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Der Obristen-Prozess

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Der Saal 218 des Stendaler Landgerichts platzt am 28. September 1999 aus allen Nähten. Über 100 Zuhörer wollen den Auftakt des bisher größten Grenzerprozesses in Sachsen-Anhalt nicht versäumen. Die Mehrzahl der Anwesenden – zumeist selbst Ex-Offiziere – ist gekommen, um ihren ehemaligen NVA-Kameraden auf der Anklagebank den Rücken zu stärken.

Gerangel um die Plätze. „Wir lassen unsere Genossen doch nicht allein“, formuliert ein NVA-Major a. D. den „Tagesbefehl“. Wo sonst fast gähnende Leere herrscht, müssen Justizbeamte nachrüsten. Selbst im Richterzimmer werden Sitzgelegenheiten requiriert und in den Saal 218 getragen. „Das hat doch Methode“, vermutet ein ehemaliger DDR-Offizier, der wie viele seiner einstigen Mitkämpfer im Gang steht. Die Stimmung ist gereizt. „Was haben denn die Schüler hier zu suchen“, beschwert sich eine Offiziersgattin, die ebenfalls noch keinen Platz gefunden hat. „Wir weichen und wanken nicht“, droht ein Grauhaariger. „Dann bleiben wir eben im Flur stehen.“

Doch dazu kommt es nicht. Kurz vor 13 Uhr haben alle einen Platz gefunden. Und die Magdeburger Staatsanwältin Antje Walter kann die Anklage gegen sieben Ex-Obristen des Grenzkommandos Nord verlesen. Lantfried Kaltofen (70), Alfred Hamberger (70), Horst Gäbler (71), Werner Heinig (66), Siegfried Schumacher (59), Frank Boraschke (53) und Frithjof Banisch (52) wird in unterschiedlicher Beteiligung Beihilfe zum Todschlag, Beihilfe zum versuchten Todschlag, gefährliche Körperverletzung bzw. Beihilfe zur gefährlichen Körperverletzung vorgeworfen.

„Die Angeklagten haben maßgeblich mit an der jährlichen Erarbeitung und Durchsetzung des ‚Befehls 40‘ mitgewirkt“, sagte die Staatsanwältin. Die Stellvertreter des Grenzkommando-Kommandeurs seien somit federführend an der Sicherung der innerdeutschen Grenze durch Minen, Selbstschussanlagen und Einsatz der Schusswaffe beteiligt gewesen und hätten somit auch „den Tod von Flüchtlingen billigend in Kauf genommen“.

Die Anklägerin bezieht sich auf vier Todesfälle und sieben versuchte Tötungen während der Dienstzeit der sieben Offiziere a. D. So hatten am 17. April 1972 drei Jugendliche bei Oebisfelde die Flucht in den Westen versucht. Dabei war die 15-jährige Heidi Schapitz von Schüssen eines Grenzers getötet worden, als sie bereits mit dem Oberkörper über dem Zaunrand lag. Hans Franck (26) wurde am 16. Januar 1973 die Selbstschussanlage bei Blütlingen in der Altmark zum Verhängnis. Er konnte sich zwar noch in die BRD schleppen, starb dort jedoch einen Tag später im Krankenhaus von Dannenberg. Wolfgang Vogler (25) versuchte am 14. Juli 1974 bei Hohegeiß im Harz zu flüchten. Zwei SM70-Splitterminen verletzten ihn schwer. Er starb am 15. Juli in einer Magdeburger Klinik. Auch Wolfgang Bothe (28) überlebte die Detonation einer Splittermine nicht. Bei seinem Versuch am 7. April 1980 bei Veltheim (Kreis Halberstadt) die Grenzanlagen zu überwinden, wurde er schwer verletzt. Er starb vier Tage später.

Andere Flüchtlinge hatten „Glück“. Sie wurden „nur“ verstümmelt. Der letzte dieser sieben als „versuchte Tötungen“ angeklagten Fälle ist auf den 26. Juni 1984 datiert.

Wie bei ähnlich gelagerten Fällen üblich taktieren die Anwälte der Angeklagten mit Anträgen. Der erste betrifft die Verhandlungsfähigkeit des ehemaligen Kommandeursstellvertreters Alfred Hamberger – zuständig für die Grenz-Ausbildung zwischen der Lübecker Bucht im Norden und Drei Annen Hohne im Harz. Die 2. Große Strafkammer entscheidet: verhandlungsfähig.

Dann beantragt Suzanne L. Kossack, die Berliner Rechtsanwältin von Frithjof Banisch, die Einstellung des Verfahrens gegen ihren Mandanten. Sie vermied es zwar das Wort „Siegerjustiz“ in den Mund zu nehmen, allerdings stand der Begriff im Raum als sie sagte, dass mit bundesdeutschen Recht nicht über Personen gerichtet werden darf, die nach Gesetzen der DDR, eines souveränen Staates, gehandelt haben. „Soweit im Verfahren gegen den Angeklagten ausschließlich Richter der alten Bundesrepublik, die ihren Eid auf diese alte Bundesrepublik abgelegt haben, über Hoheitsträger eines anderen Staates, nämlich der DDR entscheiden, die sich mit der Bundesrepublik im Zustand des Kalten Krieges befand, kann ein solches Verfahren nicht fair genannt werden“, sagte die Anwältin. Die Rechtsvertreter der übrigen Angeklagten schließen sich dem Antrag ihrer Kollegin an.

In der Beratungspause schlagen bei den Ex-Offizieren unter den Zuschauern die Wellen erneut hoch. „Man kann doch nicht ein ganzes Volk auf die Anklagebank setzen“, sagt ein Oberstleutnant a. D. aus Stendal. Schließlich sei doch in jeder DDR-Familie jemand bei der NVA gewesen. Von Okkupation durch den Westen ist die Rede und davon, wie die Truppe auch jetzt noch zusammenhält, sich trifft und Wunden leckt. „Wie dieser Staat mit uns umgeht, das vergisst keiner“, sagt ein anderer. „Ich werde es sicher nicht mehr erleben, was die Zukunft bringen wird, aber …“ Das „aber“ bleibt ungesagt.

7. Oktober 1999 – in der DDR Feiertag. Erneut ist der Gerichtssaal 218 brechend voll. Auch am zweiten Tag des Grenzerprozesses sind wiederum viele NVA-Kameraden in die Altmarkstadt gekommen.

„Eine Schweinerei, die Leute müssten sofort freigesprochen werden“, schimpft einer der Zuhörer. „Am 50. Jahrestag der DDR gegen Grenzer zu verhandeln, ist eine Provokation.“ Ein anderer Ex-Offizier stimmt zu: „Der zuerst geplante Termin für die Urteilverkündung, der 1. Dezember, ist genauso eine Frechheit. Schließlich ist das der Tag der Grenztruppen der DDR.“ Die Tragik der „Ereignisse an der Staatsgrenze“ sei jedoch nicht zu leugnen. Sie stünden allerdings auf einem anderen Blatt. Hans-Jürgen Przybysz, Grenzoffizier a. D. nachdenklich: „Soll wirklich 40 Jahre alles falsch gewesen sein, wofür ich gelebt habe?“

Hilmar Rettkowski, Vorsitzender Richter der 2. Großen Strafkammer, weist zu Beginn des zweiten Verhandlungstages die von Anwälten der Angeklagten am 28. September gestellten Anträge ab. Dabei geht es unter anderem darum, welches Recht – DDR oder BRD – angewendet werden soll. Das zu entscheiden, werde die Beweisaufnahme zeigen, so Hilmar Rettkowski. Zur „Tötung unbewaffneter Republikflüchtlinge“ hätten sich allerdings Gerichte schon „abschließend und somit bindend“ geäußert.

Zum Vorwurf, dass West-Richter nicht fair über Hoheitsträger der DDR urteilen können, sagt der Vorsitzende Richter, dass alle drei anwesenden Berufsrichter erst nach dem 3. Oktober 1990 in Sachsen-Anhalt vereidigt wurden.

Rechtsanwalt Günter Krüger aus Stendal beantragt darauf hin, das Verfahren gegen seinen Mandanten Lantfried Kaltofen einzustellen. Der Ex-Stabschef habe weder gegen die Verfassung, noch gegen Gesetze der DDR oder Dienstvorschriften der Grenztruppen verstoßen. „Pflichtbewusstes Handeln kann keine Straftat sein“, so der Anwalt. Als Stabschef sei sein Mandant „nicht für den pioniertechnischen Ausbau der Grenze zuständig gewesen“.

Er bezieht sich damit auf den so genannten „Befehl 40“, der jährlich vom Kommandeur und seinen Stellvertretern erarbeitet wurde und in dem es um die Grenzsicherung, zum Beispiel durch Schusswaffeneinsatz, Minen und Selbstschussanlagen ging. Der „Teilbeitrag“, den der Oberst a. D. zum „Befehl 40“ der Jahre 1982 und 1983 leistete, habe „nur vorschlagenden Charakter“ gehabt. Außerdem habe es während dieser zwei Jahre am Grenzabschnitt zwischen der Lübecker Bucht und dem Südharz keine Verletzten oder Toten gegeben. „Der Schuldvorwurf gegen meinen Mandanten ist somit unbegründet“, sagt Günter Krüger.

Zum Grenzregime der DDR merkt der Verteidiger an, dass alle Maßnahmen getroffen wurden, Personen, die unberechtigt die Grenze überschreiten wollten, zu schützen. „Der Auftrag lautete deshalb eindeutig, Grenzverletzer vor den Minensperren zu stellen, damit sie nicht zu Schaden kommen.“ Außerdem sei organisiert worden, Personen, die trotzdem auf das Minenfeld gerieten, erste Hilfe zu leisten und in die nächste Klinik zu transportieren.

Auf 41 Seiten begründet dann Rechtsanwalt Dr. Frank Osterloh, warum sich auch sein Mandant Horst Gäbler in keiner Weise schuldig gemacht habe. Der Befehl zur Verminung der West-Grenze sei bereits am 14. September 1961 durch den Oberbefehlshaber der sowjetischen Streitkräfte in der DDR, Marschall Konjew ergangen, um die Schnittstelle zwischen Kapitalismus und Sozialismus zu sichern. „Als Mitglied des Warschauer Paktes hatte die DDR keine Möglichkeit auszubrechen.“

Die Minen seien deutlich sichtbar gewesen, und nur wer wissentlich in Kauf nahm, sich in Lebensgefahr zu begeben, habe die Minenfelder betreten. „Außerdem sind Minen und Selbstschussanlagen immer gegen den äußeren Feind gerichtet gewesen“, sagt der Anwalt des Ex-Politstellvertreters. Und das sei schließlich legitimes Recht jedes souveränen Staates. „Keiner regt sich über die Grenzminen zwischen der Türkei und Griechenland auf.“

Als Frank Osterloh sagt, dass der damalige Justizminister Klaus Kinkel die Gerichte angewiesen habe, mit politischen Prozessen so genanntes DDR-Unrecht aufzuarbeiten, konterte der Vorsitzende Richter: „Ob Kinkel irgendetwas sagt, oder in China fällt ein Sack Reis um – wir sind ein unabhängiges Gericht.“ Dafür erntete Hilmar Rettkowski unverhohlenes Gelächter aus dem Saal.

Der Rechtsanwalt vom ehemaligen Politstellvertreter Frank Boraschke schließt sich dem Antrag seines Berliner Kollegen nicht an. Mit Hinweis auf die Unterstellung, dass die Gerichte auf Anweisung handeln würden, sagte er: „Den Vorwurf, dass die Richter der Bundesrepublik bei Prozessen gegen Hoheitsträger der DDR willkürlich handeln, kann ich nicht teilen.“

Am 5. Tag des Grenzerprozesses verliest der Vorsitzende Richter Hilmar Rettkowski zwei vertrauliche Verschluss-Sachen der DDR-Grenztruppen. Anhand der „Funktionsverteilungspläne“ und der „Führungsgrundsätze“ wollen sich Gericht, Staatsanwältin und Verteidiger ein Bild von den Unterstellungsverhältnissen und den Aufgaben der Grenztruppenbereiche machen.

Um das Verfahren abzukürzen, ordnet der Vorsitzende Richter „Selbstleseverfahren“ an. Das heißt, Rechtsanwälte und Mandanten erhalten in den nächsten vier Wochen die Möglichkeit, in bestimmte Dokumente einzusehen, ohne dass dabei die Hauptverhandlung unterbrochen wird. Bei den Unterlagen handelt es sich um fünf dicke Ordner mit Dienstvorschriften und Ministerbefehlen, unter anderem zum Aufbau der Minensperren und zum Schusswaffengebrauch.

In einer gleich lautenden Stellungnahme weisen die sieben Angeklagten alle Schuldvorwürfe als unbegründet zurück und weisen auf ihr Unterstellungsverhältnis hin: „Der Empfänger eines Befehls war nicht verpflichtet und nicht berechtigt, die Richtigkeit eines Befehls zu überprüfen.“ Gleichzeitig betonten die Angeklagten jedoch, dass jeder „Verletzte und Tote zu bedauern und zu beklagen“ ist.

Zuversicht liegt am 7. März auf den Gesichtern der Kameraden der Angeklagten. Trotzdem ist die Atmosphäre angespannt.

Hilmar Rettkowski, Vorsitzender Richter der 2. Großen Strafkammer, eröffnet den letzten Verhandlungstag und verliest die Urteile zunächst im Schnelldurchlauf: Drei der angeklagten Offiziere werden zu Freiheitsstrafen auf Bewährung verurteilt, die anderen drei freigesprochen.

Keine Unmutsäußerungen im voll besetzten Zuschauerraum. Nur vereinzeltes Kopfschütteln kommentiert die Urteile, die den Anträgen der Staatsanwaltschaft folgen.

Das Gericht sieht es als erwiesen an, dass die Angeklagten von 1972 bis 1984 maßgeblich am Ausbau der Minensperren und Selbstschussanlagen an der innerdeutschen Grenze zwischen Ostsee und Südharz beteiligt gewesen waren. Sie hätten an der Erarbeitung und Durchsetzung der entsprechenden Befehle mitgewirkt und damit in letzter Konsequenz den Tod von Fluchtwilligen billigend in Kauf genommen. „Auch wenn die Fluchtwilligen in Eigenverantwortung handelten und sich des Risikos eines Grenzübertritts bewusst waren – die Strafverantwortlichkeit der Angeklagten bleibt davon unberührt“, sagt Richter Rettkowski.

In den Fällen der Obristen a. D. Horst Gäbler, Frank Boraschke und Lantfried Kaltofen konnte das Gericht keine Schuldausschlussgründe feststellen. Horst Gäbler, in zwei Fällen zur Beihilfe zum Totschlag verurteilt, muss mit 14 Monaten die höchste Strafe verbüßen. Frank Boraschke und Lantfried Kaltofen wurden zu einer Freiheitsstrafe von je acht Monaten verurteilt. Aufgrund „der positiven Sozialprognose der Angeklagten“ werden sie zu zwei Jahren Bewährung ausgesetzt.

Siegfried Schumacher, Fritjof Banisch und Werner Heinig waren erwiesenermaßen nicht für die Minenanlagen zuständig. Sie werden freigesprochen. Bei den Urteilssprüchen wurde laut Gericht nach eingehender Prüfung bundesdeutsches Recht als „milderes Recht“ angewendet.

Mit der Begründung, dass die Taten der Ex-Offiziere nach DDR-Recht nicht strafbar gewesen seien, hatten die Anwälte Freispruch für ihre Mandanten gefordert.

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