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Kapitel 1

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Das Leben ist eine Reise.

Glück findet man auf dem Weg und nicht am Ziel.

(Monika Minder)

365 Tage zuvor ...

Es war Mai. Der Himmel war bedeckt von grauen Wolken, die tief über den Dächern der Londoner Innenstadt ihre Bahnen zogen und kein Stückchen blauen Himmel preisgaben. Die Straßen waren noch nass vom Regen der vergangenen Nacht und auch heute sah es so aus, als würde es wieder zu nieseln beginnen. Seit zwei Wochen ununterbrochen Regen.

Ich saß gerade am Esszimmertisch beim Frühstück, das aus einem Apfel und einem Orangensaft bestand, als mein Handy vibrierte. Ich schaute auf das Display, nahm es vom Tisch und drückte auf die grüne Taste.

„Guten Morgen, Bruderherz“, flötete ich ins Telefon.

„Morgen, Prinzessin“, ertönte es am anderen Ende der Leitung. „Du denkst bitte an unser Training heute Mittag“, erinnerte er mich.

Ich verdrehte die Augen. „Ezra, du erinnerst mich nun schon seit drei Tagen ständig daran. Ich werde es nicht vergessen.“

Ich hörte ein Seufzen. „Tut mir leid, aber das Training ist wichtig.“

Diesmal war ich diejenige, die aufstöhnte. „Du musst mir nicht sagen, dass das Training von Bedeutung ist. Schau du lieber, dass du diesmal pünktlich kommst“, neckte ich ihn.

„Ja, ja, schon klar“, gab er sich geschlagen. „Ich meine es doch nur gut.“

„Das versteh ich. Ich hab es mir schon groß im Kalender eingetragen und auch in mein Handy hab ich es eingespeichert. Also ist es nicht länger nötig, mich ständig daran zu erinnern“, erklärte ich ihm. Obwohl Ezra nur zwei Jahre älter als ich war, bedauerte ich es manchmal, seine kleine Schwester zu sein.

„Na gut, dann lass ich dich jetzt in Ruhe. Bis später und pass auf dich auf, Prinzessin“, verabschiedete er sich schließlich von mir.

„Mach ich. Du auch auf dich. Bis später und richte Mum und Dad schöne Grüße von mir aus.“

„Jap, das werde ich. Hab dich lieb.“ Nach diesen Worten war nur noch ein Tuten in der Leitung zu hören.

Ich legte das Handy beiseite und setzte mein Frühstück fort.

Die restliche Zeit, die mir nach dem Essen noch blieb, verbrachte ich damit, meine Wohnung ein bisschen aufzuräumen. Ich saugte im Wohnzimmer und wischte die Küche. In meinem Zimmer räumte ich die herumliegenden Bücher fein säuberlich ins Regal zurück und fing endlich mal an, die dreckige Wäsche zu waschen und sie danach zum Trocknen auf den Balkon zu hängen.

Ich mochte meine kleine Wohnung, die verborgen und unscheinbar in Westminster ihren Platz hatte. Mein Zimmer gefiel mir am besten. Die Möbel, die darin standen, waren schon sehr alt. Das Holz meines Schreibtisches war dunkel und glatt. Mein Bett knarzte immer, wenn sich jemand darauf niederließ. Bei meinem Schrank fehlte bereits eine Tür, woran ich nicht ganz unschuldig war, außerdem besaß ich eine kleine Kommode, die aus Buchen- oder Eichenholz bestand. So genau wusste ich es nie. Mein Vater erklärte mir zwar immer den Unterschied zwischen den einzelnen Hölzern, doch ich konnte ihn mir nicht merken. Die Tapete hatte eine fliederartige Farbe. Sie war über und über mit Zeichnungen bedeckt, was daran lag, dass mein Bruder hervorragend malen konnte und die Wand jedes Mal mit einem neuen Gemälde verzierte, wenn er bei mir zu Besuch war. Leider reichte der Platz mittlerweile nicht mehr und so musste nun auch die Tapete im Wohnzimmer herhalten.

Ich schaute auf die Uhr, die an der Wand über meiner Kommode hing, und stellte fest, dass ich mich langsam umziehen sollte. Ich entschied mich für ein eng anliegendes gelbes Top und eine graue Jogginghose. Danach schnappte ich mir meinen Mantel und mein Handy und stapfte zur Tür hinaus. Meinen Wohnungsschlüssel hatte ich nebenbei in meine Manteltasche gleiten lassen. Nun schloss ich meine Tür ab und folgte den Stufen, die zum Ausgang des Apartmenthauses führten. Dass meine Wohnung im vierten Stock lag, störte mich nicht im Geringsten.

Als ich aus der Tür ins Freie trat, umfing mich ein kalter Wind. Ich zog meinen Mantel noch enger um meinen Körper und schlug den Kragen nach oben. Das einzige Negative an London war das Wetter. Viel zu viel Regen und zu wenig Sonnenschein waren das Resultat, wenn man sich ein Leben in Englands Hauptstadt ausgesucht hatte. Hier kletterten die Temperaturen im Sommer nicht über 25 Grad. Es war ziemlich deprimierend, wenn man im Sommer mit einer Jacke auf der Terrasse sitzen musste, weil es sonst zu kalt war. Aber ich hatte mich daran gewöhnt, so wie ich mich an vieles gewöhnen musste, nachdem ich von Deutschland hierher gezogen war, um mir ein neues Leben als Tänzerin aufzubauen.

Ezras und meine Eltern waren im Moment für drei Wochen zu Besuch hier, was mich wunderte, denn sonst waren sie nie länger als ein paar Tage bei uns. Sie lebten in München und es war mir damals sehr schwergefallen fortzugehen, zumal meine beste Freundin immer noch dort wohnte. Aber ich hatte mich entschieden, eine Karriere als Tänzerin anzustreben, und da mein Bruder mein Partner war und schon einige Jahre vor mir nach London gezogen war, hatte ich mich dazu entschieden, ihm zu folgen.

Mein Bruder und ich verstanden uns wirklich gut. Selten gab es Streit zwischen uns, was aber auch daran lag, dass wir beide schon früh Verantwortung übernehmen mussten. Es passierte, als ich zwölf und mein Bruder vierzehn war. Wir waren dabei gewesen, unserem Haus einen neuen Anstrich zu verpassen. Jeder von uns hatte eine Hauswand zum Streichen bekommen. Meine Mutter hatte sich unsere Terrasse ausgesucht. Sie stand auf der Leiter und hatte schon einige Pinselstriche hinter sich, als der Hund der Nachbarn mit einer irren Geschwindigkeit um die Hausmauer gerannt kam und anfing zu bellen. Sie verlor daraufhin das Gleichgewicht und stürzte von der Leiter. Anfangs schien es noch so, als hätte sie sich nur ein paar Prellungen und Schürfwunden zugezogen, aber schnell wurde klar, dass das nicht der Fall war. Sie kam ins Krankenhaus und durch die Magnetresonanztomografie, oder kurz MRT, wurde festgestellt, dass es durch den Sturz zu einer Gehirnblutung gekommen war. Man versuchte, den Druck im Gehirn zu vermindern, sodass keine weitere Blutung entstehen konnte, als dies jedoch nichts brachte, wurde sie operiert. Man stoppte die Blutung und entfernte das vorhandene Blut aus dem Gehirngewebe.

Nachdem die Operation geglückt war, konnten wir endlich aufatmen. Wir wechselten uns mit den Besuchen ab und auch Mutters Eltern kamen. Da mein Bruder und ich jedoch Schule hatten, besuchten wir Mum immer mittwochnachmittags und am Wochenende waren wir meist rund um die Uhr bei ihr. Als die Ärzte ein paar Tage später zum zweiten Mal eine MRT machten, wurde festgestellt, dass durch die Blutung einige Nervenbahnen im Gehirn beschädigt worden waren. Ezra und ich saßen zu Hause, als der Anruf vom Krankenhaus kam, er erklärte mir gerade Mathe, denn ich sollte in zwei Tagen eine Arbeit schreiben. Mein Vater nahm ab und meldete sich mit Vor- und Nachnamen. „Mason McCartney. ‒ Was ist denn passiert? ‒ Und nun? ‒ Natürlich, wir werden sofort kommen.“ Dann legte er auf. Er war kreidebleich im Gesicht.

Mein Bruder und ich schauten ihn neugierig an.

„Was gibt es denn, Dad?“, fragte ich.

„Mum geht es nicht so gut. Wir sollten ins Krankenhaus.“

Ezra schaute mich an und ich wusste sofort, dass etwas nicht stimmte. Also packte ich meine Mathesachen weg und wir fuhren ins Krankenhaus. Der Arzt erwartete uns bereits und wollte mit Dad alleine sprechen.

„Denkst du, dass es schlimm ist?“

Ezra schaute mich mitleidig an und zuckte nur ratlos mit den Schultern. Wie er konnte ich mir nur vage ausmalen, was geschehen war.

Als wir schließlich zu Mutter ins Zimmer durften, lag sie im Bett und fixierte mit ihren Augen die Wand. Sie sprach nicht und drehte sich nicht einmal um, als wir eintraten. Ihre Augen waren leer und gerötet. Dad setzte sich auf das Bett und nahm ihre Hand. Daraufhin drehte sie leicht den Kopf in seine Richtung und fing an zu schluchzen. Sie krallte sich an sein Shirt und weinte. Dad saß einfach nur da, sagte nichts, sondern strich ihr beruhigend abwechselnd über den Rücken und das Haar. Ezra und ich verstanden zunächst nicht, worum es ging, jedoch war eines klar. Ab jetzt würde alles anders werden.

Der Arzt hatte zu Dad gesagt, dass durch die Blutung eine Lähmung hervorgerufen worden war, sodass Mutter von der Hüfte abwärts nichts mehr spürte.

Wir weinten viel. Natürlich musste Mum ihren Arbeitsplatz aufgeben und arbeitete nur noch von zu Hause aus. Ezra und ich mussten einige Pflichten im Haushalt übernehmen, dadurch wurde unsere Beziehung immer inniger. Jedoch wurde die Ehe unserer Eltern bei vielen Alltagsdingen auf die Probe gestellt und oftmals hatte Mum Angst, Dad würde sie verlassen. Doch das war nicht der Fall. Mum lernte immer besser, mit ihrem Handicap umzugehen, und mittlerweile besaßen die beiden wieder einen einigermaßen normalen Alltag.

Mir hatte es damals sehr leidgetan, als ich von zu Hause ausgezogen war, aber Mum hatte mich immer ermutigt, meine Träume zu leben, sonst würde ich eines Morgens aufwachen und hätte die Chance verpasst. So hatte ich mich aufgerafft und war meinem Bruder nach London gefolgt.

Nun lief ich durch die verregneten Straßen der Londoner Innenstadt auf dem Weg zur Tanzschule, denn wir hatten heute eine Audition. Wenn wir es schafften, uns zu qualifizieren, würden wir ein Stück im Barbican Theatre aufführen dürfen. Wir hatten monatelang für diesen einen Augenblick geprobt und ich hoffte inständig, dass die Mühe nicht umsonst gewesen war. Mein Bruder und ich hatten ein Stück aus Schwanensee ausgesucht.

Ich ging zur U-Bahn-Station und fuhr nach Newham zur Hallsville School of Ballet. Ich suchte mir einen freien Platz in der Bahn und ließ mich darauf nieder. Gedanklich ging ich die einzelnen Schritte noch einmal durch und malte mir wohl zum tausendsten Mal aus, was ich machen würde, wenn wir es nicht schaffen sollten. Es waren zwanzig Paare inklusive uns, die sich auf das Vortanzen vorbereitet hatten, und nur fünf davon würden genommen werden. Also stand die Wahrscheinlichkeit, dass wir es schafften, eins zu fünf, was meine Hoffnung nicht gerade steigen ließ. Im Gegenteil, je mehr Zeit verging, umso unruhiger wurde ich. Ich rutschte nervös auf meinem Sitzplatz herum und die Fahrt kam mir wie eine Ewigkeit vor, sodass ich alle drei Minuten auf das Handydisplay schaute, um die Uhrzeit zu kontrollieren. Als die U-Bahn endlich anhielt, stieg ich aus und lief schnell in Richtung Tanzschule. Schon von Weitem konnte ich sehen, dass mein Bruder vor dem Eingang geduldig auf seine kleine Schwester wartete.

Als er mich sah, huschte über seine Lippen ein Lächeln und er rief mir zu: „Na, Prinzessin, bist du aufgeregt?“

Als ich bei ihm ankam, umarmte ich ihn und drückte ihm einen Kuss auf die Wange. „Nein, wie kommst du nur auf die Idee?“, erwiderte ich sarkastisch und brachte meinen Bruder so zum Lachen.

Ezra war groß, etwa 1,90 Meter, und überragte mich um eineinhalb Köpfe. Er hatte braunes, fast schwarzes Haar, genau wie meines war das meines Bruders ebenfalls gelockt, was aussah, als ob er sich nie die Haare kämmte. Seine grünblauen Augen besaßen eine intensivere Nuance als meine, weswegen man sie als Erstes mustern musste, wenn man ihm auf der Straße begegnete. Seine Lippen waren voll und seine Haut war dunkler als meine. Er hatte eine gut durchtrainierte Figur und breite Schultern. Alles in allem war er ein sehr gut aussehender junger Mann, weswegen er stets einige Verehrerinnen hatte.

„Du musst nicht nervös sein. Wir schaffen das schon. Außerdem hat Ms Conners gesagt, dass wir das Stück perfekt beherrschen.“

Ms Conners war unsere Tanzlehrerin und die gutmütigste Seele der gesamten Schule. Sie hatte immer einen aufbauenden Spruch parat und ließ einen Schüler niemals hängen. Sie hatte mir damals sehr geholfen, als ich frisch nach London gekommen war, und mich in allem unterstützt. Sie hatte mir sogar Privatunterricht gegeben.

Arm in Arm betraten wir das Gebäude und der übliche Duft nach Lavendel stieg mir in die Nase. Links und rechts neben der Eingangstür standen zwei große Kübel mit Lavendel, der dem Raum einen angenehmen Duft verpasste. Auf dem Weg zu unserem Tanzraum kam uns Mrs Schrepfer entgegen, die als Direktorin an unserer Schule fungierte und eine absolut lobenswerte Arbeit leistete. Sie wünschte uns viel Glück für unser Vortanzen und ging anschließend durch den langen Korridor, der zu ihrem Büro führte, davon.

Als wir vor unserem Probenraum ankamen, warteten bereits Kayla und Jeremy darauf, aufgerufen zu werden.

Als die junge Frau mich sah, kam sie sofort zu mir herüber und umarmte mich. „Ich wünsche dir viel Glück“, raunte sie mir zu.

„Dir auch“, erwiderte ich schmunzelnd.

„Wie geht es dir?“, wollte sie wissen und ignorierte meinen Bruder dabei vollständig.

„Sehr gut, und dir?“

Sie antwortete, dass es ihr ebenfalls gut ginge, sie jedoch aufgeregt wäre.

„Wer ist das nicht?“, fragte ich ironisch und sie musste lachen.

Als die Tür aufging und eine schlaksige Frau heraustrat, schaute ich meinen Bruder an, der mit gequältem Blick die Stirn in Falten legte. Die Frau war die strengste und mit Abstand verhassteste Frau an der gesamten Schule und sie saß mit zwei anderen Prüfern in dem Raum, in dem wir gleich auftreten mussten. Kayla stöhnte auf und auch Jeremy verdrehte die Augen.

„Ms Kayla Morstan und Mr Jeremy Summer, bitte“, brüllte sie in den Vorraum, sodass einige Schüler vor Schreck zusammenzuckten.

Mein Bruder wünschte den beiden Hals- und Beinbruch und ich flüsterte meiner besten Freundin „Toi, toi, toi“ zu, bevor die Tür sich hinter ihnen schloss. Durch das kleine Fenster, welches sich neben der Tür befand, konnten wir das ganze Szenario beobachten und mir wurde immer flauer im Magen. Ich schaute zu Ezra, der zwischenzeitlich meine Hand genommen hatte und sie fest drückte.

„Wir schaffen das, Prinzessin!“, raunte er mir ins Ohr.

Ich nickte, obwohl ich nur halb so positiv dachte wie er. Ich legte meinen Kopf an seine Brust und sein regelmäßiger Herzschlag beruhigte mich. Ich schloss die Augen.

„Mum und Dad wünschen uns viel Glück. Heute Abend kommst du mit zu mir, denn Mutter hat vor, für uns zu kochen.“ Ich erwiderte nichts darauf, doch Ezra verlangte auch keine Antwort von mir.

Als sich nach ein paar Minuten erneut die Tür öffnete und Kayla und Jeremy zum Vorschein kamen, schaute ich ihnen erwartungsvoll entgegen. Sie hob bloß ratlos die Hände.

„Wir müssen warten“, lautete Jeremys knappe Antwort.

Da erschien die von allen geliebte Lehrerin Ms Arrow in der Tür und rief das zweite Paar auf. „Ms Emma O’Sullivan und Mr Drew Brown, bitte.“

Endlich bekamen wir unsere Kostüme, die uns die nette Ms Cavanaugh vorbeibrachte, und wir zogen uns in den vorgegebenen Umkleiden um. Die Garderoben waren nicht anders gestaltet als die in einer Sporthalle. Es gab drei Reihen mit jeweils fünfzehn Haken, an denen man seine Jacke aufhängen konnte. Bänke, auf denen man seine Sachen ablegen konnte, und genügend Platz darunter für die Schuhe. Wer seine Wertsachen wegschließen wollte, konnte sie in Schließfächern an der Wand verstauen. Von den Bänken blätterte bereits der Lack ab und mit viel Mühe waren einige Sätze tief ins Holz geritzt worden. Der Gesamteindruck ergab, dass dies alles nichts Besonderes war.

Als ich fertig war mit dem Umziehen, schnürte ich noch meine Ballettschuhe und betrachtete mich in dem großen Spiegel, der parallel zu den Schließfächern an der anderen Wand hing. Mein Kostüm war weiß und mit schönen Steinchen auf dem Oberteil verziert. Der Stoff reichte mir bis über die Brust und ging dort in einen durchsichtigen Stoff über, der an den Oberarmen von weißem, zusammengerafftem Tüll verstärkt wurde. Auch am Tutu war der Stoff gerafft und wurde am oberen Ende des Rockes von Steinen verschönert. Meine Haare hatte ich zu einem strengen Dutt gebunden, auf dem Kopf trug ich eine Kopfbedeckung, die links und rechts in Form von Flügeln herabfiel. Der schwarze Lidstrich war dick aufgetragen und mein dunkler Lidschatten ließ meine Augen größer wirken. Der knallrote Lippenstift sorgte dafür, dass mein Mund voller wirkte.

Als ich mit einem Kopfnicken den Umkleideraum verließ, stand Ezra schon an der Wand. Das Kostüm meines Bruders besaß ebenfalls eine einheitliche Farbe, jedoch wies es eher eine Cremeschattierung auf. Ich stellte mich zu ihm und beobachtete das Treiben. Der Vorraum leerte sich immer mehr, bis ich schließlich unsere Namen hörte.

„Ms Heaven McCartney und Mr Ezra McCartney, bitte.“

Ich holte einmal tief Luft. Es waren genau sechs Paare, die noch nicht vorgetanzt hatten. Wir würden das schaffen. Zur Bestätigung nahm Ezra meine Hand in seine und ließ sie nicht eher los, bis die Prüfer uns das Zeichen gaben, dass wir anfangen konnten. Wir nahmen unsere Anfangsposition ein und warteten, bis die Musik ertönte. Ich ließ mich in die Musik fallen und von Ezra führen. Ich konnte alle Schritte auswendig. Von Passé, Arabesque, Cambré, Fondu und Pirouettes en dehors bis hin zu den einzelnen Hebefiguren. Die Grundschritte sowie die schwierigeren Figuren hatte ich alle im Kopf und so geschah es, dass die Musik stoppte, wir uns in die Endpose stellten und ich Hals über Kopf aus dem Raum flüchtete. Mein Herz pochte wie wild und meine Hände schwitzten und zitterten vor Aufregung. Als auch mein Bruder den Probesaal verließ, lief er mir glücklich entgegen, hob mich mit einer Leichtigkeit in die Luft und fing an, vor Erleichterung zu lachen.

„Wir haben es geschafft!“, rief er und setzte mich wieder auf den Boden.

„Noch nicht ganz“, entgegnete ich.

„Doch, natürlich haben wir es geschafft, hast du dir mal deine Körperspannung angesehen, als wir getanzt haben, und wie präzise wir die Figuren angegangen sind. Die müssen uns einfach nehmen.“

Ich lächelte. Mein Bruder konnte so aufbauend sein. Da es noch ein bisschen dauern konnte, bis alle getanzt und die Prüfer sich entschieden hatten, gesellten wir uns zu Kayla und Jeremy, der uns fragte, wie es bei uns gelaufen wäre. Wir meinten, dass es gar nicht so schlecht gelaufen sei. Ezra holte uns einen Kaffee, ich kaufte mir ein Stück Schokoladenkuchen und meinem Bruder einen Bienenstich.

„Endlich nimmst du mal Kalorien zu dir“, beschwerte sich Kayla. „Ich finde, du wirst immer dünner.“

„Werde ich nicht. Ich bin normalgewichtig und esse auch regelmäßig“, setzte ich dagegen.

„Was macht ihr heute Abend noch?“, fragte uns Jeremy.

Wir erzählten, dass Mum für uns zur Feier des Tages kochen würde. Wir beschlossen, dass wir am folgenden Abend ein wenig feiern gehen würden, um diesen mehr oder weniger erfolgreichen Tag ausklingen zu lassen, auch wenn bis dahin noch ein ganzer Tag vergangen war, aber egal. Hauptsache, wir machten etwas zusammen, was in den letzten Wochen intensiver Vorbereitung zu kurz gekommen war.

Ich trank einen Schluck von meinem Kaffee und fragte mich immer wieder, wie Max Ledger dieses Gebräu den ganzen Tag lang trinken konnte. Max war ebenfalls ein Kandidat, der mit Sarah Langyester aufgetreten war. Sarah war eine wirkliche Schönheit. Sie hatte alles, was zum gängigen Schönheitsideal gehörte. Lange blonde Haare, lange Beine und riesige Brüste, wobei einige die Vermutung hatten, dass sie sich diese vergrößern lassen hatte.

Ich hatte mir gerade ein Stück Kuchen mit meiner Gabel heruntergestochen und mir in den Mund gesteckt, als ich wieder einmal feststellte, dass dies der beste Schokoladenkuchen in ganz Newham war. Als mein Teller leer war und ich auch das Gebräu, welches sie Kaffee nannten, brav ausgetrunken hatte, machten wir uns auf den Weg zurück zu den Prüfern, die mittlerweile eine Entscheidung getroffen hatten.

Alle Paare wurden einzeln hereingebeten, um ihnen zu verkünden, ob sie es geschafft hatten oder nicht. Kayla und Jeremy liefen vor uns und Kaylas lange, glatte rote Haare wippten im Takt ihrer Schritte. Jeremy hatte blondes Haar, das ihm bis zu den Schultern reichte. Kaylas Körper war nahezu perfekt. Sie hatte eine breite Taille und ihre Beine sahen in jeder Jeans megagut aus. Ihre Oberweite hatte die perfekte Größe. Ihre Haut war leicht gebräunt, die Nase war klein und spitz und ihre Lippen waren voll und kirschrot. Die grünen Augen rundeten das Gesamtbild perfekt ab. Sie konnte massenweise Kalorien in sich hineinstopfen und wurde davon einfach nicht dick. Bei mir war das anders. Ich war zwar dünn, sogar dünner als Kayla, aber das Essen von Süßigkeiten hatte ich schon vor ein paar Jahren aufgegeben. Nichtsdestotrotz naschte ich unglaublich gerne und auf den Genuss des Schokokuchens in der Cafeteria konnte ich einfach nicht verzichten. Dafür schmeckte er einfach zu gut.

Ezra zwinkerte mir aufmunternd zu, und als wir im Vorraum ankamen, erkannte ich die Anspannung in den Gesichtern. Mir erging es nicht anders. Ich trat unruhig von einem Fuß auf den anderen und knetete dabei meine Hände. Ezra ließ abwechselnd seine Finger knacken. Das Geräusch machte mich immer wütender, bis ich mich umdrehte und ihm auf die Finger schlug.

„Hör auf damit. Du weißt ganz genau, dass mich das aufregt.“

Er schaute mich mit schiefgelegtem Kopf an, ließ es jedoch sein und fing stattdessen an, an seinem Oberteil herumzufummeln.

Mir kam es vor wie eine Ewigkeit, bis wir endlich aufgerufen wurden. Als wir beide nebeneinander vor den Prüfern standen, von denen zwei Fremde waren, fing mein Herz zu rasen an und die Schmetterlinge in meinem Bauch flatterten so wild, dass mir schlecht wurde.

„Hallo, ihr beiden“, begrüßte mich eine der Fremdprüferinnen. „Ich bin Nathalie Stone. Wie ich sehe, seid ihr Geschwister.“

Da saß wohl Sherlock Holmes persönlich unter den Prüfern. Wir beide sahen uns ähnlich und hatten sogar zufälligerweise den gleichen Nachnamen, aber dass wir Geschwister waren, auf die Idee war wirklich noch niemand gekommen. Ein Hoch auf Sherlock Holmes’ Deduktionsbegabung, durch die wir jetzt wussten, dass Ezra und ich Geschwister waren!

Trotz der angespannten Situation konnte ich mir ein Grinsen nicht verkneifen und Ezra zwickte mich in die Seite, weswegen ich prompt wieder eine ernste Miene aufsetzte.

Während Nathalie Stone sprach, lächelte sie uns warm an und ich schaute kurz zu Ezra hinüber, um zu sehen, was er davon hielt. Er jedoch hatte sein Pokerface aufgesetzt und starrte die Prüferin nur kalt an.

„Eure Technik ist sehr gut und ihr habt wirklich Talent. Jedoch stehen dort draußen noch einige andere Paare, die es genauso verdient hätten wie ihr, bei dem Theaterstück dabei zu sein. Wir haben uns lange beraten und sind zu dem Entschluss gekommen“, sie legte eine theatralische Pause ein, wodurch ich noch nervöser wurde und mir die Röte ins Gesicht schloss, „dass wir es versuchen werden und euch mitnehmen in die Welt des Theaters.“

Ezra atmete hörbar auf und auf meine Lippen legte sich ein Dauergrinsen.

„Jedoch möchte ich euch darauf hinweisen, dass ich 120 Prozent von euch verlange, und wenn ihr die nicht geben könnt, seid ihr nicht tragbar für das Theater. Also, strengt euch an und trainiert fleißig. Herzlichen Glückwunsch.“

Ich hüpfte auf und ab und fiel meinem Bruder in die Arme. Er hob mich hoch und wirbelte mich durch den Raum. „Wir haben es geschafft. Wir haben es wirklich geschafft!“, rief er erleichtert und drückte mir einen feuchten Kuss auf die Wange.

„Siehst du, du musst nur mehr an dich glauben“, flüsterte er mir beim Hinausgehen ins Ohr.

Sofort umarmte mich Kayla, gefolgt von Jeremy. „Herzlichen Glückwunsch“, sagte meine beste Freundin.

Wie sich herausstellte, hatten es auch Kayla und Jeremy geschafft. Wir jubelten und entschieden, den weiteren Freudentaumel auf den nächsten Abend zu verschieben, an dem wir uns ohnehin treffen wollten. Danach zog ich mich schnell um und gab mein Kostüm zurück.

„Hast du Hunger?“, fragte mich Ezra, als wir aus dem Gebäude traten.

„Und wie!“, war meine knappe Antwort. Ich freute mich schon auf das Essen von Mum. Bei ihr schmeckte es einfach am besten.

Ezra rief uns ein Taxi, und als wir einstiegen, schloss ich für einen kurzen Moment die Augen. Nun konnte es nur noch bergauf gehen. Wir hatten es geschafft! Ich lächelte und war in diesem Moment wunschlos glücklich. Als das Taxi vor Ezras Haus hielt, zahlte er und hielt mir die Tür auf. Ganz Gentleman. Das hatte er von Dad.

Nachdem wir den Flur betreten hatten, Ezra mir den Mantel abgenommen und ihn an den Haken gehängt hatte, konnte ich schon die vertraute Stimme von Mum hören, die sich an der Treppe platziert hatte, um uns beiden zu gratulieren.

„Hallo, ihr zwei Mäuse“, grüßte sie uns von oben.

„Hallo Mum“, erwiderten wir gleichzeitig.

Sie schloss zuerst Ezra und dann mich in ihre Arme. „Ich bin ja so stolz auf euch!“, plapperte sie sogleich los. „Wie ist es denn gelaufen? Habt ihr falsch getanzt? Waren die Prüfer streng?“

Nun kam Dad mit schweren Schritten aus dem Wohnzimmer. „Herrgott, Katharina, lass sie doch erst mal richtig ankommen. Löcher sie doch nicht gleich mit deinen Fragen.“

„Ach, Mason, ich bin doch nur so froh und glücklich, dass wir die beiden haben.“

Dad verdrehte die Augen und Ezra lachte leise.

Es roch wunderbar. Mum hatte unser Lieblingsessen gemacht. Lasagne mit einer großen Schüssel After-Eight-Pudding. Ich leckte mir über die Lippen und konnte den Bauch meines Bruders grummeln hören. Dad hievte die dampfende Lasagne auf den Tisch und ich stellte noch Teller, Besteck und Gläser dazu. Ezra holte aus dem Keller eine Flasche Rotwein, und als wir alle am Tisch saßen, stießen wir auf diesen gelungenen Tag an und machten uns über das köstliche Essen von Mum her.

Als wir fertig waren, räumte Dad den Tisch ab und wir mussten Mum, die bereits neben dem alten Sofa Stellung bezogen hatte, zum hundertsten Mal erzählen, was die Prüfer gesagt hatten, und sie fragte zum fünfzigsten Mal, ob wir uns auch nicht verletzt hätten. Natürlich sprach mich Dad auf mein derzeitiges Körpergewicht an und ich verdrehte genervt die Augen. Ezra hatte sich neben mich auf das Sofa fallen lassen, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und fing an zu lachen.

„Dad, ich bin weder untergewichtig noch magersüchtig.“

„Das habe ich auch nicht gesagt. Ich finde nur, dass du mehr essen solltest.“

„Magst du meine Figur etwa nicht?“, fragte ich gereizt.

„Nein, ich wollte doch nur ...“

„Ach, Mason, lass Heaven in Ruhe. Solange sie sich wohlfühlt, ist doch alles in Ordnung“, mischte sich Mum ein.

Er ließ sich geschlagen gegen die Sofalehne sinken und sagte zu diesem Thema den ganzen Abend lang nichts mehr. Wir redeten noch eine ganze Weile über dies und das, bis ich beschloss, nach Hause zu fahren. Ich verabschiedete mich von Mum, die mir einen dicken Kuss auf die Stirn gab, und umarmte Dad zum Abschied.

Ezra begleitete mich noch bis zur Tür. „Gute Nacht, Prinzessin, und schlaf gut.“

„Du auch“, wünschte ich ihm und umarmte ihn kurz.

Als die Tür ins Schloss fiel, machte ich mich auf zur U-Bahn-Station. Währenddessen ließ ich den Tag Revue passieren. Und wieder schoss mir in den Kopf: „Wir haben es geschafft.“

Als ich zu Hause ankam, duschte ich zuerst, zog mich um und ließ mich dann müde ins Bett fallen.

Der Schlüssel zu unserem Leben

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