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Der Füllfederhalter

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Ich habe in meinem Leben schon alle Arten von Geschichten gehört, ein paar bizarre, ein paar traurige, ein paar voll zufälliger Zusammentreffen. Aber diejenige, die ich jetzt erzählen will, ist, wenn schon weder bizarr noch traurig, so doch ganz und gar unglaublich. Eine Geschichte um einen Füllfederhalter, so wahr je eine Geschichte gewesen ist.

Als ich acht Jahre alt war, in den frühen dreißiger Jahren, kam eines Abends Herr Ginzburg, ein Kindheitsfreund meines Vaters und glühender Zionist, zu uns zu Besuch, um vor seiner Auswanderung nach Palästina Abschied zu nehmen. Herr Ginzburg war vielleicht Ende dreißig, mittelgroß und hatte volles, dunkles und lockiges Haar. Er trug eine goldgeränderte Brille, die ihn sehr distinguiert aussehen ließ. Er war in Straßenanzug mit Krawatte gekleidet, und über seinem Arm hing ein Regenschirm. Er sah immer aus, als ob er gleich an Bord eines Schiffes gehen werde.

Herr Ginzburg saß mit meinen Eltern am Esszimmertisch, trank Tee und aß Apfelkuchen – eine vielgerühmte Spezialität meiner Mutter – und erzählte uns alles über Palästina. Der Hauptgrund, nach Palästina zu gehen, so erinnere ich mich ihn sagen zu hören, sei, dass man beim Aufbau des Landes helfen müsse, denn es gebe dort viel zu tun, vor allem Sümpfe trockenzulegen und das Land urbar zu machen. Ich konnte mir Herrn Ginzburg nicht vorstellen, wie er Sümpfe trockenlegte, weil er wie ein Geschäftsmann aussah, nicht wie ein Arbeiter. Wie dem auch sei, er redete eine Menge darüber, wie wichtig es sei, das Land zu bestellen, und darüber, dass Palästina eines Tages ein jüdischer Staat werde. Wir lauschten alle angestrengt und wagten nicht, ihn zu unterbrechen. Als er zum Ende gekommen war, sah er meinen Vater an und sagte: „Und wann hast du vor, Polen zu verlassen, Henoch?“

„Wenn die Kinder mit ihrer Schulausbildung fertig sind,“ antwortete mein Vater. Und damit war das Thema erledigt.

Als wir vom Tisch aufstanden, griff Herr Ginzburg in seine Brusttasche und zog einen goldverzierten schwarzen Füllfederhalter hervor. Indem er ihn meinem Vater reichte, sagte er: „Dieser Füller ist ein Geschenk für dich, Henoch, damit du nicht vergisst, mir zu schreiben.“ Ich bemerkte den erstaunten Blick meines Vaters. Er griff rasch in die Westentasche und zog eine alte Münze heraus, eine Nachbildung zwar, aber sie war sein Talisman, der an einer kurzen Schlüsselkette hing. „Und dies ist etwas, das dich an mich erinnern soll,“ erwiderte mein Vater sehr aufgewühlt. Herr Ginzburg nahm die Münze und studierte sie eingehend von Nahem. Dann sagte er: „Eine römische Münze. Wie symbolträchtig. Danke dir, Henoch, danke dir.“ Niemand von uns hätte gedacht, dass Vater sich je von seiner römischen Münze trennen würde.

Sie schüttelten sich die Hände und küssten sich auf beide Wangen. Es war komisch, erwachsene Männer sich gegenseitig küssen zu sehen. Herr Ginzburg muss ein sehr emotionaler Mensch gewesen sein, denn ich sah Tränen in seinen Augen. Er küsste die Hand meiner Mutter, und ich hörte ihn auf Hebräisch sagen: „L‘Shana Haba‘ah B‘Yerushalayim – nächstes Jahr in Jerusalem,“ und dann war er fort.

Sobald Herr Ginzburg gegangen war, zeigte Vater uns den Füller. „Seht euch diesen Füller an“, sagte er, „mit dieser Goldverzierung, und seht hier: HG, die Initialen von mir, Henoch Gotfryd, die ja die gleichen wie seine sind, Herschel Ginzburg. Welch ein Zufall. Und welche Großzügigkeit! Das ist doch was, oder? Es muss ein teures Stück sein. Ich hätte ihn nicht annehmen dürfen, aber wie hätte ich ablehnen können? Schließlich sind wir alte Freunde.“ Mein Vater stand am Tisch, hielt den Füller und bestaunte ihn immer noch. Ich durfte ihn berühren, aber das war auch schon alles, weder Ausprobieren noch gar Auseinandernehmen waren erlaubt. Es fehle darin ja noch Tinte, stellte Vater fest, aber die werde er so bald wie möglich besorgen. Er deponierte den Füller in der Schublade, in der er seine Papiere, Rechnungen und Rezepte aufbewahrte, sowie auch ein paar ausländische Münzen, die er schon gesammelt hatte, als er noch ein Kind war. Er schloss die Schublade ab und nahm den Schlüssel an sich. Gewöhnlich war die Schublade unverschlossen, es sei denn, etwas Wertvolles wurde hineingelegt.

Nach einer Weile vergaß jeder in der Familie den Füllfederhalter, nur ich nicht. Ich spürte, dass an ihm etwas Magisches war. Die bloße Tatsache, Tinte hineinfüllen und ihn auseinander- und wieder zusammenbauen zu können, faszinierte mich. Man konnte ihn nicht mit meinem Schulfüller vergleichen, einem Federhalter aus rohem Holz mit am Ende befestigter Metallfeder, auch nicht einmal mit dem sehr verbesserten meines älteren Bruders. Keiner war mit dem meines Vaters zu vergleichen. Allein schon die Goldprägung ließ ihn wie ein Kunstwerk aussehen.

Gelegentlich sah ich Vater zwar Briefe schreiben, doch nie benutzte er den Füller, nicht ein einziges Mal. Er nahm immer seinen alten, der ständig seine Finger färbte, den tropfenden mit dem altmodischen Tintenbehälter. „Vater, warum nimmst du nicht den Füller?“ fragte ich ihn einmal. „Er ist das Geschenk eines Freundes, und ich möchte ihn schonen. Leicht könnte man ihn beschädigen,“ antwortete er.

Eines Tages kaufte Vater die Tinte. Er zog die Pumpe aus dem Inneren des Füllers heraus, reinigte sie mit Wasser und Seife, spülte sie mehrmals wieder aus, spritzte das blau verfärbte Wasser in den Ausguss und befüllte sie am Ende mit der frischen grünen Tinte. Ich beobachtete, wie er den kleinen Hebel drückte, um die Luft herauszusaugen, damit die Pumpe die Tinte aufnehmen konnte. Mich nahm allein schon der Vorgang als solcher gefangen, wenn ich auch feststellte, wie einfach das Ganze war. „Jetzt“, sagte Vater, „ist der Füller voll mit Tinte.“ Er schlug sein Notizbuch auf, setzte die Füllfeder feierlich aufs Papier und schrieb in einer raschen Bewegung seinen Namen. Ich konnte das Quietschen der Spitze auf dem weichen Papier hören. Es zog mir bis in die Zähne.

Plötzlich drehte sich Vater zu mir um und sagte: „Gefällt es dir, wie er schreibt?“ „Natürlich gefällt es mir“, antwortete ich mit einer Grimasse, „kann ich es probieren?“ „Na klar“, sagte Vater, „sei aber sehr behutsam.“ Ich schrieb meinen Namen mehrere Male neben seinen. „Großartig“, rief ich begeistert, „ich wünschte, ich hätte so einen Füller.“

Vater sah mich an und sagte: „Derjenige von euch Brüdern, der eines Tages vielleicht aufs Gymnasium* geht, wird ihn bekommen.“ Ich konnte mir nicht einmal vorstellen, wie viele Jahre das dauern würde. Ich war erst acht, und mein Bruder war schon fast vierzehn. Seine Chance, den Füller zu bekommen, war also viel größer als meine.

So wurde der Füller zum Gegenstand meiner Träume. Manchmal hielt ich auf meinem Nachhauseweg von der Schule am Schreibwarengeschäft an, um mir im Schaufenster Füller anzusehen, aber nie bekam ich einen wie den meines Vaters zu Gesicht. Als ich meinem Freund Saul vom Füller meines Vaters erzählte, hörte er zu, machte ein Gesicht wie immer, wenn ihm etwas nicht gefiel, und sagte: „Mein Vater besitzt auch einen, der ist ein Sammlerstück, und ich darf ihn soviel benutzen, wie ich will. Davon gibt es nur zehn auf der ganzen Welt.“

* Im amerikanischen Original bezeichnenderweise auf Deutsch erin-nerte Wörter und Passagen sind bei erstmaligem Erscheinen kursiv gesetzt (Anmerkung des Übersetzers).

Natürlich konnte ich damit nicht wetteifern, deshalb blieb ich stumm. Mir kamen jedoch Zweifel an Sauls Prahlerei. Ich hatte das Gefühl, er übertreibe etwas. Er besaß den Ruf, gewisse Dinge über die Maßen aufzublähen. Ich überlegte, wie ich meinen Vater womöglich überreden könnte, mir seinen Füller zum Gebrauch zu überlassen, damit ich mit Saul gleichzog. Ich beschloss, den richtigen Augenblick abzuwarten. Ich wartete und wartete, aber der richtige Moment kam nicht. Schließlich gab ich den ganzen Plan auf.

Einige Zeit später, als meine Eltern einmal für ein Wochenende fortfuhren, bemerkte ich, dass Vater vergessen hatte, die Schublade abzuschließen. Nachdem meine Geschwister schlafen gegangen waren, öffnete ich leise die Schublade und fand zu meiner Überraschung tatsächlich den Füller. Das Gefühl, ihn in meinen eigenen Händen zu halten, war unbeschreiblich; es war mehr, als ich aushalten konnte. Ich brach in Schweiß aus. Ich entnahm ihn der Schublade, schraubte die obere Hälfte ab, untersuchte den goldenen Bügel, die Goldverzierung und die Initialen HG zwischen zwei schmalen Ringen. Der Füller war geformt wie eine dünne Zigarre. Ja, ein Kunstwerk.

Aus meinem Notizbuch riss ich eine Seite heraus und fing an, meinen Namen zu schreiben, dann die Namen meiner Geschwister. Zuerst schien alles etwas unförmig, aber nach einer Weile trieb ich es so weit, zu versuchen, die Unterschrift meines Vaters nachzumachen, was ziemlich unleserlich und abstrus ausfiel. Wie ich so die Seite vollschrieb, stellte ich fest, dass die Art und Weise, wie der Füller funktionierte, nichts Ungewöhnliches an sich hatte. Vielleicht war die Federspitze weicher und biegsamer als die meines Schulfederhalters, und deshalb erzeugte sie eher so etwas wie eine kalligraphische Wirkung. Ich riss noch eine Seite heraus und übte mich in noch mehr Kalligraphie. Wie die aussehen sollte, davon hatte ich nur eine vage Vorstellung. Bald wurde ich müde und schläfrig. In der Hoffnung, Vater würde nichts herausbekommen, säuberte ich den Füller und deponierte ihn wieder in der Schublade, wie ich ihn vorgefunden hatte.

Es war fast Mitternacht und Vollmond. Außer dem Summen einer Fliege, die gegen die Fensterscheibe prallte, war es still im Haus. Durch das Schlafzimmerfenster konnte ich die angrenzenden Dächer sehen, mit einem Haufen seltsam anmutender schmaler Schornsteine, die von runden metallenen Helmen gekrönt waren, welche das Mondlicht schwach widerspiegelten.

Es hatte etwas Groteskes.

Ich fasste den Entschluss, die Seite mit meinen kalligraphischen Übungen aufzuheben, um sie meinem Freund Saul zu zeigen. Ich wollte mit ihm gerne quitt sein und ihm beweisen, dass auch ich meines Vaters Füller, wann ich nur wollte, benutzen durfte. Als ich ihm das Blatt brachte, war Saul mitnichten beeindruckt. „Das soll Schönschrift sein? Und mit einem Füller geschrieben?“ fragte er nach. „Es sieht aus, als hätte es ein Huhn hingekritzelt,“ sagte er.

Ich war gekränkt. Es hörte wohl nie auf: Sauls Bemühungen mussten immer erfolgreicher sein als meine, und ich konnte nicht verstehen, warum. Ich wünschte mir, mich an ihm auf die schlimmste Weise zu rächen und ihm zu beweisen, dass ich genauso gut war wie er.

Die Zeit verging, und die Gelegenheiten, den Füller zu benutzen, wurden weniger, besonders nachdem Vater es sich zur Gewohnheit machte, die Schublade doch immer abzuschließen. Ich durfte an das gute Stück einfach nicht mehr denken.

Ein paar Jahre später, 1939, brach der Zweite Weltkrieg aus, und die Nazis besetzten unsere Stadt. Im April 1941 mussten wir unsere Wohnung mit allem, was darin war, aufgeben und in ein neu geschaffenes Ghetto ziehen. Mein Vater hatte nicht die geringste Chance, den Inhalt seiner Schublade mitzunehmen; alles einschließlich des Füllers musste zurückgelassen werden. Es war kaum genug Zeit, auch nur das Nötigste zusammenzusuchen, vor allem Kleidung. Die Gestapo konfiszierte die Wohnung mit allem Inventar. Es tat mir leid, dass Vater seinen Füller verlor, aber es gab Wichtigeres, worum man sich Sorgen machen musste. Es war ja unser Leben, das in ständiger Gefahr schwebte.

In dieser Zeit machte ich eine Lehre in einem Fotostudio, das Herrn Orenstein gehörte, einem Freund der Familie. Er erledigte Bildbearbeitungen für die Gestapo. Bei dieser holte ich regelmäßig Negative und lieferte sie ihnen retuschiert wieder ab. Eines Tages im Winter 1941/42, während ich bei der Gestapo auf Negative wartete, kam ein großgewachsener Offizier mit Narben im Gesicht herein und fragte den Gestapo-Fotografen Helmut Reiner, ob er jemanden kenne, der Füllfederhalter repariere. „Natürlich“, antwortete Reiner, „zufällig kenne ich im Ghetto einen Juden, der so etwas macht. Er repariert auch wertvolle Uhren. Er ist sehr gut und recht billig.“

Der Offizier zog einen Füller aus der Tasche und übergab ihn Reiner. „Ich wäre dankbar, wenn Sie das für mich erledigen könnten. Ich glaube, die Pumpe leckt,“ sagte er.

Von da aus, wo ich saß, konnte ich den Füller sehen. Er war schwarz und mit Blattgold verziert wie der meines Vaters. Ich war verblüfft. Der Offizier hinterließ den Füller bei Reiner und marschierte wieder hinaus. Konnte dies tatsächlich der Füller meines Vaters sein?, fragte ich mich. Reiner steckte ihn in seine Tasche und ging ins Hinterzimmer. Ein paar Minuten später erschien er mit einer Schachtel, darin die Negative. „Also“, sagte er, „hier sind die Negative für Herrn Orenstein. Aber ich hab auch noch etwas anderes, was du bitte für mich tun sollst, und zwar sollst du ein Päckchen bei einem Herrn Goldschlager abgeben, der auch im Ghetto wohnt. Das dürfte ja nicht schwierig sein. Instruktionen für ihn lege ich bei. Sei vorsichtig und verliere es nicht. Es ist ein sehr teurer Füllfederhalter darin, und der gehört nicht mir. Er gehört meinem Vorgesetzten, Obersturmführer Heinz Gahr.“ Reiner steckte den Füller mit den Instruktionen in einen braunen Umschlag, versiegelte diesen und übergab ihn mir. „Ich werde sehr vorsichtig sein, Herr Reiner,“ sagte ich.

Mein Herz schlug heftig, als ich sein Büro verließ. Das Päckchen steckte ich in meine Brusttasche, so dass ich den Füller an meiner Brust spüren konnte. Es war ein langer Weg zurück zu Herrn Orensteins Studio. Sobald ich um die Ecke bog, war ich versucht, das Päckchen zu öffnen und den Füller genauer zu untersuchen, aber ich entschied mich dagegen. Man stelle sich vor, jemand folgte mir. Schließlich war es ein Handel mit der Gestapo, und das allein war für mich schon erschreckend genug. Jedes Mal wenn ich eine Straße zu überqueren hatte, hielt ich eine Sekunde an und befühlte die linke Seite meiner Brust, um mich zu vergewissern, dass das Päckchen noch in meiner Tasche war. Als ich im Studio ankam, war ich mit den Nerven am Ende. Ich übergab Herrn Orenstein nur noch die Negative und zog mich in die Werkstatt zurück.

Das Päckchen wollte ich nach Feierabend auf meinem Heimweg abliefern. Vor lauter Angst, es könne sonst aus der Tasche fallen, behielt ich meine Jacke an. Gott schütze mich, dachte ich, wenn dem Füller etwas passierte. War es möglich, dass es sich um den meines Vaters handelte?, fragte ich mich immer wieder. Und was, wenn er es wäre? Wie konnte ich dann irgendetwas in der Sache tun? Schließlich, so argumentierte ich durchaus logisch, war der Füller meines Vaters nicht der einzige schwarze, goldgeprägte auf der Welt.

Die Szene, wie Herr Ginzburg sich von meinen Eltern verabschiedete, kam mir wieder in den Sinn. Zehn Jahre waren seitdem vergangen. Ich hätte gerne gewusst, wie es ihm in Palästina inzwischen ergangen war. Ich konnte mir ausmalen, wie er, mit der sengend heißen Sonne im Rücken, in Gummistiefeln in einem Graben stand und Sümpfe trockenlegte. Wenn der wüsste, was seinem Füller passiert war, dachte ich.

Es war schon nach Einbruch der Dunkelheit und Zeit, den Heimweg anzutreten. Als ich losging, fing es an zu regnen, und ein böiger Wind trieb mich die Gehwege entlang vor sich her. Völlig durchnässt schaffte ich es bis ins Ghetto und fand das Haus, in dem Herr Goldschlager wohnte.

Herr Goldschlager, ein kleiner, dünner, schon etwas älterer Mann, lebte in einem winzigen Raum, der mit einer Vielzahl von Möbelstücken vollgestopft war. Auf seiner Nase saß eine Brille mit dicken Gläsern und einem Vergrößerungsaufsatz von den Ausmaßen eines Scharfschützenvisiers, was seinen rechten Augapfel doppelt so groß erscheinen ließ. Im Gesicht hatte er mehrere Tage alte Bartstoppeln, was ihn dem Schauspieler Paul Muni in dem Film Ich bin ein entflohener Kettensträfling ähneln ließ. Über einem grünen Pullover, der an den Ellbogen abgeschabt war, hing eine gänzlich ausgebleichte Lederschürze voller verbrannter Stellen und Flecken. Der Ort roch nach Kerosin und ließ mich niesen.

Als Herr Goldschlager den Umschlag öffnete, konnte ich ihn gut beobachten. Als erstes kam die obere Hälfte des Füllers zum Vorschein, und ich erblickte die Initialen. Der Füller war mit dem meines Vaters identisch und trug zudem auch die Initialen HG. Ich hatte keinen Zweifel mehr. Er musste der meines Vaters sein. Der Gestapomann Heinz Gahr, der ihn zur Reparatur gegeben hatte, musste also der Plünderer unserer Wohnung sein, so folgerte ich.

„Welches Fabrikat ist der Füller eigentlich?“ fragte ich Herrn Goldschlager. „Das ist ein Waterman, ein sehr feines Markengerät“, sagte er, indem er ihn näher untersuchte. „Interessierst du dich für Füllfederhalter?“ „Ja, zufällig mag ich Füllfederhalter“, antwortete ich, beschloss aber, ihm nicht zu verraten, dass dieser meinem Vater gehört hatte.

„Sag Reiner, es wird eine Weile dauern, bis ich eine neue Pumpe finde. Ich werde alles versuchen, aber es ist heutzutage schwierig, Ersatzteile zu bekommen,“ sagte Herr Goldschlager. Ich dankte ihm, wünschte ihm einen guten Abend und ging.

Sollte ich meinem Vater von dem Füller erzählen? Und dass ich ihn persönlich von der Gestapo zur Reparatur ins Ghetto brachte? Wenn ich ihm dies berichtete, würde er nicht zu Herrn Goldschlager gehen wollen, um ihn zu untersuchen? Angenommen, Herr Goldschlager würde ihn nicht zeigen wollen? Was ja gut möglich war, weil er jetzt einem Gestapomann gehörte. Was dann? Ich nahm mir vor, meinem Vater gegenüber nichts zu erwähnen.

In dieser Nacht tat ich kein Auge zu, und zwar nicht, weil ich nicht müde war oder an Schlaflosigkeit litt. Ich war einfach zu sehr mit dem Füller meines Vaters beschäftigt, was mir ganz schön Angst machte, wenn nicht gar eine Art Verfolgungswahn bewirkte.

Der Morgen dämmerte schon, als ich endlich einnickte. Bald darauf hörte ich meine Mutter rufen: „Zeit aufzustehen, mein Junge.“ Es war kalt im Haus. Ich zog mich rasch an und lief hinaus, um Brennholz zu holen, aber es war kaum noch etwas übrig, nur gerade ausreichend, um Wasser zu kochen. Ich saß in der Küche, nippte an meiner Zichorienbrühe, dachte an den Füller, beobachtete meinen Vater und fragte mich immer wieder, ob ich es ihm nicht doch erzählen sollte.

„Erzähl’ mir was Interessantes,“ hörte ich plötzlich meinen Vater sagen. „Gibt’s irgendwas Neues in der Welt?“ fragte er und schaute mich mit seinen traurigen Augen an. „Ich habe gehört, dass die Alliierten das Reich höllisch bombardieren“, sagte ich sehr beiläufig, „und dass eine Menge Nazi-Familien in die besetzten Gebiete evakuiert werden, und zwar hauptsächlich nach Polen.“ „Nun, das ist eine gute und eine schlechte Nachricht,“ sagte Vater. „Es ist gut, dass die Nazis langsam einen Vorgeschmack auf das Ende bekommen, aber es ist schlecht, dass sie hierher kommen. Leider wird es dann eine schreckliche Nahrungsmittelknappheit geben,“ sagte er weiter und schaute aus dem Fenster. Wieder war ich versucht, ihm von dem Füller zu erzählen, und wieder entschied ich mich dagegen. Warum sollte ich seinen Enttäuschungen noch eine weitere hinzufügen? Wenn ich doch nur einen Weg finden könnte, den Füller zu retten, ohne mein Leben oder das von Herrn Goldschlager aufs Spiel zu setzen.

Ein paar Tage darauf kam ein Pole, ein Architekt, ins Studio, um ein paar Entwürfe kopieren zu lassen. Als ich ihn bat, die Empfangsbestätigung mit seinem Namen und seiner Anschrift zu versehen, benutzte er einen schwarzen Füllfederhalter. Der sah genauso aus wie der meines Vaters, nur ohne irgendwelche Verzierung oder gar Initialen. „Wo kann man so ein Gerät bekommen?“ fragte ich ihn. „Solch einen Waterman,“ erwiderte er, „kann man nicht in irgendwelchen Läden finden, jedenfalls jetzt nicht mehr. Ich besitze diesen hier schon eine ganze Zeit. Aber wenn du an ihm interessiert bist, tausche ich ihn gern gegen ein Dutzend Rollen 35mm-Film.“

In zwei Tagen würde er wiederkommen, um seine kopierten Pläne abzuholen. Wie sollte ich bis dahin an so viele Filmrollen kommen? An Film war überhaupt kaum zu kommen, vor allem nicht an 35mm.

Am selben Nachmittag kam ein Stammkunde herein, Kurt, ein SS-Mann; er wollte seine Bilder abholen. Ich kannte Kurt gut genug, um ihn zu fragen, ob er mir womöglich Filmrollen besorgen könne. „Warum nicht?“ antwortete er, und am folgenden Tag überreichte er mir ein Dutzend Rollen Film, für die ich meinen ganzen Wochenlohn hergab.

Als der Architekt wegen seiner Kopierarbeiten wiederkam, tauschten wir die Gegenstände. Er war ganz entzückt, das Filmmaterial zu erhalten, und ich war überwältigt, den Füller zu besitzen.

Als nächstes galt es, die Goldprägung und die Initialen nachzuahmen. Ich ging wieder ins Ghetto, um Herrn Goldschlager aufzusuchen, und zeigte ihm das neuerworbene Stück. „Könnten Sie auf diesen Füller Initialen in Gold prägen?“ fragte ich. Ziemlich komisch besah er sich durch seine dicken Linsen erst den Füller, dann mich. „Das ist ein sehr hübscher Waterman,“ antwortete er. „Aber warum musst du ihn unbedingt verzieren lassen, das ist doch recht altmodisch. Warum nicht einfach Initialen zwischen den beiden Ringen? Ohne Verzierung würde er um so viel schicker aussehen.“ Da erklärte ich ihm, dass mein Vater einen verzierten Füller besaß, ihn aber verloren habe, und dass ich ihn zu seinem bevorstehenden Geburtstag mit einem identischen überraschen wolle. Aus dem Kopf versuchte ich, die Art der Verzierung zu skizzieren, aber Herr Goldschlager kannte das Muster. „Und wie ist es mit den Kosten?“ forschte ich nach. „Also, Gold würde natürlich sehr teuer, aber warum kannst du es nicht bei einer Messinglegierung belassen? Die sieht fast genauso aus wie Gold, ist dafür aber recht günstig. Dann bräuchten dich die Kosten nicht zu beunruhigen,“ sagte er.

Ich entschied mich gegen die Verzierungen, weil ich sie mir überhaupt nicht leisten konnte. Mein Auftrag lautete: nur die Initialen. Über den Preis wurden wir uns einig und schüttelten uns die Hände. Außerdem versprach ich ihm Zigaretten, die ich gelegentlich von deutschen Soldaten erhielt, deren Filme ich pünktlich entwickelte. In ungefähr zwei Wochen werde er die Sache erledigt haben, sagte Herr Goldschlager, und ich überließ ihm das gute Stück und ging recht fröhlich nach Hause. Vaters Gesichtsausdruck konnte ich mir vorstellen, wenn ich ihm den Füller präsentierte. Doch was würde ich ihm sagen? Ein Geschenk? Eine Überraschung?

Der Winter 1941/42 war streng, und die Lebensmittelknappheit wurde kritisch. An der russischen Front waren die Nazis siegreich. Zumindest druckten sie das in ihren Zeitungen. Zum Glück war das Fotostudio, in dem ich arbeitete, eine gute Quelle für Extrarationen und deutsche Zigaretten, die auf dem freien Markt unmöglich zu bekommen waren. Sogar Brot wurde schon rationiert. Bei Gelegenheit zwackte ich ein paar Zigaretten für Herrn Goldschlager ab, der immer bereit war, für eine Zigarette eine ganze Mahlzeit zu opfern.

Kurz vor Ablauf der vereinbarten zwei Wochen hielt ich eines Abends auf meinem Heimweg von der Arbeit bei Herrn Goldschlager an. „Ich bin so froh, dass du kommst,“ sagte er, als ich hineinging. „Ich muss dir etwas erzählen. Bitte, setz dich. Es ist eine wahrhaft unglaubliche Geschichte, aber ich hoffe, du wirst sie mir glauben.“ Er zündete sich eine Zigarette an, nahm einen langen Zug, und fing an zu sprechen: „Gestern kam ein gewisser Heinz Gahr, der Gestapomann, um den Füller abzuholen, den du mir vor einiger Zeit zur Reparatur hereingebracht hast. Ich gab ihm das Gerät, er probierte es aus, und er schien zufrieden zu sein. Plötzlich bemerkte er deinen Füller auf der Werkbank, an dem ich gerade noch letzte Hand anlegen wollte, und fragte mich, was das denn für einer sei. Ich erklärte ihm, das sei der Füller eines anderen Kunden und wie mein Auftrag diesbezüglich laute, aber er besah sich ihn augenscheinlich interessiert weiter. Schließlich sagte er: ‚Nehmen wir an, ich würde Ihnen sagen, dass mir zufällig dieser viel besser gefällt als mein eigener und dass ich gerne tauschen würde. Erstaunlich, er trägt ja sogar meine Initialen. Ich hoffe, Sie bemerken, dass ich auch beide nehmen könnte, ohne Ihnen auch nur einen Pfennig zu zahlen, und dass Sie gar nichts dagegen machen könnten. Nicht wahr? Aber ich bin ein Ehrenmann. Ich will Sie für alle Arbeiten, die Sie ausgeführt haben, gern bezahlen, Sie geben meinen Füller Ihrem anderen Kunden, und ich erhalte den, an dem Sie gerade arbeiten.’ Und so musste ich natürlich einwilligen. Was hättest du an meiner Stelle getan? Die Gestapo gerufen?“ fragte Herr Goldschlager und seufzte tief.

„Ich weiß, Sie hatten keine andere Wahl,“ antwortete ich.

„Also brauchst du nur noch diesen Füller zu nehmen und schuldest mir nichts,“ sagte er, „denn der Gestapomann wird alles bezahlen, wenn er wiederkommt, um den anderen abzuholen. Zumindest hat er das gesagt. Und ich danke dir für all die Zigaretten. Die hielten mich wahrhaftig am Leben.“

Ich bedankte mich bei ihm und versicherte, dass es mir angesichts der identischen Initialen eigentlich gleichgültig sei, welchen der beiden ich nun erhielte. Er sah reichlich verblüfft aus. „Daran hab ich noch gar nicht gedacht,“ sagte er, „aber das ist ja wirklich ein überraschendes Zusammentreffen...

Wie dem auch sei, ich hoffe, deinem Vater gefällt der Füller,“ fügte er noch hinzu und schenkte mir dabei einen seltsamen Blick.

Ich versprach ihm weitere Zigaretten, sobald ich welche hätte, und ging. Nie mehr rannte ich so schnell nach Hause wie an jenem Abend. Ich war völlig außer Atem. Ich konnte es nicht erwarten, den Gesichtsausdruck meines Vaters beim Anblick des Füllers zu sehen.

Mein Vater wärmte sich gerade die Hände über dem ausgehenden Feuer im Herd, als ich den Füller hervorholte und ihm, ohne ein Wort zu sagen, überreichte. Sprachlos und mit einem ungläubigen Ausdruck sah er ihn an und blickte dann zu mir. Endlich fand er wieder Worte. „Aber..., aber wo hast du denn den her?“ fragte er. Er schraubte die obere Hälfte ab, und als er feststellte, dass Tinte im Tank war, zog er einen zerknitterten Papierschnipsel aus der Tasche und schrieb mehrere Male seinen Namen. Er war sichtlich bewegt.

„Ich hoffe, du erzählst mir, wo und wie du ihn gefunden hast, nicht wahr?“ sagte er und sah mir direkt ins Gesicht.

„Vater, es ist eine sehr verwickelte Geschichte,“ antwortete ich. „Ich wüsste nicht, wo ich beginnen sollte, und selbst wenn es mir gelänge, es dir zu erzählen, denke ich nicht, dass du mir glauben würdest.“

„Es tut ja eigentlich auch nichts zur Sache, aber ich hätte nichts dagegen, wenn du es mir trotzdem erzählst.“

„Vielleicht werde ich es einmal, aber nicht jetzt gleich,“ sagte ich, genauso bewegt wie mein Vater.

„Danke dir, danke. Das ist mal wirklich etwas! Offen gestanden habe ich nicht erwartet, diesen Füller je wiederzusehen,“ sagte er und steckte ihn ein. „Von jetzt an werde ich ihn immer bei mir behalten. Kein Verstecken mehr in Schubladen...“ Und den Rest des Abends verbrachte er damit, den Füller immer wieder hervorzuholen, ihn genau zu untersuchen und ihn zurück in die Tasche gleiten zu lassen.

Bald darauf fanden im Ghetto eine Reihe Deportationen statt, und Herr Goldschlager wurde mit vielen tausend anderen fortgeschafft. Meinen Vater verlegten sie ins Arbeitslager Szkolna, und so kam es, dass wir getrennt wurden.

Viele Jahre später traf ich in New York einen Mann aus meiner Heimatstadt, der mir erzählte, dass er mit meinem Vater im Lager Szkolna war, und dass er Vater eines Tages dabei geholfen habe, seinen Füllfederhalter gegen einen Laib Brot zu tauschen.

Anton der Taubenzüchter

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