Читать книгу Der Schlüssel zu unserem Leben - Benita Jochim - Страница 13

Kapitel 3

Оглавление

Familie ist, wo Leben beginnt und Liebe niemals endet.

340 Tage zuvor ...

Fast ein Monat war inzwischen vergangen, seit Ezra ins Krankenhaus eingeliefert worden war. Und in diesen vierundzwanzig Tagen war viel passiert. Mum und Dad waren nach Hause gefahren, weshalb ich mich nun allein um ihn kümmerte. Deswegen zog ich für die nächsten paar Wochen zu ihm in sein Haus.

Ich stand in der Küche und machte Spiegelei. Seit Ezra vom Krankenhaus zurück war, wurde er immer verschlossener und ich stiller. Wir redeten kaum noch ein Wort miteinander, sondern schauten uns nur stumm an.

Der Arzt hatte gemeint, dass Ezra nicht mehr viel Zeit bliebe. Das hieß im Klartext: weniger als ein Jahr. Es hatte ihm den Boden unter den Füßen weggerissen und so kamen wir trotz aller Bemühungen nicht mehr an ihn heran. Seine Augen waren leer und es schien, als ob er in seiner eigenen kleinen Welt wäre, sodass nur noch seine Hülle übrig blieb.

Als Mum und Dad gegangen waren, hatten sie mich gebeten, stark zu bleiben und einfach für ihn da zu sein. Ich wusste, dass er es nicht mit Absicht machte, aber es tat weh, wenn er mich zurückwies oder einfach ignorierte, wenn ich etwas zu ihm sagte. Es tat verdammt weh. Ich hatte mich anfangs an die Hoffnung geklammert, dass es sich ändern würde, wenn ich ihm nur oft genug bewies, dass er nicht alleine war. Doch von Tag zu Tag wurde die Hoffnung kleiner und irgendwann blieb nur noch ein kleiner Fleck auf meiner Seele übrig, der daran glaubte.

Ich wusste, dass er sterben würde, und ihm etwas anderes einzureden, wäre eine glatte Lüge gewesen. Wir Menschen redeten uns den Tod immer schön, denn wir glaubten bis ans Ende daran, dass vielleicht doch noch ein Wunder geschehen könnte. Aber das waren die Dinge, die uns am Ende noch trauriger machten, wenn eine geliebte Person starb.

Ich hatte mir immer vorgenommen, dass ich das nicht tun wollte. Doch nun stand ich an einem tiefen Abgrund und wusste, dass der Tod über das Leben siegte, wollte es jedoch nicht einsehen. Tief in meinem Kopf wusste ich, dass es passieren würde, aber ich wollte es nicht einsehen. Wieso Ezra? Wieso musste ausgerechnet er sterben? Das war die Frage, die mich quälte und für die ich so fieberhaft eine Antwort erhalten wollte, dass ich beinahe selbst daran zerbrach.

Es musste sich etwas ändern. Ezra hatte noch fast ein Jahr zu leben und wir saßen hier herum und versanken in Selbstmitleid. Die Zeit war das Wichtigste, was der Mensch neben Freunden und der Familie besaß. Doch erst jetzt wurde mir klar, dass man das Leben auskosten sollte, denn die Zeit rieselte wie Sand zwischen unseren Fingern hindurch, und wenn er einmal aufgebraucht war, kam er nie wieder zurück. Wenn das letzte Sandkorn in die Vergangenheit hinabfiel, war es an der Zeit zu gehen. Wohin man ging oder woher man kam, wusste ich nicht, doch war das Leben auf der Erde beendet, musste man sich ein neues Ziel, ein neues Dasein suchen, wenn es so etwas wie ein Leben nach dem Tod gab.

Ich war nicht religiös, glaubte nicht einmal an Gott, aber Ezra hatte noch Zeit. Zeit, all die Dinge zu tun, die er einmal tun wollte, und dafür war ich unheimlich dankbar.

Als Kind war Ezra ein Tagträumer gewesen und hatte sich gedanklich seine eigene Welt erschaffen. Wenn ich jetzt sah, wie er auf der Couch saß und aus dem Fenster starrte, glaubte ich, dass er noch immer der kleine Junge war, der in seiner eigenen Welt lebte.

Ezra hatte immer gesagt, dass es in der Welt schön sei. Es gäbe Fabelwesen, die Bäume bestünden aus Zuckerguss und die Wege wären mit Puderzucker bedeckt. Damals fand ich es total ulkig, aber er sagte immer, dass er, wenn er eines Tages sterben würde, durch eine Sternschnuppe in seine Welt reisen und für immer dort bleiben würde. Jeden Tag sprach er von seiner eigenen Welt und irgendwann fand ich sogar Gefallen daran.

Wir konnten nicht jeden Tag rumsitzen und abwarten. Ich konnte nicht länger mit ansehen, wie Ezra weiter und weiter abrutschte. Damals als er zwölf und ich zehn war, hatten wir eine Liste geschrieben, was wir alles in unserem Leben machen wollten. Ich überlegte, dass die noch irgendwo sein musste.

„Hast du heute schon deine Medikamente genommen?“, brach ich die Stille, als ich das etwas zu lang gebratene Ei auf einen Teller legte und es auf den Tisch stellte.

Er brummte ein „Nein“, woraufhin ich sofort ein Glas Wasser plus die Medikamente herbeiholte.

Ich seufzte, dann lief ich in den Gang hinaus, nahm mir den „Dachbodenstab“, wie ich ihn immer nannte, und zog damit die Luke samt Treppe herunter. Die alten Umzugskisten hatten wir auf dem Speicher verstaut. Ich stieg die klapprigen und knarzenden Stufen empor. Zwischen der Treppe und dem Speicherboden war genau so viel Platz, dass mein Fuß hineinpasste und so stand ich nun breitbeinig da. Den einen Fuß auf dem Speicherboden, den anderen noch auf der Treppe. Ziemlich umständlich und nach einigen Verrenkungen hatte ich mich schließlich mit beiden Beinen auf den Dachboden gehangelt.

Die Sachen hier oben waren alt und anhand der Staubschicht konnte man erkennen, dass sich schon länger niemand mehr für sie interessiert hatte. Dicke schwarze Spinnen hatten es sich in den Ecken zwischen Dach und dem Balken bequem gemacht und ihre Netze gesponnen. Angewidert verzog ich das Gesicht. Ich hasste Spinnen.

Ich steuerte nach rechts und ging vor einem Stapel alter Kartons in die Knie. Der erste, den ich aufklappte, war, wie nicht anders zu erwarten, leer. Ich kämpfte mich durch alle zweiundzwanzig Kisten, aber nirgends konnte ich die Liste finden. Ob wir sie doch weggeschmissen hatten?

Als ich mich aus der Hocke hochhievte, entdeckte ich auf der anderen Seite eine alte Kiste, die ich zuvor nicht bemerkt hatte. Überhaupt hatte ich sie noch nie gesehen. Neugierig ging ich näher heran und öffnete die Box. Darin lag allerlei Zeug. Ich wühlte in dem Chaos aus Spielzeug und anderen Sachen herum, bis ich eine Spieluhr fand. Ich holte sie heraus und fuhr mit dem Finger die Konturen der Tänzerin nach, die auf einer Art Sockel stand und den rechten Arm im Bogen über ihren Kopf hielt. Das Podest, auf dem sie thronte, war viereckig, hatte hinten eine Schraube, mit der man die Tänzerin aufziehen konnte, und vorne einen kleinen, runden Knauf. Vorsichtig zog ich mit Daumen und Zeigefinger an dem Knauf und eine kleine Schublade kam zum Vorschein. Darin lag ein zusammengefalteter Zettel.

Ich musste lächeln. „Hab ich dich gefunden“, dachte ich triumphierend. An die Spieluhr konnte ich mich jedoch nicht erinnern.

Plötzlich hörte ich das Knarzen der Treppe und Ezras Kopf erschien auf dem Dachboden. „Was machst du da?“

„Ich suche unsere Liste“, antwortete ich schlicht.

„Die hab ich doch schon längst weggeschmissen“, erwiderte er ungehalten.

„Nein, eben nicht“, antwortete ich.

Erstaunt kletterte er zu mir auf den Speicher und kniete sich neben mich. „Ich hab die Spieluhr von einem Verkäufer in Italien bekommen“, begann er zu erzählen, als er sie in meinen Händen bemerkt hatte. „Er hat sie mir geschenkt, weil ich sie mir nicht leisten konnte. Er hat mich damals gefragt, ob mir die Spieluhr gefiele, und ich habe natürlich genickt. Ich berichtete ihm, dass es mein Traum wäre, zusammen mit meiner kleinen Schwester Tänzer zu werden. Er lächelte mich an und sagte, dass es wichtig sei, an seine Träume zu glauben. Und damit ich mich noch in zwanzig Jahren daran erinnerte, was für einen Traum ich hatte, schenkte er mir die Spieluhr.“

Ich musste lächeln. Das hatte er mir noch nie erzählt.

„Und siehst du.“ Er drehte die Spieluhr um, sodass eine Gravur auf der Rückseite erschien.

Träume nicht dein Leben, sondern lebe deinen Traum.

Und darunter stand: Nur wer den Mut hat zu träumen, hat auch die Kraft zu kämpfen.

„Sie ist wunderschön“, antwortete ich.

„Ja, das ist sie.“ Endlich hörte ich meinen Bruder wieder einmal richtig sprechen, schaute nicht in seine leeren Augen, denn diese waren erfüllt von Wärme.

Ich legte meine Hand in seine. „Du bist nicht alleine.“

Er murmelte leise: „Ich weiß“, und betrachtete die Spieluhr. „Ich wollte dich nicht von mir stoßen, aber ich habe gedacht, wenn wir zwischen uns so etwas wie eine Distanz aufbauen, tut es dir nicht so weh, wenn ich einmal nicht mehr da bin.“

Ich legte meinen Kopf schief. „Ach, Ezra, du bist mein Bruder und egal, welche Beziehung wir beide zueinander hätten, ich wäre immer traurig und würde weinen.“ Er presste die Lippen aufeinander. „Komm, lass uns schauen, was auf der Liste steht“, schlug ich vor.

Er nickte, zusammen verließen wir den Dachboden und setzten uns, nachdem wir die Luke wieder gut verschlossen hatten, aufs Sofa. Mit etwas zitternden Fingern faltete Ezra das Stück Papier auseinander. Zum Vorschein kam eine an einigen Stellen schon ziemlich verblasste, schnörkelige Schrift.

„Mein Gott, hatte ich damals eine hässliche Schrift“, kommentierte er und ich musste kichern.

Das Blatt wies einige Risse auf, Glitzersticker klebten auf dem Papier und an den Rändern färbte es sich schon leicht braun. Manche Buchstaben waren durch den Einfluss von Wasser verlaufen und einiges konnte man nur schwer entziffern. Jedoch enträtselten wir in kurzer Zeit, was die Worte heißen sollten.

Unsere Ziele:

1. E: zum Ritter geschlagen werden

2. E und H: armen Menschen helfen

3. E und H: Himmelslaternen steigen lassen

4. E und H: eine ganze Packung Eis essen

5. E: mit den Sternen tanzen

„Zum Ritter geschlagen werden? Was ist das denn bitte für ein Ziel?“, fragte ich.

Er zuckte ratlos mit den Schultern.

„Wie soll ich dich denn bitte zum Ritter schlagen? Ich hab doch kein Schwert.“

„Wie wäre es mit dem Küchenmesser?“, schlug er vor.

„Ja, ganz tolle Idee. Weißt du, um wie viel länger ein Schwert im Vergleich zu einem einfachen Küchenmesser ist? Außerdem, wenn du unbedingt in zwei Hälften geteilt werden willst, dann bitte.“

Mein Bruder schmunzelte. „Wie wäre es mit einem Degen?“, fragte er nach einer Weile des Schweigens.

Ich schaute ihn neugierig an. „Du willst die Liste wirklich abarbeiten?“ Er nickte und ich räumte den leeren Teller in die Spülmaschine. „Reff hat uns einen Monat Zeit gegeben, um uns in unsere Rolle einzuleben. Das hat mir zumindest Jeremy so gesagt. Wie wäre es, wenn wir ins Theater gehen und dort ein wenig proben? Die anderen werden bestimmt auch da sein.“

„Ich glaube, ich bleibe lieber hier. Ich fühle mich noch ein wenig schwach.“

„Okay, geh aber trotzdem nachher ein wenig an die frische Luft. Das wird dir guttun“, bat ich ihn, woraufhin er pflichtschuldig nickte und ich mich allein auf den Weg ins Theater machte.

Wenig später betrat ich den Saal und merkte, dass trotz der langen Übungszeit einige da waren.

Kayla kam sogleich auf mich zugestürmt und umarmte mich.

„Hey, na, Süße, wie geht es dir?“, fragte sie mich mitfühlend und ich erzählte kurz und knapp, was in den letzten Tagen geschehen war.

„Und du willst das mit der Liste wirklich durchziehen?“, hakte sie skeptisch nach.

„Wieso denn nicht? Seit Langem interessiert er sich wieder für etwas und die Liste ist sein letztes großes Ziel. Wenn wir es nicht machen, wird er vielleicht irgendwann depressiv und das will ich nicht.“

Sie nickte langsam. „Okay, und wie können Jeremy und ich helfen?“

„Wir brauchen einen Degen. Auf der Liste steht, dass Ezra zum Ritter geschlagen werden will. Hat jemand von euch so etwas?“

Kayla verneinte und die Idee, dass wir in einen Fechtverein eintreten sollten, um uns dort einen Degen zu borgen, war vermutlich nicht umsetzbar. Also ließen wir dieses Ziel erst einmal so stehen und widmeten uns stattdessen dem, weswegen ich hergekommen war. Wir gingen auf die Bühne und verschwanden hinter den Vorhängen, um uns auf den Weg zu den Probenräumen zu machen. Es gab einen großen Saal, den wir uns unglücklicherweise mit den anderen teilen mussten. Aus Platzmangel.

Ein schwarzhaariger Junge kam auf mich zu und schenkte mir, während er vorbeiging, ein Lächeln. Ich schaute ihm nach.

„Wer war das?“, fragte ich.

Kayla sah mich grinsend an. „Das war Tristan Hakonson. Kommt aus Irland und tanzt ebenfalls Ballett. Ist er nicht total sexy?“

Ich zuckte mit den Schultern. Schlecht sah er definitiv nicht aus.

Ich übte mein gesamtes Stück zwei Stunden lang, bis meine Füße schmerzten und Kayla und ich beschlossen, für heute Schluss zu machen.

„Wollen wir noch einen Kaffee trinken gehen?“, fragte sie mich, als wir an der Bühne anlangten.

„Klar, warum nicht?“, antwortete ich.

Als ich den Vorhang zur Seite schob, entdeckte ich links in der Ecke Tristan. Ich starrte ihn an. Kayla hatte recht, er war wirklich sexy.

„Starr nicht so, sondern rede mit ihm!“, forderte mich Kayla auf, zwinkerte mir zu und schubste mich ein Stück nach vorne.

Statt eines „Hallo, ich bin Heaven, und wie ich gehört habe, heißt du Tristan. Wie lange tanzt du denn schon?“ gaffte ich ihn bloß weiterhin an. Als sein Blick an mir hängen blieb, schüttelte er mit hochgezogenen Augenbrauen den Kopf.

Ich blinzelte ein paarmal. Super hinbekommen! Ich hatte ihn gerade das erste Mal gesehen und ihm wahrscheinlich schon drei Gründe gegeben, warum er nichts mit mir zu tun haben wolle.

„Wow, Heaven, das ist neuer Rekord“, tadelte ich mich selbst. Doch verübeln konnte ich es ihm nicht. Ich hätte wohl genauso reagiert, wenn mich jemand anglotzte wie Frankensteins Monster. Toll.

Währenddessen stand Kayla an der Treppe und krümmte sich vor Lachen. „Also, Heaven, unter einer Konversation verstehe ich eigentlich etwas anderes“, meinte sie und rang nach Luft, um sofort erneut in schallendes Gelächter auszubrechen.

Mir war der Auftritt selbst peinlich. „Du bist eine tolle Freundin“, brummte ich missmutig. „Hör auf zu lachen! Das ist nicht witzig. Außerdem war es gar nicht sooo schlimm.“

„Nee, da hast du recht. Ich hätte zuerst einmal die Polizei angerufen, denn du sahst echt ziemlich bekifft aus.“

Ich verdrehte die Augen. Sehr nett. Wirklich sehr nett.

„Okay, weißt du was? Während du dich hier weiter kaputtlachst, gehe ich nach Hause.“ Damit packte ich meine Sachen und machte mich auf den Weg.

„Und unser Kaffee?“, rief mir Kayla hinterher.

Es war nicht besonders nett von mir, meine beste Freundin einfach stehen zu lassen, zumal wir eigentlich noch etwas zusammen trinken wollten, aber mir war die Lust auf einen Kaffee vergangen.

„Sorry“, war meine beleidigte Antwort darauf. Kayla sah mir etwas verletzt hinterher und prompt meldete sich mein schlechtes Gewissen. Egal, ich würde mich später bei ihr entschuldigen.

Als ich bei Ezra ankam, saß er auf dem Sofa und blätterte in der Tageszeitung.

„Hallo Bruderherz“, begrüßte ich ihn.

„Hi Prinzessin“, antwortete er und lugte über den Rand der Zeitung zu mir. „Wie war die Probe?“

„Ganz gut. Warst du schon draußen?“ Sein Kopf verschwand wieder hinter dem Zeitungspapier und ich wusste, dass er noch nicht an der Luft gewesen war. Ungestüm riss ich ihm seine Lektüre weg und stemmte meine Hände in die Hüften. „Dann gehen wir jetzt raus“, entschied ich.

„Ich war draußen“, versuchte er sich zu verteidigen.

„Ist klar. Aber warte ... ich hab eine bessere Idee. Wie wäre es, wenn wir heute Abend ausgehen würden? Und morgen fangen wir dann mit der Liste an.“

„Meinetwegen“, brummte er beleidigt.

Ich lächelte triumphierend.

Kurze Zeit später hatte ich mich mit Kayla und Jeremy in einem Pub verabredet. Ich setzte mich neben meinen Bruder und schaute ihn an. Als er seinen Blick schließlich von seinem Mineralwasser abwandte und mir seine Aufmerksamkeit schenkte, lächelte ich ihn aufmuntern an. „Ich steh immer hinter dir, und wenn wir zusammenhalten, können wir alles schaffen.“

Seine Mundwinkel zogen sich nach oben. „Ich weiß. Und dafür bin ich dir unendlich dankbar. Aber ... vielleicht will ich gar nicht mehr so weitermachen wie bisher. Alles war immer so perfekt und nun stimmt nichts mehr. Es ist so viel passiert. Ich kann nicht mehr. Ich weiß, dass wir im Krankenhaus schon darüber gesprochen haben, aber gerade fühle ich mich einfach nur leer. Einsam. Ich sehe keinen Sinn im Leben.“

„Ach, Bruderherz. Wenn man todkrank ist, gibt es immer wieder Zeitpunkte, an denen man nicht mehr kämpfen will oder gar am liebsten schon tot wäre. Aber du hast noch ein ganzes Jahr. Ein ganzes Jahr voller Liebe und Freude liegt noch vor dir. Du hast Mum, Dad, Kayla, Jeremy und mich. Du wirst niemals alleine sein. Außerdem gibt es immer irgendetwas, wofür man leben oder kämpfen kann.“ Ich fasste ihm ins Haar und zog daran, wie ich es als kleines Kind immer getan hatte. Ein Schmunzeln huschte über seine Lippen.

Das Gespräch war beendet, trotzdem saßen wir noch eine Weile so da und schauten uns stumm an. Manchmal sagten Blicke einfach mehr als tausend Worte.

Pünktlich standen Ezra und ich vor dem Eingang des Pubs und warteten auf die Spätzünder. Die Zeit schien nicht der beste Freund der beiden zu sein. Fast immer kamen sie zu spät. Nach zehn Minuten hörte ich das schnelle Klackern von Stöckelschuhen auf dem Asphalt und wusste sofort, dass es zu Kayla gehörte. Eilig trippelte sie um die Ecke. Die Haare fielen ihr wirr ins Gesicht und ihre Mascara war an einem Auge ein wenig verwischt. Ihre Jacke hatte sie sich über den Arm gelegt, und als kurz darauf Jeremy in meinem Blickfeld auftauchte, stellte ich fest, dass er ebenfalls einen gehetzten Eindruck machte.

„Tut mir so leid, Süße. Wir hatten vor, pünktlich zu kommen.“ Sie umarmte mich flüchtig und hauchte Ezra Küsse auf beide Wangen. „Wie geht es dir?“, fragte sie ihn. Ich war in diesem Moment uninteressant.

„Besser. Danke der Nachfrage.“

Sie lächelte und wandte sich an mich, so als ob sie erwartete, etwas Bestimmtes von mir zu hören.

„Es tut mir leid, dass ich vorhin so blöd zu dir war. Es war nicht böse gemeint“, verkündete ich artig.

Kayla winkte ab. „Ach, Schwamm drüber.“

Jeremy umarmte zuerst mich und dann meinen Bruder.

„Besser spät als nie“, meinte Ezra beiläufig, während wir das Pub betraten.

Kayla stimmte ihm zu und sofort herrschte eine wohlige Atmosphäre. Wir ließen uns auf vier freien Stühlen direkt an der Bar nieder und meine beste Freundin begann sofort, mit Ezra über irgendetwas zu diskutieren. Es ging um Politik. Nicht gerade mein Spezialgebiet, weswegen ich mich in der Zwischenzeit mit Jeremy unterhielt.

„Kayla hat mir von der Liste erzählt, die du gefunden hast. Ich wollte dir nur sagen, dass wir euch gerne zur Verfügung stehen, wenn ihr Hilfe benötigen solltet.“ Ich dankte ihm aufrichtig.

Ezra bestellte sich auf meine Anordnung hin ein Wasser und ich mir eine Cola. Kayla war für etwas Härteres und orderte einen Caipirinha, Jeremy hingegen wollte einen Apfelsaft. Die Zeit verging wie im Flug und nach fünf weiteren Wodkagläsern seitens Kayla beschlossen wir, für heute Schluss zu machen. Es kam mir wie eine Erlösung vor, die frische Nachtluft einzuatmen, nachdem im Pub der Geruch von Alkohol und Schweiß alles verpestet hatte. Auch Ezra fühlte sich befreiter.

Kayla hielt sich an Jeremy fest und lachte wegen eines vorbeifahrenden Autos. „Hast du das gesehen? Das war hinten am Kofferraum total kaputt.“ Sie lachte und keiner verstand, was daran so lustig sein sollte.

„Ich wünsch dir noch viel Spaß“, meinte Ezra zu Jeremy und deutete mit einer Kopfbewegung auf die immer noch kichernde Kayla.

„Danke. Das wird morgen bestimmt einen Kater geben.“ Jeremy packte die betrunkene Freundin und führte sie vorsichtig zu seinem Auto, welches um die Ecke parkte.

Als sie am Wagen ankamen, fing Kayla lautstark an zu singen. Schiefe Töne erklangen und auch der Text war an einigen Stellen falsch.

„Schade, dass ich mein Handy nicht dabeihabe“, sagte ich zu Ezra gewandt, der nur lachend den Kopf schüttelte.

Jeremy ließ Kayla auf den Beifahrersitz fallen und schnallte sie unter hohem Kraftaufwand an. Fröhlich winkte sie derweil den vorbeilaufenden Passanten zu, die mit gerunzelter Stirn ihr Tempo steigerten, um schnellstmöglich an ihr Ziel zu gelangen. Während Kayla unkontrolliert mit ihren Händen herumfuchtelte, bekam Jeremy des Öfteren einen Schlag ins Gesicht ab.

Schließlich schwang sie ihre Arme im Takt der Musik, die aus dem Radio ertönte, ließ ihren Kopf nach vorne und hinten wippen und schrie durch die offene Autotür: „Queen Elizabeth lebe hoch! Ich liebe dich.“

Peinlich berührt bemühte sich Jeremy, die Tür zuzuschlagen, und setzte sich anschließend erleichtert hinters Lenkrad. „Macht’s gut, ihr beiden. Ich melde mich morgen bei euch.“ Damit ließ er seinen Wagen aufheulen und brauste mit erhöhter Geschwindigkeit die Straße entlang.

„Tja, dann machen wir uns wohl auch mal auf den Weg nach Hause“, sagte ich immer noch belustigt und Ezra nickte.

Schweigsam bogen wir in eine Nebengasse ein und strebten Ezras Heim zu. Pfützen hatten sich an manchen Stellen auf dem Asphalt gesammelt und wir versuchten, ihnen geschickt auszuweichen. Dunkle Schatten zogen sich an den Hauswänden entlang und ließen mich öfter einen achtsamen Blick nach hinten werfen. Ich gruselte mich immer davor, durch die spärlich beleuchteten Nebenstraßen Londons zu wandern. Man hatte meist das ungute Gefühl, beobachtet zu werden, und bildete sich ein, dass sich die Schatten an der Wand bewegten. Ezra meinte immer, ich wäre paranoid, jedoch lag es einfach daran, dass ich zu viele Krimis und Thriller las.

Ich schrie leise auf, als sich aus der Dunkelheit eine lumpige Gestalt auf uns zubewegte. Ezra stellte sich sofort schützend vor mich. Gebeugt humpelte die Person weiter ins Licht.

„Haben Sie etwas Geld?“ Die Lumpen hingen dreckig und mit Löchern übersät an dem verwahrlosten Mann. Sein Haar war verfilzt, der Bart lang und am Ansatz schon grau. Die Hände waren an den Fingerknöcheln aufgeschürft und unter den Fingernägeln hatte sich eine dicke schwarze Dreckschicht gebildet. „Bitte ... ich ... brauche Hilfe.“ Er kam hinkend auf uns zu und griff nach meinem Unterarm. Automatisch verzog ich angewidert das Gesicht.

„Lassen Sie sofort meine Schwester los oder ich rufe die Polizei“, forderte Ezra energisch. Seine Augen hatten sich verengt.

Der Mann ließ sich nicht beirren und sein Griff um mein Handgelenk verstärkte sich. Ezra wollte den obdachlosen Mann gerade zur Seite stoßen, als ich ihn an der Schulter zurückhielt.

„Warte. Weißt du noch, was auf unserer Liste stand?“ Er schaute mich verwirrt an. „Nummer zwei: armen Menschen helfen.“

Sein Blick hellte sich kurz auf, um sofort danach einer unverständlichen Miene Platz zu machen. „Heaven, das ist doch nicht dein Ernst, oder?“

„Doch, das ist es. Du hast selbst gesagt, dass du die Ziele auf der Liste erreichen möchtest.“

„Ja, schon, aber ...“

„Du wirst jetzt nicht kneifen, Ezra. Dieser Mann braucht Hilfe. Und wir können ihm helfen.“

Er gab sich geschlagen und wandte sich dem lumpigen Obdachlosen zu. „Also schön. Kommen Sie mit uns.“

„Oh, vielen, vielen Dank. Euch hat der Himmel geschickt.“

Dann machten wir uns endlich auf den Weg nach Hause. Der Mann hatte mich mittlerweile losgelassen und lief mit gebeugtem Rücken hinter uns her.

„Du bist schuld, wenn irgendetwas schiefläuft“, zischte mein Bruder mir zu und ich nickte lächelnd.

Wir hatten mit der ersten Aufgabe begonnen.

Der Schlüssel zu unserem Leben

Подняться наверх