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Das Hochzeitsbild

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Lebhaft erinnere ich mich an das Bild von Onkel Herschel und seiner Braut Annette.

Es war so groß wie eine Postkarte oder vielleicht ein bisschen größer, und es war sepiagetönt. Meine Mutter stellte es mit anderen Familienerbstücken und -artefakten in einer bleiverglasten Vitrine aus, die Teil einer massiven Walnuss-Schrankwand in unserm Esszimmer war. Es gab da auch eine „Spieluhr“, die nicht die Zeit anzeigte, aber Musik spielte. Ich kann heute noch die Melodie hören. Die Uhr und das Bild waren die zentralen Mysterien unseres Haushalts. Immer wenn ich das Hochzeitsbild studierte, hörte ich auch gern der Spieluhr zu. Ihre Melodie erinnerte mich an einen Hochzeitsmarsch, flott und fröhlich. Onkel Herschel sah aus, als wäre er noch in seinen Dreißigern – sanft, ernst, imposant. Seine Braut, Annette, eine Brünette mit einer schicken Frisur und einem süßen, weichen Lächeln, blickte freundlich; ich hatte das Gefühl, sie blicke direkt mich an, während Onkel Herschel seine Augen auf etwas weit Entferntes richtete. Ich hatte die Vorstellung, dass Annette Kinder mochte.

Mir wurde gesagt, dass sie in Paris lebten, in Frankreich, was für mich mit meinen neun Jahren am anderen Ende der Welt schien. Meine Mutter, die Onkel Herschels ältere Schwester war, versicherte mir immer, dass wir alle eines Tages auch nach Paris fahren würden, vielleicht für immer. Ich hielt das für eine gute Idee, und heimlich hoffte ich, wir würden es bald tun. Die meisten Verwandten meiner Mutter lebten im Ausland, außer ihrer jüngeren Schwester Dora, die aber kurz vor der Abreise nach Palästina stand. Tante Dora war jung und hübsch und vergaß nie, mir Süßigkeiten mitzubringen, wenn sie zu Besuch kam. Als Tante Dora abgereist war, tat mir meine Mutter leid. Bald folgte meine Großmutter, und damit waren all ihre nahen Verwandten weg. Die Angehörigen meines Vaters waren zwar noch da, einschließlich seiner Eltern, doch aus irgendeinem Grund – den mir niemand erklärt hatte – sprach er nicht mehr mit ihnen.´

Das Hochzeitsbild wurde mein Verbindungsglied zur Außenwelt. Ich konnte mir nach den Postkarten, die wir von Onkel Herschel regelmäßig erhielten, Paris ausmalen. Zwei davon wurden zu beiden Seiten des Hochzeitsbilds ausgestellt: Eine zeigte den Eiffelturm und die andere den Arc de Triomphe. Für mich waren jene zwei Wahrzeichen Weltwunder. Wenn meine Freunde zu Besuch kamen, zog ich immer die Uhr auf und gab mit den Postkarten und dem Hochzeitsbild an. Dann hielt ich ihnen einen kurzen Vortrag über meinen Onkel Herschel und seine Braut und über die Wahrzeichen von Paris, als wäre ich ein Experte.

In Wirklichkeit wusste ich nicht viel von meinem Onkel, doch das Bild legte nahe, dass er sehr bedeutend, wenn nicht sogar sehr reich war. Seine Briefe las ich nie, weil sie auf Jiddisch geschrieben waren und ich seine Handschrift nicht entziffern konnte. Dies gab meinen Phantasien Nahrung. Ich führte mit dem Bild imaginäre Gespräche, stellte ihm Fragen; manchmal sprachen Herschel und Annette mit mir. Das Hochzeitsbild wurde meine heilige Ikone.

Irgendwann in den dreißiger Jahren legte Tante Dora, kurz nach ihrer Palästina-Abreise, einem ihrer Briefe ein Bild bei. Sie war darauf mit dem Mann fotografiert, den sie heiraten wollte. Das Bild war kleiner als das von Onkel Herschel. In der Vitrine wurde es von den bleiernen Sprossen der Verglasung verdeckt. Auf dem Bild lächelte Tante Dora nicht; sie erschien sehr drall, und ihr Verlobter war zum Teil schon kahl. Wenn ich als Kind bei ihr zu Besuch gewesen war, hatte ich gelegentlich in ihrem Bett schlafen müssen. Sie hatte dann die Arme um mich gelegt und mich in die Fülle ihres Busens eingehüllt. Wie ich es hasste, am Morgen aufzustehen und meine Füße auf den kalten Fußboden zu setzen! Der bloße Gedanke, sie würde bei ihrem neuen Mann schlafen, bewirkte, dass ich ihn nicht leiden konnte.

Ein paar Jahre vergingen. Der Krieg brach aus, wir waren Besatzungsgebiet der Nazis, und es kam keine Post mehr. Eines Tages mussten wir unsere Wohnung räumen und in ein neu angelegtes Ghetto in einem anderen Teil der Stadt ziehen. Wir hatten die meisten unserer Möbel zurückzulassen, darunter die massive Schrankwand. In der Eile des Packens und der Suche nach einem neuen Platz zum Wohnen ließen wir auch die Bilder und die Spieluhr zurück. Dennoch gelang es mir, die Erinnerung an das Hochzeitsbild wachzuhalten. Als das Ghetto schließlich liquidiert und ich in die Lager geschickt wurde, musste ich in den traurigsten Momenten meiner Gefangenschaft immer an Onkel Herschels Bild und Annettes warmes Lächeln denken.

Kurz nach Kriegsende gelang es mir, nach Paris zu fahren. Onkel Herschel wusste nicht, dass ich kam, aber ich hatte mir seine Adresse zusammen mit den Adressen meiner übrigen Verwandten gemerkt. Sobald ich in Paris eintraf, ging ich zu ihm und klopfte an seine Tür. Ein stämmiger Mann mittleren Alters begrüßte mich, unrasiert, in einer schmutzigen Hose und einem zerrissenen Trainingshemd. Bevor ich Gelegenheit hatte, mich vorzustellen, sprach er.

„Wir müssen verwandt sein. Du siehst ja aus wie meine Schwester. Bist du etwa mein Neffe?“

„Ja, Onkel Herschel, ich bin dein Neffe,“ antwortete ich.

Er war sichtlich erschüttert. Seine Augen füllten sich mit Tränen, und wir umarmten uns; ich war sicher, dass er vom Tod meiner Eltern wusste. Obwohl er zu lächeln versuchte, ging von ihm eine seltsame Traurigkeit aus. Das kleine Appartement war nicht sehr sauber. Es sah aus, als wäre es monatelang nicht mehr geputzt worden, und die Luft roch ziemlich muffig. Es gab nicht die Spur der Anwesenheit einer Frau.

Ich erinnerte mich an die Geschichten, die meine Mutter immer ihren Freundinnen erzählte, über Onkel Herschels schöne Wohnung und das schicke Arrondissement, in dem er lebte. Das kleine Appartement jedoch befand sich im dritten Stock, ohne Aufzug, in einem alten, vernachlässigten Gebäude, das große Stellen aufwies, an denen der Putz fehlte. Die Nachbarschaft war überhaupt nicht schön. Das Haus stand mitten in einem Arbeiterviertel, das von Bettlern, Straßenhändlern und Prostituierten nur so wimmelte. Hier hallte es von ständigem Lärm wider, und man hörte die verschiedensten Sprachen.

Ich war versucht, Onkel Herschel nach Annette zu fragen, doch ich hatte nicht den Mut. Was, wenn ihr während des Kriegs etwas Furchtbares passiert war? Ich hoffte, er würde es mir selber sagen. Er saß mir gegenüber und berichtete ausgiebig, wie schrecklich er den Krieg gefunden habe, wie betroffen er unseretwegen und wie schwer es auch für ihn gewesen sei. Seiner Erzählung nach hatte er im französischen Untergrund gegen die Nazis gekämpft. Eines Tages aber sei er sehr krank geworden und habe sich auf einem Bauernhof verstecken müssen, bis der Krieg vorüber war. Es sei ein großes Risiko gewesen, medizinische Hilfe zu suchen, doch irgendwie habe er alles überstanden. Er betrachte es als ein Wunder, am Leben geblieben zu sein.

Plötzlich wurde mir klar, dass dieser Fremde und ich sehr wenig gemein hatten, außer der Tatsache, dass er der Bruder meiner Mutter war. Er glich nicht einmal dem Onkel, den ich von dem Bild her kannte. Das beleidigte meine Erinnerung. Wie konnte ich diesen Fremden ohne das schöne lächelnde Gesicht der Frau neben ihm bloß akzeptieren? Als in unserer Unterhaltung eine lange Pause entstand, fragte ich ihn spontan: „Wie geht es Tante Annette, und wo ist sie?“ Zuerst sah er mich entgeistert an; dann sagte er zu mir, indem er seine Augen – wie auf dem Hochzeitsbild – auf etwas weit Entferntes richtete: „Annette und ich wurden vor ein paar Jahren geschieden. Wir konnten miteinander nicht auskommen. Deiner Mutter wollte ich davon nicht schreiben – ich wollte ihr die Peinlichkeit und den Kummer ersparen.“

Ich war schockiert und bestürzt zugleich. „Heißt das, dass ich sie nie mehr wiedersehen werde?“ fragte ich ihn.

„Nein, überhaupt nicht,“ antwortete er. „Ich glaube, das lässt sich arrangieren. Wir sind gute Freunde, und wir treffen uns von Zeit zu Zeit. Aber warum willst du sie denn sehen?“ fragte er. Weil ich keinen besseren Grund hatte, berichtete ich ihm von meiner langen Schwärmerei für ihr Hochzeitsbild, wie sehr ich Annettes Lächeln mochte und wie glücklich ich war, sie zur Tante zu haben.

Onkel Herschel blickte mich ungläubig an. In seinem erstaunten Gesicht sah ich, dass er sich fühlte, als würde er Zeuge einer Auferstehung. Ich muss noch anfügen, dass auch er auf jenem Bild stattlich und elegant aussah, obschon er nicht lächelte. Doch sein Ausdruck war jetzt kaum anders – nur ein leichtes Anheben eines Mundwinkels zeigte sich.

Zwei Tage später rief mich Onkel Herschel im Haus meines anderen Onkels an, bei dem ich wohnte, und bat mich, ihn am Abend bei sich zu Hause aufzusuchen; wir drei würden zum Abendessen ausgehen. Ich war sehr aufgeregt und dachte den ganzen Tag an das Treffen. Da er und Annette geschieden waren, bat er mich, sie nicht „Tante“ zu nennen.

An dem erwähnten Abend ging ich zu Onkel Herschel, und wir nahmen zusammen die Metro, um zu Annette zu fahren. Er lobte meine Pünktlichkeit. Mein Onkel war immer noch ein stattlicher Mann: groß, aufrecht, mit leicht grauen Schläfen. Er trug einen zweireihigen dunklen Anzug mit einer sehr farbenfrohen Seidenkrawatte. Als wir ankamen, erwartete uns Annette schon. Ich wurde ihr vorgestellt; wir schüttelten uns die Hände, und sie gab nur ein Wort von sich: „Enchantée.“ Wir beschlossen, zum Restaurant zu Fuß zu gehen. In der ganzen Zeit, die wir bis dort brauchten, stellte sie mir nur eine Frage: „Wie gefällt dir Paris?“ Ich erwiderte: „Ich mag es sehr.“

Annette war kaum derselbe Mensch, an den ich mich von dem Hochzeitsbild erinnerte. Ihr Haar war anders, sie wurde schon grau, und ihr Gesicht bekam erste Falten. Sie war ein bisschen füllig, aber ihre Hände waren überraschend schmal, mit langen Fingern. Sie trug ein graues Sommerkostüm mit einem Seidenschal um den Hals, der ihr etwas Farbe gab. Sie hatte keinerlei Make-up aufgelegt, aber ich entdeckte den Duft eines angenehmen Parfums. Ich zog den Schluss, dass sich beide geschmackvoll kleideten, und irgendwie gefiel mir das.

Onkel Herschel führte uns in ein Restaurant mit jüdischer Küche. Als wir ankamen, war es recht voll, doch bald darauf fanden wir Platz in einer ruhigen Ecke. Ich saß Annette gegenüber, Onkel Herschel saß links von mir. Es sei sein Lieblingstisch, sagte er zu mir. Annette sah mich mit einem leichten Lächeln an und fragte mich frei heraus: „Warum wolltest du mich eigentlich wiedersehen – wenn es dir nichts ausmacht, mir das zu sagen?“

Ich wusste nicht, wo beginnen; ich hatte kaum erwartet, dass sie mich so etwas fragen würde. Tausend verschiedene Gedanken gingen mir durch den Sinn. Ich muss rot geworden sein; Annette bemerkte es, lächelte und wandte sich Onkel Herschel zu: „Dein Onkel erzählt mir, dass du dich immer noch von dem Hochzeitsbild her an uns erinnerst. Stimmt das? Erkennst du uns noch wieder? Sind wir noch dieselben Leute? Findest du, dass ich derselbe Mensch bin? Sag es mir, und sei ehrlich.“

„Ja“, sagte ich, „wenn du lächelst, bist du dieselbe.“ Meine Stimme zitterte, und ich war verlegen. Ich wollte sie nicht beleidigen, und ich war nicht sicher, es nicht doch getan zu haben. Mir wurde klar, dass ich nichts zu antworten wusste. Ich war nur ein Kind, das vom Lächeln einer Frau betört worden war und jetzt, elf Jahre später – mit der Realität konfrontiert –, zu kneifen versuchte. Ich fühlte mich schlecht. Die Realität wurde meiner Erinnerung nicht gerecht.

Sie begannen mir leid zu tun. Warum hatten sie sich scheiden lassen? Ohne darüber noch einmal nachzudenken, fragte ich: „Was hat es für einen Sinn, sich scheiden zu lassen? Ist es nicht einsam, ohne Gefährten – all diese Jahre?“ Sie waren verblüfft. Naturgemäß hatten sie von diesem jungen Mann nicht erwartet, dass er ihnen eine Predigt über Moral oder Unmoral einer Scheidung hielt, ganz zu schweigen davon, dass er ein Urteil über ihr Privatleben abgab. „Verzeiht mir“, sagte ich, „ich weiß, es ist nicht meine Angelegenheit, aber als ich euch so zusammen sah, da konnte ich nicht anders, weil ihr meine Verwandten seid und ich das Gefühl habe, euch fast mein ganzes Leben lang gekannt zu haben.“

Annette lachte. Ich konnte daraus erkennen, dass sie mein Reden nicht recht ernst nahm. „Du redest, als hättest du entsprechende Erfahrung als Mann, dabei kennst du doch das Verheiratet-Sein gar nicht. Ich nehme an, du weißt nicht, was es heißt, eine schlechte Ehe zu führen. Glücklich waren dein Onkel und ich nur am Anfang. Da hatten wir eine gute gemeinsame Zeit, abgesehen davon, dass wir es gar nicht richtig zu schätzen wussten. Ich muss zugeben, dass es zu viel Einmischung seitens einiger meiner Angehörigen gab. In dieser Hinsicht hatte dein Onkel triftige Gründe.“ Onkel Herschel saß da und nippte an seinem Getränk, ruhig, nachdenklich, seine Augen auf irgendetwas in weiter Ferne gerichtet.

Es war schon spät am Abend, und das Restaurant war fast leer; es wurde Zeit für uns zu gehen. Wir gingen also zurück, begleiteten Annette zu ihrem Haus. Sie wohnte bei ihrem alten, kranken Vater. Sie war in sehr guter Stimmung, und ich hatte das Gefühl, sie mochte mich. Unterwegs zeigten sie mir verschiedene Pariser Wahrzeichen; als wir die Champs Elysées überquerten, erblickte ich den Arc de Triomphe und weiter in der Ferne den Eiffelturm.

Es herrschte eine festliche Stimmung in der Stadt. Paris bereitete sich darauf vor, den Tag der Erstürmung der Bastille zu feiern, erklärte mir Annette. Ich hatte nur noch zwei weitere Tage, bevor ich wieder nach Deutschland fahren würde, in meine zeitweilige Heimat, wo ich für die US-Army arbeitete. So gingen wir lange nebeneinander her, und ich lauschte ihren Erinnerungen an die gute alte Zeit, die Zeit vor dem Krieg.

Als der Abend zu Ende ging, waren wir alle erschöpft. Als ich Annette den Abschiedskuss gab, dämmerte es mir, dass sie sich nicht so dramatisch verändert hatte, wie ich es zuerst glaubte. Ich sagte ihr, wie sehr es mir gefallen habe, sie wiederzusehen; und fragte sie, ob ich sie, falls sie keine Einwände habe, „Tante“ nennen dürfe? „Das fände ich sehr schön,“ antwortete sie. Ihr weiches, warmes Lächeln gab es tatsächlich immer noch.

Am nächsten Tag ging ich zu Onkel Herschel, um Abschied zu nehmen. In einem alten, staubigen Rahmen über der Anrichte in seiner Wohnung bemerkte ich einen Abzug des Hochzeitsbilds. Ich war sprachlos und starr vor Staunen. Das war es, was ich in Wirklichkeit wollte: das Bild. Ob mein Onkel mir auch einen Abzug davon besorgen könne, fragte ich. „Ich wüsste nicht, warum nicht,“ sagte er. „Ich verspreche dir, einen Abzug machen zu lassen und ihn dir zu schicken.“

Bald darauf emigrierte ich nach Amerika. Einige Jahre vergingen, doch das Bild kam nie, und es war mir peinlich, meinen Onkel daran zu erinnern. Ein paar Jahre später, in den frühen fünfziger Jahren, erhielt ich einen Brief von Onkel Herschel mit der Mitteilung, dass er und Annette wieder geheiratet hätten; im Umschlag fand ich ein neues Hochzeitsbild. Diesmal war das Bild ein bisschen kleiner, aber es war sepiagetönt wie das erste. Das Brautpaar sah ein wenig älter aus; zwar zeigte Onkel Herschels Gesicht immer noch seinen Blick in weite Ferne, aber Annettes Lächeln war nahezu identisch mit dem, an das ich mich von früheren Jahren her immer erinnert hatte.

Anton der Taubenzüchter

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