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Kapitel 2: Neustart in Passau
ОглавлениеIn Passau wohnte ich elf Wochen lang in einer Pension, bis ich in der Nähe einer Geschäftsstraße im zweiten Stock eines renovierten und umgebauten Altbaus ein Apartment fand, das wegen seines schlauchförmigen Zuschnitts für Familien ungeeignet, für mich jedoch ideal war. Unten an die Hauswand und oben an den Eingang schraubte ich mein Geschäftsschild:
Herbert Tahler - Unternehmensberatung
Die Wohnungstür aus massivem Eichenholz öffnete sich in einen ungefähr achtzehn Quadratmeter großen Raum, den ich als Büro einrichtete mit preiswerten Möbeln aus dem Nachlass eines Steuerberaters. Das braun gebeizte Kirschholz wirkte auf mich altmodisch, war aber vorteilhaft fürs Geschäft, denn es vermittelte den Eindruck, dass ich schon Jahrzehnte lang erfolgreich arbeitete.
Auf der linken Seite fiel durch zwei Fenster Licht in den Raum. An das erste Fenster stellte ich einen quadratischen Besuchertisch mit vier gepolsterten Stühlen und an das zweite meinen Schreibtisch und einen bequemen Chefsessel mit Rollen. Schreibtisch und Sessel rückte ich so zurecht, dass ich im Sitzen zur Eingangstür blickte. An die fensterlose Wand rechts vom Eingang platzierte ich einen Garderobeständer, einen Aktenschrank und zwei lange schmale Tische, auf denen ein Laserdrucker, eine kleine Kopiermaschine und ein Telefaxgerät meine Arbeit unterstützten.
Die weiß gestrichenen Wände, der graue Teppichboden und zwei Neonleuchten an der Decke betonten den geschäftlichen Charakter dieses Raums. Allein der Farbtupfer an der Wand hinter meinem Schreibtisch - ein vielfarbiges, abstraktes Bild von ineinander verschachtelten Würfeln - milderte den Geruch nach Business.
Mit Zimmerpflanzen hatte ich kein Glück: Ein Drachenbaum, der für ein natürlich anmutendes Ambiente sorgen sollte, welkte nach wenigen Wochen dahin. Übrig blieb ein lindgrüner Keramiktopf, den ich eine Weile als Papierkorb benutzte, bis ich ihn schließlich hinunter in meinen Kellerverschlag trug und zwischen die Kiste mit Mineralwasser und das mit einigen Flaschen Spätburgunder bestückte Weinregal stellte.
Eine Tür in der Wand neben meinem Schreibtisch führte in einen Flur mit drei Türen, zwei auf der linken Seite und eine an der Stirnseite. Die erste Tür öffnete sich in eine schmale Kammer mit WC und Handwaschbecken, die zweite in ein geräumiges Badezimmer, in dem neben der Duschkabine und dem Waschbecken eine Waschmaschine Platz hatte.
Hinter der Tür am Ende des Flurs lag der Wohnbereich, eine offene Wohnküche mit zwei Fenstern und einer Glastür auf der linken, nach Südwesten gewandten Seite. Diesen Raum einzurichten fiel mir nicht leicht. Fest installiert waren eine Spüle an der Wand zum Badezimmer und ein Herd mit Dunstabzug fast in der Mitte des Raums. Über die Position des Herds rümpfte ich im ersten Moment die Nase, änderte jedoch meine Meinung schnell. Es gefiel mir, beim Kochen in den Wohnraum zu blicken und nicht gegen eine Wand. Die Anrichte in Buchenholzdekor, die unter dem ersten Fenster begann und nach eineinhalb Meter rechtwinklig zum Herd abbog, ließ ich von Meister Ertl, einem Schreiner in der Nachbarschaft, passgenau fertigen. Ich schätzte die große Arbeitsfläche und die geräumigen Unterschränke und Schubladen, in denen ich alles unterbrachte, was ich zum Kochen brauchte: Töpfe, Pfannen, Schüsseln, Geschirr, Kochlöffel, Messer, Besteck und, durch eine Zwischenwand getrennt, Spaghetti, Mehl, Salz, Zucker, Kaffee, Gewürze, Olivenöl und Essig. Verderbliche Nahrungsmittel - Gemüse, Obst, Butter, Käse, Wurst - und Tiefkühlkost lagerte ich in einem Kühlschrank mit Tiefkühlfach, den ich links neben der Spüle anschloss.
Ich kochte gern, ging selten aus zum Essen, denn die Gerichte, die ich selbst zubereitete, schmeckten mir besser als die, die ich in gut bürgerlichen Restaurants serviert bekam. Meine Lust zu kochen, entwickelte sich langsam über Jahre. In meiner Studienzeit an der Fachhochschule Reutlingen konnte ich außer Wasser nichts kochen, und das ging nicht nur mir so, auch keiner der anderen fünf Mitbewohner in unserem Studentenhaus konnte ein schmackhaftes Essen zubereiten. Mein Interesse fürs Kochen weckte Babette, eine liebe Kollegin während meiner Diplomarbeit. Zu meinem Geburtstag schenkte sie mir ein Kochbuch für Anfänger und sagte augenzwinkernd, durch nichts könne ein Mann eine Frau mehr beeindrucken als durch ein gutes Essen.
Meine Favoriten waren Gerichte, die nicht viel Arbeit machten aber trotzdem meinen Gaumen kitzelten. Jetzt im Frühsommer kamen mindestens einmal in der Woche Pfannkuchen mit Spargel, gekochtem Schinken und Sauce Hollandaise auf meinen Tisch - einen runden Esstisch aus hellem Buchenholz, den ich zusammen mit vier dazu passenden Polsterstühlen in die Nähe des zweiten Fensters gestellt hatte.
Über den Tisch und die Anrichte hängte ich Deckenlampen mit Schirmen aus Rauchglas, schöne alte Glasarbeiten, die mir bei einem Flohmarkt in Passau ins Auge gesprungen waren. Auf der rechten Seite des Raums, wo ein großes Bücherregal und eine gemütliche Ecke mit Sofa, Sessel und Couchtisch die Einrichtung ergänzten, spendete eine moderne Stehlampe mit Leseleuchte und Deckenfluter warmes Licht. Neben Büchern, Zeitschriften und einer Schublade mit CDs gab es im Regal Platz für zwei Lautsprecher und eine kompakte Musikanlage. Schräg am Regal lehnte ein Geigenkasten mit meiner Geige, die mich seit dreiunddreißig Jahren begleitete.
Der Fußboden sei ein flacher Kachelofen, hatte Frau Rohrmoser, meine Vermieterin, schmunzelnd gesagt, während sie mich durch die Wohnung führte. Fußbodenheizung sei angenehm, man habe keine störenden Heizkörper im Raum und im Winter immer warme Füße. Ja, das war mir bekannt.
Nach meiner Erfahrung mit dem welkenden Drachenbaum verzichtete ich in der Wohnküche auf Zimmerpflanzen. Stattdessen hängte ich zwei farbige Stiche von Orchideen auf; das Bild einer Bienen-Ragwurz an die Wand hinter dem Esstisch und das eines Frauenschuhs über das Sofa. Wenn mir nach Grün zumute war, trat ich durch die Glastür auf einen kleinen Balkon und blickte hinunter in einen dreieckigen Garten mit einem Zwetschgenbaum in der Mitte und Beeten an den Rändern, das linke bepflanzt mit Himbeersträuchern und Erdbeersetzlingen und das rechte mit roten, rosafarbenen und gelben Rosen.
Die Rosen erinnerten mich an meine Jugend und meine Mutter, die rund um die Villa Beete angelegt hatte, in denen zu jeder Jahreszeit irgendwelche Pflanzen blühten. Der Frühling grüßte mit Schneeglöckchen, Primeln und Krokussen, darauf folgten Narzissen und Tulpen. Zusammen mit Pfingstrosen und Schwertlilien öffneten im Mai die ersten Rosen ihre Knospen. Gut gedüngt und gegen Rostpilze und Blattläuse gespritzt blühten Rosen den ganzen Sommer lang. Im Herbst brachten Astern Farbe in den Garten, und um die Weihnachtszeit begann die Zaubernuss zu blühen.
Ein Fernsehgerät mit Flachbildschirm stellte ich in mein Schlafzimmer, einen kleinen Raum hinter der Wohnküche. Der Kleiderschrank auf der rechten Seite und das französische Bett links neben dem Fenster komplettierten die Einrichtung. Die Matratze kaufte ich neu, das Bettgestell und den Kleiderschrank, wie auch die Möbel im Wohnzimmer ersteigerte ich bei Auktionen im Internet. Durch die Spedition Flügel, die gegen einen Aufpreis auch die schützende Verpackung mit Luftpolsterfolie übernahm, ließ ich die Möbel beim Verkäufer abholen und zu mir nach Passau transportieren. Das klappte gut. Pech hatte ich mit einem gebrauchten Fernsehgerät, das nach ein paar Tagen schwarz blieb. Ich hakte diesen Verlust ab und kaufte in einem Elektromarkt ein neues Gerät.
Mein Fernsehkonsum beschränkte sich auf die Spätnachrichten der Tagesschau, die ich auf dem Bett sitzend mit einem Kissen im Rücken anschaute. Nur wenn das Programmheft einen Bericht über ein interessantes Thema oder einen guten Spielfilm ankündete, kam es vor, dass ich am Abend oder spät in der Nacht auf den Bildschirm blickte.
In den ersten Tagen in Passau weinte ich manche Träne in mein Kopfkissen. Die Schuld, die ich vor langer Zeit auf mich geladen hatte, kam zurück in mein Bewusstsein und hing wie ein mit Blei gefüllter Rucksack auf meinem Rücken. All die Jahre hatte ich gehofft, dass Marie überlebte. Vergebens. Wenn sie überlebt hätte, wäre Heidi vielleicht weniger hart mit mir umgesprungen, hätte mir noch eine Chance gegeben. Ich vermisste Heidi und Julia sehr. Es gab keinen Tag, an dem ich nicht an meine Lieben dachte. Weil ich mich vergewissern wollte, dass es ihnen gut geht, hätte ich beinahe etwas getan, das Doktor Hundertmal, mein Psychiater, als eine große Dummheit bezeichnete: Mit einem gemieteten Auto, das sich in Farbe und Form von meinem BMW unterschied, wollte ich an einem Sonntagabend nach Friedrichshafen fahren, in der Nähe unseres Hauses parken und versuchen am Montagmorgen einen Blick auf Heidi und Julia zu ergattern.
Und was dann?, fragte der Doktor. Ob ich danach im Auto heulen und mir den nächsten Brückenpfeiler aussuchen wollte. Ein kurzer Blick auf Frau und Tochter würden meinen Schmerz nicht lindern sondern verstärken.
Einsam begann mein neues Leben. Nur Bernhard, mein Freund seit Schultagen, der meine Erektionsprobleme kannte, hielt zu mir, und meine Schwester, die wusste, dass ich nicht gewalttätig war, wenngleich meine Tat das Gegenteil nahe legte. Meine Mutter, die an Alzheimer erkrankt in einem Pflegeheim in Heidelberg dahindämmerte, bekam von meinem Abstieg nichts mit. Ihre Vorwürfe blieben mir erspart.
Lange Arbeitstage prägten das erste Jahr meiner selbst gewählten Verbannung. Wie sollte es anders sein? Dass es viel Kraft kostete, ein Unternehmen aufzubauen, wusste ich.
„Da musst du ins Joch gehen“, hatte Walter Zeller gesagt.
Harte Arbeit war mir nicht unangenehm, denn sie ließ mir wenig Zeit über meine elende Vergangenheit nachzudenken. Ich entwarf einen Prospekt über mich und meine Leistungen, schaltete Annoncen im Wirtschaftsteil von lokalen Zeitungen und hielt Vorträge in Technologiezentren und Industrie- und Handelskammern. Mein Thema Staatliche Förderung betrieblicher Forschung stieß bei Geschäftsführern und Betriebsleitern auf Interesse. Sie wollten über Förderprogramme umfassend informiert werden.
Ideen für neue Produkte schlummerten in manchem Unternehmen und warteten darauf, geweckt zu werden. Ein Zuschuss vom Staat diente als Wecker. Da in Betrieben selten jemand Zeit hatte Fördermittel zu beantragen, war meine Hilfe gefragt. In den ersten vierzehn Monaten fuhr ich kreuz und quer durch Bayern. Danach musste ich nur noch selten reisen. Durch Mund-zu-Mund-Propaganda zufriedener Kunden, bekam ich genügend neue Interessenten.