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Tobias, 14

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Kurz vor 9 Uhr steigt Tobias am 28. Februar 2000 auf dem Hof des Magdeburger Gefängnisses aus dem vergitterten Transporter. Der 15-Jährige wurde von der psychiatrischen Klinik in Uchtspringe zum Magdeburger Landgericht gebracht. Über Hintertreppen betritt der blasse Junge den Gerichtssaal 6. Tobias wird vorgeworfen, im Sommer 1999 die sieben Jahre alte Kristin in Elbeu ermordet zu haben.

Tobias räumt bereits kurz nach Eröffnung des ersten nichtöffentlichen Verhandlungstages im Wesentlichen beide Taten ein. Damit ist erwiesen, dass Tobias am 17. Juli 1999 versucht hat, die siebenjährige Kristin aus Wolmirstedt-Elbeu sexuell zu missbrauchen und zu nötigen. Der zweite Anklagepunkt lautet Mord. Mit der vorsätzlichen Tötung sollten die vorangegangenen Straftaten verdeckt werden.

Bis zum Beginn des Prozesses hatten die Eltern des Angeklagten mit Vehemenz die Unschuld ihres Sohnes beteuert. „Die Polizei hat Tobias zwölf Stunden verhört, danach gibt man alles zu“, hatte der Vater behauptet. Tobias könne es gar nicht gewesen sein. „Mindestens sieben Personen können bezeugen, dass Tobias zur Tatzeit gar nicht am Tatort war: Meine Frau und ich, seine beiden Schwestern und unser Schwiegersohn“, sagt er. Und dann zählte der Mann aus Angern einen genauen Tagesablauf seines Sohnes auf.

Doch davon ist am 28. Februar keine Rede mehr. Zu erdrückend sind die Beweise, die die Stendaler Mordkommission gesammelt hat. Das detaillierte Geständnis am Tatort wenige Stunden nach dem Mord, bei dem der damals 14-Jährige Einzelheiten der Tat erzählt hat, die nur der Mörder wissen kann, liegt auf Video vor.

Zum Schutze des jugendlichen Täters ist die Öffentlichkeit am Vormittag von der Hauptverhandlung ausgeschlossen worden. Der Bogengang zum Saal 6 wurde für Zuhörer und Journalisten gesperrt. Zwei Justizwachtmeister ließen lediglich Zeugen, Richter, Staatsanwalt und Rechtsanwalt sowie die Gutachter passieren.

Im Gerichtssaal spricht der Jugendliche, so weit es ihm möglich ist, über sich selbst – über die Schule, sein Zuhause, seine Eltern und Geschwister. Zur Sprache kommt dabei auch, dass er vor zwei Jahren von einem 55-jährigen Gartennachbarn seiner Eltern sexuell misshandelt worden sein soll.

Im weiteren Verlauf des Vormittags habe Tobias dann „umfangreiche Angaben zu den Taten und seinen Beweggründen gemacht“, sagt Richter Thomas Kluger nach dem ersten Verhandlungstag.

Auf Grund seines Geständnisses konnten sowohl Staatsanwaltschaft als auch die Verteidigung auf die Vernehmung der geladenen Zeugen, die auf dem Gang warten, verzichten. Darunter auch Sabine Korall*, die Mutter der kleinen Kristin. Gehört wurden hingegen die Mutter des 15-Jährigen und die Vertreterin der Jugendgerichtshilfe.

Anwesend im Gerichtssaal war Dr. Bernd Hahndorf, Chef des Maßregelvollzugs in Uchtspringe. Er hatte ein Gutachten zur Psyche von Tobias erarbeitet. Außerdem war der Kinder- und Jugendpsychiater Dr. Werner Gerke aus Königslutter als weiterer Gutachter geladen.

Die Aussage der Experten sollen am zweiten Prozesstag maßgeblich dafür sein, ob der geständige Angeklagte in eine geschlossene Anstalt eingewiesen wird oder eine Jugendstrafe antreten muss.

Tobias kannte die Tragweite seiner Tat. Dieses Fazit ziehen die psychologisch-psychiatrischen Gutachten der drei Experten. Der Junge aus Angern im Ohrekreis habe eine Entwicklungsreife gehabt, die es ihm möglich machte, das Unrecht und die Tragweite seines Handelns auch als Unrecht zu erkennen.

Am 15. März um 11 Uhr weiß Tobias, wo er die nächsten sechs Jahre und neun Monate verbringen wird: hinter Gittern, in einem Jugendgefängnis – wahrscheinlich in Halle.

Mit der Verurteilung wegen Mordes werden am vierten Prozesstag zugleich die Spekulationen um die strafrechtliche Verantwortlichkeit von Tobias beendet. Die Jugendkammer stützt sich in diesem Punkt auf die Sachverständigen und deren Gutachten. Das hatte die Verteidigung im Plädoyer bestritten. Sie ging von fehlender strafrechtlicher Reife aus.

In seiner einstündigen Urteilsbegründung geht der Vorsitzende Richter Hans-Joachim Kupfer detailliert auf den Tathergang ein. Tobias war am Abend des 17. Juli 1999 mit seinem drei Jahre alten Cousin Enrico in der Gartenanlage „Glück auf“ in Elbeu unterwegs gewesen. Dabei trafen sie die siebenjährige Kristin, deren Eltern ihren Garten unweit der Parzelle von Tobias’ Familie haben. Kristin schloss sich den Jungens an und ging mit zum nahe gelegenen Garagenhof.

Dort hätten Tobias „widerstreitende Gefühle in sexueller Hinsicht“ überkommen. Tobias habe Kristin „berühren“ wollen. Der Täter habe das Mädchen aufgefordert, über eine Mauer zu sehen und sei dabei hinter sie getreten. Um eine eventuelle Gegenwehr des Mädchens bereits im Keime zu ersticken, habe der damals 14-Jährige einen Spanngurt um ihren Hals gelegt und zugezogen.

Doch Kristin konnte sich befreien und lief weg. Tobias verfolgte die Siebenjährige und holte sie am Rande des Garagenkomplexes ein. Tobias griff erneut zum Gurt und zog diesmal mit aller Kraft zu. „Nach zwölf Sekunden war das Mädchen bewusstlos“, heißt es im rechtsmedizinischen Befund. Danach schlang Tobias den Gurt noch zweimal um den Hals seines Opfers, bis es erstickt war.

In der Nacht ging der jugendliche Mörder dann noch einmal an den Ort das Geschehens zurück. Ihm war eingefallen, dass er den pinkfarbenen Fahrradhelm des Mädchens angefasst hatte und dass seine Fingerabdrücke darauf waren. Der Stendaler Kripo erzählte Tobias am nächsten Vormittag, dass er den Plastikhelm an der Hauptstraße vor den Gärten gefunden hat.

Die Jugendstrafkammer bejaht zwar die grundsätzliche strafrechtliche Verantwortlichkeit, sieht allerdings im Einklang mit den Gutachten eine eingeschränkte Steuerungsfähigkeit des Mörders während seiner Tat und „im Ansatz vorhandene neurotische Störungen“. Das Gericht empfiehlt deshalb „sozialtherapeutische Maßnahmen während der Haft“.

Der Grund dafür sei darin zu sehen, dass Tobias im Alter von 13 Jahren selbst Opfer wiederholter Sexualdelikte gewesen ist. Infolgedessen sei das Verhalten des Jungen „allgemein sexualisiert“ worden.

Das Gericht nimmt damit Bezug auf ein Geschehen aus dem Jahr 1998. Ein damals 55-jähriger Gartennachbar der Eltern soll Tobias damals mehrfach sexuell missbraucht haben.

Warum der mutmaßliche Kinderschänder auf freiem Fuß ist, erläutert am Rande des Prozesses die Magdeburger Oberstaatsanwältin Silvia Niemann: „Die Aussagen des Jungen und des Mannes haben sich widersprochen. Deshalb musste die Staatsanwaltschaft ein forensischpsychiatrisches Gutachten den mutmaßlichen Täter betreffend und ein Glaubwürdigkeitsgutachten in Hinblick auf Tobias in Auftrag geben.

Die Ergebnisse liegen jetzt vor.“ In Kürze werde gegen den inzwischen 57-Jährigen Anklage erhoben.

Die Jugendstrafkammer sieht in der Tatsache, dass Tobias selbst missbraucht wurde, einen von drei strafmildernden Gründen. Ausgewirkt habe sich zudem sein Geständnis am ersten Verhandlungstag, das Kristins Mutter die Aussage ersparte und eine „situationsbedingte Spontaneität der Tat“. Dem stehe jedoch die Schwere des Verbrechens gegenüber.

Sichtlich betroffen habe der 15-jährige Täter den Worten des Vorsitzenden Richters zugehört, heißt es nach der Sitzung. Zu einer Entschuldigung habe sich Tobias jedoch an keinem der Prozesstage durchringen können.

Der Anwalt von Kristins Mutter, Andreas Dahm, spricht unmittelbar nach der Urteilsverkündung von einer „angemessenen Entscheidung“ der Kammer. Leider sei auf Grund von Vorschriften bei Verfahren gegen Jugendliche eine Nebenklage nicht zugelassen. „Deshalb haben Kristins Mutter und ich den Prozess auch nur in der Presse verfolgen können.“

Der Familie des Opfers gehe es seit der Tat sehr schlecht. „Und jeder kann sich bestimmt vorstellen, wie es in der Mutter nach der Verkündung des Urteils aussieht.“

Die Verteidiger des jugendlichen Angeklagten reichen beim Bundesgerichtshof Revision ein. Sie zweifeln nach wie vor die strafrechtliche Verantwortlichkeit von Tobias an.

Im Oktober 2000 lehnt der Bundesgerichtshof in Karlsruhe die Revision als unbegründet ab. Bei der Prüfung des Urteils sei kein Rechtsfehler festgestellt worden, der den Angeklagten benachteiligt hat, lautet die Begründung. Damit ist das Urteil des Magdeburger Landgerichts rechtskräftig.

Am 6. März 2002 hat der Fall „Tobias“ ein Nachspiel. Das Schöffengericht des Amtsgerichts Wolmirstedt spricht einen 59-jährigen Angeklagten vom Vorwurf des sexuellen Missbrauchs des damals 13-jährigen Tobias frei. Dem Angeklagten waren drei Missbrauchshandlungen von April bis September 1998 vorgeworfen worden.

Vor Gericht widerruft der inzwischen 17 Jahre alte Tobias, der als Zeuge aus der Jugendhaftanstalt Halle zugeführt wurde, seine Aussagen, die er bei der Polizei gemacht hat: „Stimmt so nicht.“ Zu dem Angeklagten, in dessen Laube er wochenlang übernachtet hatte, empfinde er noch heute ein freundschaftliches Gefühl.

Auf die Frage, warum er bei der Polizei gelogen hat, antwortet Tobias: „Weiß ich nicht.“ Eine Gartennachbarin hätte ihm die Beschuldigungen in den Mund gelegt. Die 56-Jährige als Zeugin: „Stimmt nicht, Tobias hat gelogen und oft Schauermärchen erzählt.“

Ein Gutachter hatte dem Jungen Glaubwürdigkeit bescheinigt. Diese Auffassung teilt jedoch das Gericht auf Grund der augenfälligen Unterschiede der Aussagen des Jungen nicht und kommt so zu dem Freispruch.

Auswirkungen auf das Mordurteil des Landgerichts Magdeburg hat der Wolmirstedter Prozessausgang jedoch nicht. Obwohl der vermeintliche sexuelle Missbrauch seiner Zeit strafmildernd berücksichtigt wurde. Der sexuelle Missbrauch konnte zwar im Mädchen-Mord-Prozess nicht bewiesen, aber auch nicht widerlegt werden. Deshalb galt: „Im Zweifel für den Angeklagten“.

Das Mordurteil ist rechtskräftig. Ein Wiederaufnahmeverfahren wird es nicht geben, auch wenn sich der strafmildernde Missbrauch als Luftblase entpuppte.

Der Todesengel mit den roten Haaren

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