht verfügten.

Mos Blick blieb kurzzeitig an dem riesigen, den gesamten Saal dominierenden Wandgemälde mit dem Phönix hängen und er betrachtete flüchtig die je zwei langen und schmalen Glasscheiben an der rechten und linken Wand, hinter denen bei Sitzungen die Dolmetscher saßen. Dann meinte er zu Merizadi rundheraus:

„Gehören Sie etwa auch zu denjenigen, die undercover in die UN-RN einreisen sollen? Ich kann mir kaum vorstellen, dass eine Frau wie Sie als Agentin arbeiten soll! Einer Wissenschaftlerin müsste doch eigentlich ein anderes Aufgabengebiet zufallen.“

Die Bemerkung war eher als Kompliment gemeint, aber bei der schönen Feministin, in deren feinen, orientalischen Zügen die Spuren eines gewissen Stolzes nicht zu übersehen waren, löste sie geradezu Empörung aus.

„Denken Sie, eine Frau wäre nicht in der Lage dazu, eine solche Aufgabe zu erfüllen? Noch dazu, wenn sie gebildet ist? Bis auf Mr. Mayfield ist jeder, den Sie heute hier sehen, so etwas Ähnliches wie ein künftiger Agent. Dass die Leute nicht so aussehen und größtenteils über einen untypischen Werdegang verfügen, betrachten wie als Teil einer besonderen Strategie. Im Grunde sind Sie es, der in diesem Club die größte Ausnahme darstellt. Soweit ich weiß, hat man sich für Ihre Teilnahme an dem Projekt erst sehr kurzfristig entschieden. Ihr Gesicht ist während Ihres letzten Falles immer wieder durch die Medien gegangen, was für eine verdeckte Ermittlung natürlich nicht sehr günstig ist. Sie werden vielleicht ein paar Veränderungen an Ihrem Aussehen vornehmen müssen.“

Mo folgte den umfangreichen Ausführungen, die Mayfield über den Sicherheitsrat von sich gab, schon länger nicht mehr und war plötzlich nur noch an der gut informierten Frauenrechtlerin interessiert.

„Wie viele von diesen Leuten hier sind von der UN?“, wollte er von ihr wissen, während sie sich auf zwei der gut gepolsterten Sessel der Galerie niederließen.

„Ziemlich genau die Hälfte. Wir können bei den meisten unserer Projekte nur über eine begrenzte Zahl eigener Mitarbeiter verfügen und sind gezwungen Externe zu rekrutieren. Bei besonderen Operationen hat es auch Versuche gegeben, mit verschiedenen Geheimdiensten zu kooperieren. Wegen der möglichen Interessenskonflikte hat sich dies in der Praxis jedoch oft als schwierig erwiesen. Die UN verfolgt grundsätzlich andere Ziele, als es Nationen tun. Die Einmischung eines nationalen Geheimdienstes in die Angelegenheiten der UN kann unter Umständen zu nachhaltigen Verstimmungen bei diversen UN-Mitgliedsländern führen.“

„Das ist leicht nachzuvollziehen. Soweit ich weiß, besaß die UN in ihren Einrichtungen bisher keine echten, eigenen Hoheitsrechte, sondern nur diplomatische Immunität. Mit der Gründung der UN-RN hat sich das geändert. Ich könnte mir vorstellen, dass nicht alle Nationen diesen Machtzuwachs der UN positiv sehen.“

„Selbstverständlich nicht, Dr. Morris. Ich bin übrigens nicht so einseitig und ideologisch befangen, nicht auch Kritik an unserer Organisation zulassen zu können. Offiziell ging es der UN nur darum, bestimmte Menschenrechtsstandards in den Gebieten der UN-RN zu wahren und besonders betroffene Nationen von den hohen Einwanderungszahlen zu entlasten. Aber im Hintergrund ging es natürlich immer auch um den Machtzuwachs, der mit dem Großprojekt des Flüchtlingsstaates verbunden ist. Keine Organisation, so menschlich und moralisch sie sich in ihren Zielen auch immer geben mag, kann sich davon freisprechen, an der Ausweitung ihrer eigenen Einflusssphäre interessiert zu sein. Als supranationale Vereinigung wird die UN grundsätzlich besonders kritisch daraufhin geprüft, ob ihr Machtzuwachs auf Kosten einzelner Nationen geht. Die Gebiete, die der UN von diversen afrikanischen und europäischen Ländern sowie von Russland und der Türkei zur Verfügung gestellt wurden, wurden ausdrücklich nur als eine zeitlich befristete Überlassung definiert. Die UN-RN gelten als eine hoheitliche Sonderform, die nicht mit den ideellen Hoheitsansprüchen der UN als solches identisch sind. Das ist eine juristische Unterscheidung, die eine gewisse Tragweite hat. Mit dieser Regelung soll von vornherein ausgeschlossen werden, dass die UN auf längere Sicht durch die Beanspruchung fremder Gebiete die Unterwanderung und Auflösung einzelner Nationen anstreben könnte. Zu dieser Regelung gehört auch, dass die in der UN-RN beschäftigten Angestellten und Beamten zu 60 Prozent aus denjenigen Ländern rekrutiert werden müssen, die die entsprechenden Gebiete zur Verfügung gestellt haben.“

Merizadi beendete ihre Erläuterungen, da sich die Gruppe anschickte, die Galerie wieder zu verlassen und zu dem nächsten Saal zu wandern.

„Könnte vielleicht einer der Gründe für unseren Auftrag mit dieser Regelung in Zusammenhang stehen?“, entgegnete Mo ahnungsvoll, während sie sich wieder erhoben.

„Diese Vermutung ist nicht ganz falsch, Dr. Morris. Es geht um Korruption aber auch um andere Dinge. Sie ist in den verschiedenen Gebieten unterschiedlich stark ausgeprägt. In manchen müssen wir fast die gesamten Kräfte unseres eigenen Personals aufwenden, um die übrigen 60 Prozent der Angestellten zu kontrollieren. Auf Dauer ist das natürlich ein untragbarer Zustand, der mit immensem Aufwand verbunden ist.“

Obwohl sich die Unterhaltung gerade erst entwickelt hatte, zog sich Merizadi plötzlich wieder von ihm zurück, indem sie auf einen untersetzten, schwarzhaarigen Mann mit dichtem Vollbart und runder Brille wies und meinte:

„Ich werde ein paar Takte mit einem Kollegen reden. Ich würde mich freuen, wenn wie unsere Unterhaltung später fortsetzten könnten.“

So überraschend wie die Ankündigung kam, so schnell verschwand sie an der Seite des Mannes, der durch seinen schwarzen Bart und seine Nickelbrille wie ein arabischer Universitätsprofessor aussah, aus dem Saal.

Er war wieder allein und fiel erneut an das Ende der Gruppe zurück, während Mayfield seine Führung durch das UN-Gebäude fortsetzte. Er ging dabei sehr gewissenhaft und gründlich vor, da er offenbar nicht vorhatte, auch nur einen einzigen der übrigen Räume und Säle auf seinem Rundgang auszulassen. Mo beobachtete immer wieder verstohlen, wie sich Merizadi mit dem schwarzhaarigen „Professor“ angeregt unterhielt. Obwohl er sie noch gar nicht kannte, fühlte er fast so etwas wie Eifersucht, nachdem sie ihm nach dem kurzen, aber intensiven Gespräch so plötzlich und unvermittelt ihre Aufmerksamkeit entzogen hatte.

Auf der langen Führung stellte sich bald Langeweile ein und sein Interesse erwachte erst sehr viel später wieder, als sie einen wichtigen Hauptsaal betraten: Es war der Saal, in dem die UN-Generalversammlung zusammenkam. Sein Wahrzeichen, die markante, riesige Kuppel, die das Gebäude nach außen sichtbar überragte, verlieh ihm etwas von dem Charakter eines Sakralbaus. Der Eindruck wurde durch die Sitzreihen verstärkt, die eine gewisse Analogie zu Kirchenbänken aufwiesen, sowie durch das riesige UN-Emblem, das an der Stirnseite des Saals von einer großen, goldenen Fläche umschlossen wurde. Der Tisch mit den drei Plätzen für die Vorsitzenden der Versammlung, der sich direkt am Fuß der goldenen Fläche befand, bekam in Mos Wahrnehmung Ähnlichkeit mit einem Altar, auf dem die große Idee der weltweit geeinten Nationen gleichsam religiös zelebriert wurde.

Er bekam keine Gelegenheit, den eindrucksvollen Raum weiter auf sich wirken zu lassen, weil er Dr. Timothy Goldsworthy an der Seite eines untersetzten, dicken Mannes den Saal betreten sah. Als Goldsworthy ihn erspähte, steuerte er direkt auf ihn zu und dirigierte dabei den Anderen lebhaft redend und gestikulierend neben sich her. Im Vergleich zu dem extravaganten, modisch gekleideten Goldsworthy, dessen Bewegungen an die eines stolzen Pfaus erinnerten, wirkte sein schwarzhaariger, südamerikanisch aussehender Begleiter durch seine würdige Haltung und seine aufgeräumten Gesichtszüge wie ein durch und durch seriöser Kerl.

„Dr. Morris, was für eine Freude Sie hier zu sehen!“, wurde er bald von Goldsworthy mit einer etwas künstlich wirkenden Überschwänglichkeit begrüßt. Dabei hielten sie sich im Eingangsbereich des Saales auf und wurden von einigen aus der Gruppe neugierig beäugt. „Ich war mir nicht ganz sicher, ob Sie meiner Einladung hierher wirklich folgen würden. Ich hatte schon die Befürchtung, Sie könnten sich zu dem Abenteuer nicht entschließen, da es einige Entbehrungen mit sich bringt. Ein Luxusleben können wir Ihnen auf Ihrer Reise in der UN-RN natürlich nicht bieten.“

„Da kennen Sie mich schlecht. Wenn ich sage, ich komme, komme ich!“, versicherte Mo mit einem Ton heiliger Überzeugung, der ein freundliches Grinsen in die Gesichter der Männer treten ließ.

„Natürlich, natürlich, ich scherze ja bloß. Sie hatten ja den Vertrag unterschrieben. Es war übrigens eine sehr spontane Idee, Sie zu engagieren. Wie sagt man doch: Ungewöhnliche Aufgaben erfordern ungewöhnliche Menschen. Die Idee kam uns, nachdem jemand anderes kurzfristig ausgeschieden ist. Ich möchte Ihnen Carlos Lozano vorstellen. Er ist der Präsident des UN-Treuhandrats. Sie haben Glück, nicht jeder lernt ihn persönlich kennen!“

Als Mo Lozanos kräftige Hand schüttelte, spürte er intuitiv sofort, dass er einen grundehrlichen und integren Mann vor sich hatte. Die Sympathie schien beidseitig zu sein, da ihn Lozano mit ausgesprochener Freundlichkeit begrüßte.

„Ich habe einiges von Ihnen gehört, Dr. Morris, und freue mich sehr über Ihre Teilnahme an unserer Operation. Wenn Sie bei diesem Fall auch nur halb so erfolgreich wie bei Ihrem letzten sind, wäre für uns das Meiste schon gewonnen. Eine große Belohnung kann ich Ihnen allerdings nicht versprechen. Wie man hört, scheinen Sie Geld auch gar nicht mehr unbedingt nötig zu haben.“

„Geld ist nicht alles auf der Welt. Die Ehre, für eine Organisation wie die UN zu arbeiten, ist ja eigentlich schon Bezahlung genug. Obwohl es ja immer auch sehr viel Kritik an ihr gegeben hat…“

Mo biss sich auf die Zunge, da seine Bemerkung beinahe an einen diplomatischen Fauxpas grenzte. Es war nicht gerade der richtige Moment, auf Kritik an der UN zu sprechen zu kommen, wenn man das erste Mal im Leben einen derart hohen UN-Repräsentanten traf. Es war zu spät, denn Lozano hakte sofort voller Neugier nach:

„An welche Art von Kritik dachten Sie genau? An allem, was groß ist, wird auch immer viel kritisiert. Das ist eigentlich ganz normal.“

Seine Freundlichkeit ließ um keinen Deut nach und er schien an einer ehrlichen Antwort aufrichtig interessiert zu sein. Seine unerwartete Offenheit reizte Mo dazu, mit dem dunkelsten Aspekt herauszurücken, der ihm spontan einfiel.

„Wie ich hörte, wurde das Gelände des UN-Hauptquartiers von einer alt bekannten Familie gestiftet. Der Name dieser Familie ruft Assoziationen an bestimmte elitäre Zirkel hervor. So sollen etwa gewisse Freimaurerkongregationen, die den alten Traum von einer neuen Weltordnung und einer Eine-Welt-Regierung noch nicht aufgegeben haben, die UN als ein sehr geeignetes Vehikel für die Erfüllung ihrer Träume sehen…“

Lozano war zu klug, um sich gänzlich naiv zu geben, und so ließ er ein verstehendes Lachen hören und versicherte sofort:

„Ich weiß genau, worauf Sie anspielen, glauben Sie mir. Es kursieren einige Theorien in dieser Richtung, die manche auch Verschwörungstheorien nennen. Ich persönlich weiß sogar, dass einige Aspekte dieser Theorien nicht ganz unberechtigt sind. Allerdings darf ich Sie beruhigen: Ich bin überzeugt, keine Geheimgesellschaft der Welt wird jemals einen solchen Einfluss erlangen, dass sie eine globale Institution wie die UN unterwandern kann. Überhaupt halte ich persönlich es für unmöglich, diese Welt jemals zu einen und eine einzige Weltregierung aufzubauen. Auch wenn sich der Begriff Einigung grundsätzlich positiv anhört, bin ich sicher, dass eine solche einheitliche Weltregierung niemals in der Lage wäre, den Bedürfnissen all der verschiedenen Menschen in all den verschiedenen Erdteilen auf angemessene und demokratische Weise gerecht zu werden.

Obwohl die Gründung supranationaler Vereinigungen im beginnenden dritten Jahrtausend im Trend zu liegen scheint – die EU ist eines der deutlichsten Beispiele dafür – glaube ich nicht, dass sich dieser historische Trend langfristig als vorherrschende Staats- beziehungsweise Regierungsform durchsetzen wird. Ich erinnere Sie: Die Sowjetunion, eine der größten Staatenbünde überhaupt, zerfiel, bevor die EU ihre Grenzen niedergerissen und den Euro eingeführt hat. Länder und Nationen, Staatenbünde und Organisationen entstehen und vergehen und entstehen wieder neu. Die Geschichte, wie wir sie momentan erleben, zeigt uns fast nichts, was es nicht schon einmal gegeben hätte. Auch Währungsunionen hat es schon lange vor dem Euro gegeben. Wir alle erleben nur einen winzigen Ausschnitt aus der großen Weltgeschichte und nehmen uns meiner Ansicht nach viel zu wichtig dafür.

Ich persönlich wäre schon zufrieden, wenn sich eine Vereinigung wie die UN weiterhin über einige Jahrhunderte halten könnte und erfolgreich die Aufgaben erfüllen würde, für deren Erfüllung sie gegründet worden ist: Kriege verhindern, den Frieden festigen, befreundete und befeindete Nationen an den Verhandlungstisch holen, die Einhaltung der Menschenrechte sichern und jeden Ausbruch von Barbarei so schnell wie möglich im Keim zu ersticken.“

Lozanos spontane, kleine Ansprache bewies, wie sehr er es als Präsident des Treuhandrates gewohnt war, Reden zu halten. Bevor Mo zu einer angemessenen Antwort ansetzen konnte, bemühte sich Goldsworthy, das Gespräch nicht weiter ausufern zu lassen und in eine andere Richtung zu lenken.

„Vielleicht freut es Sie zu hören, Dr. Morris, dass das Tagesprogramm in Kürze ein Mittagessen in der Cafeteria vorsieht. Heute Nachtmittag werden Sie dann nähere Einzelheiten über die administrativen Strukturen, die Gebiete und die verschiedenen Orte und Städte der UN-RN erfahren. Es handelt sich um ein Seminar, das außerhalb des Geländes in einem Bürogebäude in der Nähe stattfinden wird. Sie werden über die technische Ausstattung, die Sie dort antreffen werden, erstaunt sein. Unser Hauptsitz hier am United Nations Plaza ist bereits mit einer gewissen historischen Patina überzogen, doch dort werden Sie das moderne Gesicht der UN kennen lernen. Sie werden eine dreidimensionale Animation erleben, die Ihnen alles Wesentliche zeigt, was Sie nach Ihrer Ankunft in Ihrem Zielgebiet erwarten wird.“

„In der Tat haftet den Räumen hier nach rund 70 Jahren bereits etwas Historisches an. Die Architektur dieses Saales hat in meinen Augen fast etwas Kultisches oder Religiöses an sich…“

Mo lachte und wies dabei zu dem Platz des Präsidenten der UN-Generalversammlung, der ihn bereits kurz nach dem Betreten des Saales an einen Altar erinnert hatte.

„In vielen großen Ideen ist erheblich mehr enthalten, als man bei alltäglicher Betrachtung auf Anhieb erkennen kann“, fiel Lozano mit einem enigmatischen Lächeln dazu ein. Der vieldeutig klingende Satz blieb unkommentiert stehen, da Goldsworthy nach einem schnellen Blick auf seine Uhr Aufbruchsstimmung verbreitete.

„Auf Mr. Lozano und mich wartet ein Meeting im Sekretariatshochhaus. Wir wollten uns nur kurz versichern, dass die Teilnehmer der Arbeitsgruppe zu ihrem ersten Treffen vollzählig erschienen sind. Wir werden uns vor Ihrer Abreise noch einige Male begegnen. Die Vorbereitung wird ja noch etwa 10 Tage in Anspruch nehmen und ich selber werde nächste Woche vor Ihnen allen einen Vortrag über die UN-RN halten.“

Als sich die Beiden daraufhin bereits abwenden wollten, schob Goldsworthy noch hinterher:

„Haben Sie sich eigentlich schon mit Miss Merizadi unterhalten?“

Der Klang seiner Stimme und sein Lächeln signalisierte Mo genau, wie sehr in dieser Frage eine besondere Bedeutung lag.

„Ja, warum?“, entgegnete er mit einem forschendem Blick.

„Ach nur so, ich wollte es nur wissen. Sofia ist eine wunderbare Frau. Sie leistet beim Treuhandrat eine fabelhafte Arbeit. Ich arbeitete früher schon einmal in Genf mit ihr zusammen. Sie ist sehr ehrgeizig und engagiert, was auch erklärt, warum sie sich vorübergehend für die Arbeit als verdeckte Ermittlerin beworben hat. Ihr Vater war im Iran ein bekannter Atomwissenschaftler, der in die USA auswanderte. Ihre Mutter stammt aus Syrien, weswegen sie sowohl persisch als auch arabisch spricht. Das sind natürlich die idealsten Voraussetzungen für den Job.

Sie ließen durchblicken, Sie hätten einige Spanisch- und Französischkenntnisse, Dr. Morris? Ich denke, drei Sprachen dürften insgesamt mehr als genügen, um im Flüchtlingsstaat zurechtzukommen.“

Goldsworthy und sein hochrangiger Begleiter warteten eine Antwort hierauf nicht mehr ab und ließen ihn mit einem letzten Gruß allein. Mo stellte zufrieden fest, dass Mayfield seine Ausführungen über den großen Kuppelsaal mittlerweile beendet hatte und im Begriff war, die Gruppe in Richtung des Ausgangs zu führen.

Als sie schließlich wieder in das Foyer des Besucherzentrums gelangt waren, wurde ihnen der Beginn der Mittagspause verkündet und sie stiegen die Treppe zur Cafeteria hoch. Bei ihrem Betreten wurde Mo sofort von den hohen Panoramascheiben angezogen, die direkt auf den East River hinauswiesen. Er schaute versonnen über das Sonnen beschienene Wasser zu einigen Grünflächen am gegenüberliegenden Ufer hinüber und bemerkte dabei nicht, wie sich ihm nach einiger Zeit Sofia Merizadi von hinten näherte. Erst als sie ihn an der Schulter berührte, wurde er aus seinen Gedanken aufgeschreckt.

„Ah, da sind Sie ja schon wieder! Sie haben es wohl auf mich abgesehen!“, scherzte er mit einem breiten Grinsen, um sich nicht anmerken zu lassen, wie sehr er ihre Gesellschaft insgeheim vermisst hatte.

„Der Grund, warum ich Ihre Nähe suche, liegt für fast jeden hier auf der Hand, nur Sie haben ihn noch nicht begriffen!“

Bevor er seine Vermutung, dass zwischen Merizadi und ihm eine Zusammenarbeit vorgesehen war, offen aussprechen konnte, kam sie ihm mit einer erstaunlichen, alles auf den Punkt bringenden Feststellung zuvor:

„Es ist ganz einfach, Dr. Morris: Ich bin Ihre zukünftige Frau!“

Im Gegensatz zu seiner bisherigen Schwerfälligkeit, die an das Versagen seiner berühmten Intuition grenzte, hatte er den gesamten Sinn der Aussage innerhalb einer Millisekunde erfasst. Hätte er es nicht getan, hätte er sie für verrückt halten müssen. Er musterte mit anerkennender Miene ihre äußerst ansprechende Erscheinung von oben bis unten und hätte dabei fast irgendeine anzügliche Bemerkung gemacht. Er unterließ es natürlich, da die schöne Feministin höchstwahrscheinlich mit besonderer Empfindlichkeit auf männliche Anzüglichkeiten reagierte.

„Sie meinen, der Plan ist, uns als Ehepaar in die UN-RN einreisen zu lassen? Oder soll das hier etwa ein etwas voreiliger Heiratsantrag sein? Ich bin überzeugter Junggeselle und möchte meine Prinzipien nicht aufgeben, nur weil Sie zufällig sehr gut aussehen.“

Sie bewies Humor und reagierte mit einem Lachen darauf. Danach wartete allerdings sofort eine kalte Dusche auf ihn, indem sie ihn von vornherein gründlich in die Schranken wies.

„Sie wurden mir als ein Profi beschrieben, Dr. Morris. Ein Mann mit Fähigkeiten, Bildung und Prinzipien. Humor haben Sie angeblich auch. Ich erwarte von Ihnen, die Umstände nicht auszunutzen und mir die üblichen frivolen Männerwitze zu ersparen!“

Er war schlau genug, darauf lieber nichts mehr zu erwidern, und schaute sich in der modern eingerichteten Cafeteria um. Die Übrigen der Gruppe hatten sich zu zweit an den kleinen Tischen zusammengefunden und erst bei dieser Beobachtung fiel es ihm endlich wie Schuppen von den Augen: All diese Zweierpärchen waren absichtlich einander zugewiesen worden und bestanden aus je einer Frau und einem Mann.

Merizadi schob ihn am Ellenbogen zu einem Platz in der Nähe der großen Panoramascheibe und meinte dabei:

„Ich denke, es ist nicht ungewöhnlich, wenn Ehepaare zusammen Mittagessen, oder? Wir sollten uns so schnell wie möglich an die Rolle gewöhnen, die wir zu spielen haben. Das ist eine offizielle Forderung an uns. Dazu gehört natürlich auch, uns beim Vornamen zu nennen. Heute können wir von mir aus noch davon absehen. Es war nicht meine persönliche Idee, dass uns beide das Schicksal auf diese Weise zusammenführt. Aber es hätte ja durchaus auch schlimmer kommen können…“

Sie deutete mit einem vielsagenden Lächeln zu einem der Nachbartische, und als er sich umwendete, schreckte er instinktiv zurück. Er blickte direkt in das Gesicht einer sehr unansehnlichen Frau, die ihm bereits während der Führung immer wieder aufgefallen war. Er musste an Goldsworthy denken. Er hätte ihn früh genug über alles aufklären können, aber er hatte sich offenbar einen Spaß daraus gemacht, ihn vor der Unterzeichnung des Vertrages über gewisse Details in Unkenntnis zu lassen. Das spezielle Rollenspiel, das ihm der Auftrag auferlegte, versprach an der Seite der schönen Feministin genauso reizvoll wie kompliziert zu werden und so stellte er sich auf anstrengende Wochen ein.

Er erhob sich, um sich etwas zu Essen zu holen, und als er sich bereits ein paar Meter entfernt hatte, hielt er plötzlich mit einem hörbaren Seufzen inne und kehrte an den Tisch zurück.

„Darf ich dir etwas mitbringen?“, fragte er mit einer betonten, ironischen Höflichkeit, die seine Lernwilligkeit bezüglich seiner neuen Rolle als braver und aufmerksamer Ehemann zum Ausdruck bringen sollte.

„Uns bleiben genau zehn Tage Zeit, Ihnen in einem Crash-Kurs Manieren beizubringen und Ihnen Ihren Junggesellen-Egoismus auszutreiben. Ich hätte gern einen Kaffee und ein Käsesandwich, mehr nicht.“

Die trockene Ironie, die aus ihren Worten sprach, rief als Antwort ein gequältes Lächeln bei ihm hervor. Als er nach einiger Zeit das Gewünschte an den Tisch brachte, setzte sie ohne weitere Umschweife dazu an, ihn über das Bevorstehende näher aufzuklären.

„Sie wissen ja, wie es in etwa weitergeht. Wir werden eine Reihe von Vorbereitungsseminaren absolvieren, bevor unsere Mission starten kann.

Wir reisen in den Teil der UN-RN, der als ihr Hauptzentrum gilt und mitten im Herzen Europas in einem Dreiländereck liegt. Das Gebiet befindet sich im Gebiet des Aostatals im nordwestlichen Zipfel Italiens in unmittelbarer Nähe zur Schweiz und zu Frankreich. Die Staatsgrenzen verlaufen über die Gipfel der Alpen. Die Nähe zu Genf mit seinen zahlreichen UN-Institutionen ist selbstverständlich kein Zufall. Die Luftlinie beträgt nur rund 50 Meilen. Aus diesem Grund wurde dieses Gebiet von Anfang an als Hauptverwaltungszentrum der UN-RN angelegt. Es ist etwa 22 Quadratkilometer groß und 80 Prozent seiner Fläche bestehen aus einem Ort, der quasi als die Hauptstadt der UN-RN gilt. In ihr wohnen bis zu maximal 25 000 Flüchtlinge und 800 UN-Mitarbeiter. Sie wurde UN-City getauft, woraus sich im täglichen Sprachgebrauch später der prägnante Spitzname Unity entwickelt hat. Diese Name wird sowohl für den Ort wie für das ganze Gebiet verwendet.“

Unity…“, wiederholte er nachdenklich. „Klingt interessant und viel versprechend, meine ich! Ich nehme an, der Name soll an die Einheit aller Menschen und Nationen erinnern?“

„Natürlich, eine mehr als nahe liegende Interpretation… In der Zeit, als ich noch in Genf tätig war, war ich häufig im Auftrag des UNHCR dort, um mir ein Bild über die Situation der Flüchtlingsfrauen vor Ort zu machen. Damals befand sich das Gebiet gerade im Aufbau, doch seitdem hat sich viel verändert.

Sie haben ja in den nächsten Tagen noch genug Zeit, sich selber alle nötigen Informationen zusammenzusuchen. Wenn alles nach Plan verläuft, werden wir in etwa 14 Tagen Greg McGregor, den Leiter von Unity, in Italien treffen. Er ist Engländer und ist schon lange für die UN tätig. Ich kenne ihn von früher und er wird uns persönlich instruieren.“

Sie hielt inne und schaute sich um. Einige der Anderen waren bereits mit dem Essen fertig und verließen die Cafeteria, da der Termin für das Vorbereitungsseminar auf sie wartete. Dann meinte sie in abschließendem Ton:

„Laut Plan werden wir also als Flüchtlingspaar nach Unity reisen. McGregor hilft uns dabei und versorgt uns mit den nötigen Papieren. Der Auftrag scheint auf den ersten Blick nicht gefährlich zu sein, aber noch weiß keiner, was uns alles erwarten wird. Im besten Fall wird es nur ein kleines Abenteuer sein, das ein erfahrener Mann wie Sie auf der linken Pobacke absitzen kann.“

Mo lachte und wurde plötzlich von einer spontanen und sehr unvernünftigen Emotion ergriffen. Er nahm Merizadis zierliche Hand, zog sie in Richtung seines Mundes und deutete ganz altmodisch einen Handkuss an. Dabei setzte er eine unterwürfig wirkende, komische Miene auf und meinte mit einem ironischen Grinsen:

„Kleines Abenteuer? Ich bin sicher, an Ihrer Seite werde ich jede Art von Abenteuer bestehen, Sofia…“

Sie wollte protestieren, ließ es dann aber sein und verdrehte bloß kopfschüttelnd die Augen. Der Mann, der auch unter dem Spitznamen „Inspector Mo“ bekannt war, hatte manchmal einen ziemlich schrägen Charme, aber man konnte ihm einfach nicht böse sein…

Mo Morris und der Staat der Flüchtlinge

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