Читать книгу Alles beginnt und endet im Kentucky Club - Benjamin Alire Saenz - Страница 16

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Ich hätte ihn gern angerufen, ließ es aber bleiben. Das musste ich ihm überlassen. Wenn sein Onkel im Sterben lag, würde er seine Cousins auffordern, zu kommen und sich um das Notwendige zu kümmern. Bisher hatte er das getan. Er war so jemand. Es gibt solche, die nehmen, und solche, die geben, und er gehörte zu letzteren. Ich dachte an ihn, ich stellte mir vor, wie er am Bett seines Onkels saß.

Am Dienstagabend rief er an. Es war spät, schon fast Mitternacht. »Kommst du?«

»Bin gleich da«, sagte ich. Ich brauchte nicht lange, um mich anzuziehen und aus der Tür zu laufen. Das Krankenhaus war ganz in der Nähe. Ich ging hoch in den vierten Stock und fand das Zimmer. Javier, am Bett sitzend, hielt die Hand seines Onkels. Ich ging zu ihm hin und legte meine Hand auf seinen Rücken.

»Sie sind nicht gekommen«, flüsterte er. »Seine Söhne. Sie sind nicht gekommen.«

»Du bist sein Sohn«, sagte ich.

Wir saßen da und hörten, wie sein Onkel um Luft rang. Die letzten Atemzüge Sterbender sind laut und quälend. Der Körper will bis zum letzten Moment leben, kämpft um jeden Atemzug – und schert sich nicht um die Schmerzen.

Ich wusste, dass Javier bleiben würde, bis sein Onkel den letzten Atemzug tat. Ich blieb bei ihm. Das war alles, was ich tun konnte.

Javier hielt Wache, bis zum Ende. Als es still wurde im Zimmer, keuchte er, als hätte man ihm einen Messerstich versetzt. Er zitterte am ganzen Körper. So war der Kummer – ein Erdbeben im Herzen. Aber der Kummer war auch ein grausamer Dieb, der einem die Kontrolle über den eigenen Körper stahl.

Ich küsste Javier auf die Schulter – obwohl ich bezweifle, dass er meine Anwesenheit überhaupt wahrnahm. Dann ging ich die Krankenschwester holen. Ich nahm mir Zeit. Javier hatte ihn mehr als verdient, diesen Moment allein mit seinem Onkel, den er so offensichtlich liebte.

Er verließ das Zimmer nicht ein einziges Mal, bis die Leute vom Beerdigungsinstitut kamen, um die Leiche abzuholen. Mittlerweile ging die Sonne auf.

Ich brachte ihn zum Haus seines Onkels. Während der Fahrt wechselten wir kaum ein Wort. Als wir ankamen, machte ich die Tür auf und setzte Javier auf einen Stuhl, Javier, der vor Kummer und Erschöpfung wie betrunken war.

»Hier hat sonst immer er gesessen«, sagte er. Ich nickte. »Ein guter Platz«, sagte ich.

Ich sah mich in der Küche um und kochte Kaffee.

Javier kam mir hinterher und setzte sich an den Küchentisch.

»Ich glaube, ich will jetzt keinen Kaffee«, sagte er. Ich nickte. »Du solltest ein bisschen schlafen.«

»Ich will nicht hier bleiben«, sagte er. »Es ist zu traurig.«

»Such dir ein paar Sachen zusammen«, sagte ich. Er nickte.

Die Fahrt zu meiner Wohnung dauerte keine fünf Minuten, aber Javier schlief, als wir ankamen. Ich half ihm die Treppe hoch, weil sein schlaffer und erschöpfter Körper ihn kaum mehr zu tragen vermochte. Er fiel ins Bett, ohne sich auszuziehen. Ich zog ihm die Schuhe aus und ließ ihn schlafen.

Ich legte mich auf die Couch. Als ich erwachte, saß Javier mir gegenüber in meinem Lesesessel.

Er lächelte mich an.

»Wie spät ist es?«

»Drei Uhr nachmittags.«

»Wie lange sitzt du da schon?«

»Ich bin gerade aufgestanden. Und hab Kaffee aufgesetzt.« Ich nickte. »Den kann ich jetzt gebrauchen.«

Er zog mich von der Couch hoch und hielt mich fest.

»Ich muss ins Beerdigungsinstitut«, sagte er.

»Ich fahr dich hin.«

»Nein.«

»Dann nimm mein Auto.« Er nickte.

Wir gingen zusammen unter die Dusche.

Ich sah ihm beim Rasieren zu. Ich sah ihm beim Anziehen zu. Er war anmutig und elegant. Selbst die Trauer in seinem Gesicht faszinierte mich. Ich wusste nicht, wie ich dazu gekommen war, mich in ihn zu verlieben. Ich war nicht der Typ, der sich leicht verliebte. Einige meiner Freunde hatten mir zu verstehen gegeben, ich sei erschreckend selbstgenügsam. So hatte ich das nie gesehen, aber vielleicht war ja etwas dran. Doch als ich Javier jetzt beobachtete, wollte ich ihn mit aller Macht. Er sollte die Luft sein, die ich atmete.

Als er sich die Schuhe anzog, küsste ich ihn. »Es tut mir leid«, sagte ich. »Dass du ihn verloren hast.«

Er nickte. »Er war sehr krank. Es ist gut so«, sagte er.

»Manchmal ist der Tod etwas Gutes.«

»Manchmal schon. Trotzdem schmerzt es.«

»Der Schmerz gehört dazu, Carlos.«

»Und manchmal auch die Liebe«, sagte ich.

Ich sah den Ausdruck auf seinem Gesicht. In diesem Moment begriff ich, dass er mich liebte. Es war mir egal, dass ich diese Liebe nicht verdient hatte, dass ich sie nicht wert war. Ich begriff, dass ich diese Liebe nehmen und so lange wie möglich festhalten würde. Und mir kam der Gedanke, dass wir zusammen sein – dass wir vielleicht glücklich sein würden.

Alles beginnt und endet im Kentucky Club

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