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Die Violine

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Vor vielen Jahren – noch bevor ich sieben wurde – fand ich während eines Wochenendbesuchs bei meinem Großvater auf seinem Dachboden eine alte Violine. Sie lag in einem schön geformten hölzernen Kasten, der eine samtene Auskleidung besaß, die einmal grün gewesen sein musste, aber so verblichen war, dass sie fast farblos aussah. Neben der Violine lag, gehalten von zwei hölzernen Klammern, der Bogen. Etwas von seiner Bespannung war abgerissen, hing lose und bedeckte zum Teil den Violinenhals.

„Diese Violine wurde von Giuseppe Guarneri gefertigt“, erzählte mir mein Großvater, „dem besten italienischen Geigenbauer des achtzehnten Jahrhunderts. Es gibt sogar ein entsprechendes Zertifikat in der Violine. Sie ist nicht nur alt und selten, sondern auch sehr wertvoll,“ versicherte er mir. Mit gesenkter Stimme fügte er hinzu: „Wer auch immer in der Familie dereinst Geigenunterricht nimmt, soll die Guarneri eines Tages behalten dürfen.“

Ich war sehr in Versuchung. Großvater ließ mich sogar eine der Saiten des Instruments berühren, die einzige, die noch an ihrem Platz war. Die anderen drei waren gerissen. Die Saite gab einen traurigen Laut von sich, der anhielt, als rufe sie um Hilfe.

„Natürlich ist die Violine in schlechtem Zustand und muss repariert werden,“ sagte Großvater. „Eines Tages werde ich sie nach Warschau zu einem Spezialisten bringen, einem der besten, den ich kenne. Er wird sich ihrer annehmen, wie es ihr gebührt.“

Tagelang ging mir die Violine im Kopf herum; in meinen Träumen konnte ich manchmal den Klang ihrer einsamen Saite hören. Meine ältere Schwester hatte zwar ein paar Wochen lang Geigenstunden gehabt, aber es gefiel ihr nicht einmal ein kleines bisschen. Häufig beklagte sie sich über den Schmerz in ihren Handgelenken und über den steifen Hals, den sie bekam, weil man die Geige unterm Kinn hält. Schließlich gab sie die Stunden auf. Zu der Zeit entschied mein Vater, ich solle der nächste sein, der Geigenunterricht erhalte. Mit dem Versprechen meines Großvaters im Kopf stimmte ich bereitwillig zu. Ich fing den Unterricht auf einem Instrument halber Größe an und erkannte plötzlich zu meinem größten Missvergnügen, dass ich eine normalgroße Geige wie die Guarneri auf meines Großvaters Dachboden nicht beanspruchen konnte, solange ich nicht älter war und viel längere Arme hatte.

Mein Unterricht dauerte jahrelang. Immer wenn ich meinen Großvater besuchte, fragte ich nach der Reparatur der Guarneri und versicherte ihm, dass ich sehr bald die Eignung für ein Instrument in Normalgröße besäße. Es war schließlich mein sechstes Jahr Geigenunterricht. Manchmal brachte ich meine eigene Geige mit, um ihm zu zeigen, wie unannehmbar klein sie war. Er blieb dabei, mich zu vertrösten und mir die Guarneri für später zu versprechen.

Im Jahr 1938, ein Jahr bevor der Zweite Weltkrieg ausbrach, starb mein Großvater, und ein paar der Dinge von seinem Dachboden wurden mir übergeben – darunter die Violine. Da sie nun in meinem Besitz war, untersuchte ich sie genauer und betrachtete immer wieder ihr Signet. Ich war vierzehn und von der Guarneri magnetisch angezogen. Ich beschloss zu versuchen, sie selbst zu reparieren. Es gelang mir, die gerissenen Saiten zu ersetzen, ich brachte einen neuen Steg an, und ich rieb sie sogar mit Schellack ein, um ihren langverlorenen Glanz wiederherzustellen.

Als ich am Ende das schimmernde Instrument ausprobierte, entdeckte ich den reichsten, süßesten Ton, den ich je vernommen hatte. Ich war wie verzaubert von dem Klang; mir tat es nur leid, dass mein Großvater nicht mehr dabei sein konnte, um mich spielen zu hören.

Wir lebten unter der Nazibesatzung, und schon bald wurden verschiedene Dekrete erlassen, die besagten, dass private Musikinstrumente, Radios, aber auch etwa Pelzmäntel zu konfiszieren seien. Ich brachte es nicht übers Herz, den Nazis die Guarneri auszuliefern. Meinem Vater ging es genauso mit den Pelzmänteln der Familie, also packten wir zusammen mit meinem Onkel und einem vertrauenswürdigen polnischen Freund, Herrn Bolek, eine eiserne Truhe voll mit Pelzen, verstauten die Guarneri darunter, und es gelang uns, die Truhe im Hof hinter den verbretterten Kohlenverschlägen zu verstecken. In einer mondlosen Nacht wurde sie in einem Loch im Boden versenkt, das wir mit mehreren Lagen dicker Teerpappe ausgekleidet hatten. Es war Sperrstunde, und der Hof lag verlassen da, nur eine einzelne streunende Katze suchte nach einem Platz für die Nacht. Ich stand Schmiere und achtete auf jedes verdächtige Geräusch. Es war eine kalte, dunkle Nacht, und der dumpfe Klang der Erde, wie sie auf die Truhe aufschlug, erinnerte mich an die Beerdigung meines Großvaters. Mich fröstelte. Am nächsten Tag sprach ich mit Herrn Bolek über die Violine und gab mir Mühe, ihm einen Eindruck davon zu vermitteln, wieviel sie mir bedeutete. Er hörte einfach zu, und indem er mir den Arm um die Schultern legte, versicherte er mir: „Du wirst diese Violine eines Tages wieder spielen, glaub mir.“ Bald darauf musste ich den Nazibehörden meine eigene, plötzlich ebenfalls kostbare Geige übergeben. Ohne jedes Instrument hatte ich das Bedürfnis zu üben stärker als je zuvor. Das meiste von meiner Musik behielt ich im Gedächtnis und übte weiter durch Summen. Während meiner Zeit in den Nazilagern verlor ich die bewusste Erinnerung daran, jemals Geige gespielt zu haben, und dachte sehr selten an die Guarneri. Was mir im Sinn blieb, war der traurige Klang der einsamen Saite. Bisweilen stellte ich mir vor, irgendwo in meiner Vergangenheit, vor langer Zeit, eine Violine gehört zu haben. Erst nach dem Krieg hatte ich wieder die Gelegenheit, jemanden eine reale Violine spielen zu hören. Es erfüllte mich mit Sehnsucht und ließ mich an meine Guarneri in ihrem Grab denken.

Zwei Jahre nach Kriegsende emigrierte ich nach Amerika. Sogleich schrieb ich einen Brief an Herrn Bolek. Ein paar Monate später kam der Brief zurück, „Empfänger unbekannt“. Ich fürchtete, dass ihm etwas zugestoßen war, und schrieb einen zweiten Brief, diesmal an das polnische Rote Kreuz. Wieder kein Glück, sie konnten ihn nicht auffinden. Erst in den späten sechziger Jahren gelang es mir durch ein kleines Wunder, mit unserm alten Freund wieder Kontakt zu bekommen. Er teilte mir mit, dass er nach dem Krieg in eine andere Gegend Polens umgesiedelt worden sei und dass er beim Internationalen Roten Kreuz immer wieder nach uns gefragt habe, auch ohne Erfolg. Da er nun Rentner sei, habe es ihn wieder zurück in unsere Heimatstadt Radom gezogen. Überdies gab er mir zu verstehen, dass der Inhalt unserer Truhe gerettet, ja in seinem Besitz sei.

Ich gab ihm die Erlaubnis, Gebrauch von den Pelzen zu machen, bat ihn aber, wenn irgend möglich, den Versand der Violine nach den USA in die Wege zu leiten. Herr Bolek antwortete mir, dass die polnischen Behörden wegen des historischen Werts der Violine nicht gestatteten, sie aus dem Land zu lassen. Man habe sie als antik eingestuft, und wir benötigten daher im Grunde eine Ausnahmegenehmigung des Kultusministeriums, das eine solche aber verweigere. Er versuchte alles Mögliche, aber nichts hatte Erfolg. Ich besaß ja auch nichts, womit ich beweisen konnte, dass ich der rechtmäßige Eigentümer der Violine war; es gab keinerlei Papiere oder Kaufbelege. Das alles ärgerte mich unsäglich; meine Guarneri blieb eine Gefangene in Polen.

In Amerika kaufte ich mir eine gebrauchte Geige und fing für mich allein wieder zu üben an. Es war nicht dasselbe. Ich hatte die Fertigkeit verloren, die ich vor fünfundzwanzig Jahren einmal besaß, und das Instrument klang dürftig. Hinzu kamen der Verlust meines Koordinationsvermögens und der Umstand, dass mein linker Arm schnell taub wurde. Deshalb erwog ich, einen Auffrischungskurs zu besuchen, aber da ich mich als ziemlich fortgeschritten betrachtete und über vierzig war, war es mir doch peinlich, noch einmal ganz von vorn anzufangen. Wenn ich nur die Guarneri hätte, sagte ich mir ständig, dann würde sich mein Spiel bestimmt wieder verbessern. Vielleicht hatte mich auch die Enttäuschung darüber, dass ich sie verloren hatte, vergessen lassen, wie man Geige spielt, theoretisierte ich; und bald entschied ich mich, es ein für alle Mal aufzugeben. Die Guarneri blieb mir natürlich immer im Hinterkopf; ich glaubte daran, dass der Postbote sie mir eines Tages einfach zustellen werde.

Im Sommer 1983 wurde ich von dem Magazin, für das ich als Fotoreporter arbeitete, mit einem Auftrag nach Polen geschickt. Ich besuchte Radom und konnte Herrn Bolek ausfindig machen. Er war alt und es ging ihm nicht gut, er war fast blind und konnte mich kaum noch erkennen. Aber er hatte keine Schwierigkeiten, sich daran zu erinnern, was uns verband: die vergrabene Guarneri. Er legte seinen Arm um mich, und mit trauriger Stimme sagte er, wie leid es ihm tue, vom Schicksal meiner Eltern zu hören, und wie froh er sei, zu erfahren, dass die drei Kinder überlebt hatten.

Herrn Boleks Wohnung war klein und voller alter Möbel. Die Wände waren mit alten Fotografien, Bildern und Erinnerungen an ein vergangenes Zeitalter bedeckt. Neben seinem Stuhl stand ein kleiner Tisch mit einem Sortiment Medizinfläschchen und einer Untertasse voll Augentropfen.

„Es ist so schön, dich als Erwachsenen wiederzutreffen,“ sagte Herr Bolek. „Ich erinnere mich an dich, wie du noch ein kleiner Junge warst. Ich sah dich immer mit deinem Geigenkasten unterm Arm zur Musikstunde gehen. Deine Schule war ja von meiner Wohnung aus direkt um die Ecke. Aber die Schule ist nun weg, wie so viele andere Dinge auch.“

Für ein paar Sekunden schwieg Herr Bolek. „Viele Jahre lang waren dein Vater und ich gute Freunde,“ sagte er. „Wir hatten nie Streit und achteten einander immer. Jetzt ist es eine andere Welt; die Menschen sind anders, als wir früher waren. Aber was kann man da machen? – Lass mich dir nun etwas zeigen.“

Er ging hinüber zur Garderobe und zog den Geigenkasten hervor. Er stellte ihn auf den Tisch und machte sich feierlich daran, ihn zu öffnen. Die Violine war mit einem Schloss gesichert, was sie, wie ich wusste, vorher nicht war. Herr Bolek nahm sie heraus. Langsam und sorgfältig befreite er das Instrument von dem grünen Filzstoff, in den es eingepackt war. Ehrfürchtig sah ich ihm zu. Die Violine schimmerte wie ein auf Hochglanz polierter Edelstein. Alles war an seinem Platz; ich hätte kaum sagen können, dass dies dasselbe Instrument war. Herr Bolek hielt die Guarneri, wandte sich mir zu und berichtete mit zitternder Stimme: „All diese Jahre hindurch habe ich gespürt, du würdest eines Tages zurückkommen, um die Violine zu holen. Vor ein paar Jahren, nachdem ich in Rente gegangen war, beschloss ich zu lernen, wie man Geigen repariert; ich hatte den Plan, deine Guarneri zu reparieren. Ehe ich mich’s versah, war ich so davon erfüllt, dass ich anfing, auch die Geigen anderer Leute zu reparieren, bis meine Augen immer schwächer wurden und ich es aufgeben musste.“

Als er innehielt, zog er ein Taschentuch aus seiner Hosentasche und wischte sich die Augen. Ich hatte den Eindruck, er weinte. „Ich weiß gar nicht, wie ich es Ihnen je lohnen kann, dass Sie die Violine für mich nicht nur gerettet, sondern auch noch repariert haben,“ platzte ich heraus, bewegt, wie ich war.

„Du schuldest mir überhaupt nichts, mein Freund,“ antwortete er. „Ich bin derjenige, der zu danken hat. Von dem Tag an, da ich diese Violine zum ersten Mal sah, hat sie mein Leben verändert. Sie gab mir ein Gefühl der Verantwortung, sie ließ mich Musik lieben, und sie gab mir den Anstoß, Geigenbauer zu werden. Sie wurde mir vertrauensvoll übergeben, und sie wurde ein wichtiges Bindeglied unserer Freundschaft. Es war fast so, wie für einen Menschen, einen Freund, zu sorgen. Ich wusste ja auch, wieviel sie dir, dem Musiker, bedeutete. Du siehst, für mich war sie auf vielerlei Weise von Nutzen. Nun musst du nur noch einen Weg finden, sie nach Amerika zu schaffen. Hier, sie ist deine,“ sagte er stolz lächelnd, als er mir die Guarneri aushändigte. Ich hielt sie an ihrem Hals und sah mein eigenes strahlendes Spiegelbild in ihrem polierten Korpus. Ich berührte die Saiten; die Violine ließ auch ungestimmt ihren klaren, schwingungsreichen Klang ertönen. Ich nahm den Bogen und fing an sie zu stimmen, obwohl ich nicht sicher war, ob ich mich noch erinnerte, wie es ging. Ich war sprachlos, meine Hände zitterten. Als ich fand, die Violine sei nun zufriedenstellend gestimmt, legte ich sie sacht wieder in den Kasten zurück. Gerührt von der Freundschaftsgeste, nahm ich Herrn Boleks Hand und schüttelte sie kräftig, bis ich auf seinem zerfurchten Gesicht einen gequälten Ausdruck bemerkte.

Es gebe keine Mittel und Wege – wurde mir mitgeteilt –, die Genehmigung des Kultusministers zur Ausfuhr der Violine zu erhalten; die Gesetze lauteten noch immer so. Ich entschied mich für das Risiko, meinen Schatz ungenehmigt mit außer Landes zu nehmen. Ich hatte zwar Halluzinationen, wegen Antiquitätenschmuggels verhaftet zu werden und nach so vielen Jahren in einem polnischen Gefängnis zu landen. Doch am nächsten Tag saß ich tatsächlich im Flugzeug nach Hause mit der Violine an meiner Seite. Niemand hatte irgendwelche Fragen; es war, als hätten sie den abgenutzten Kasten, den ich trug, überhaupt nicht bemerkt. Ich war in Hochstimmung. Nach zweiundvierzig Jahren war die Guarneri wieder frei.

Fast ein Jahr nachdem ich aus Polen mit meiner Guarneri zurück war, erhielt ich einen Brief von Herrn Bolek, geschrieben von seiner Tochter, Lucyna. Er wollte wissen, ob ich mit der Guarneri glücklich sei, und ob sie hoffentlich auch gut behandelt werde. Um nicht völlig ohne Geige zu sein, hatte er sich nun selber eine gebrauchte gekauft. „Seltsam“, schrieb Lucyna, „wie jemand so an einem Instrument hängen kann, als wäre es ein Mensch.“ Ihr Vater bewahre die Geige am selben Platz auf, an dem jahrelang die Guarneri ausgeharrt habe, in der Garderobe, und obwohl er sie nicht mehr erkennen könne, könne er sie noch halten und stimmen (wenn auch nicht sehr gut); manchmal versuche er, ein paar von den Liedern zu spielen, die er auf der Guarneri gespielt hatte. Gelegentlich beschwere er sich dann bei der Geige über ihren kümmerlichen Ton, den sie von sich gab; sein Kommentar sei dann immer, sie sei eben nicht mit der Guarneri zu vergleichen.

Anton der Taubenzüchter

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