Читать книгу Schwer behindert / leicht bekloppt - Bernd Mann - Страница 10
3. Kapitel
ОглавлениеIch war selbst überrascht, wie viel Spaß mir die Arbeit mit den Kindern im KIZE machte. Aber nicht nur die Arbeit war befriedigend für mich, auch der Ort war außergewöhnlich. Mit meinen Augen, aber auch mit meinem Herzen sah ich vor mir außerhalb der alltäglichen Welt eine besondere. Die Lage der Klinik, oben am Waldrand mit Blick über die kleine Stadt, verstärkte zudem mein Empfinden, dass hier etwas Besonderes vor sich ging und ich daran teilhaben durfte. Vor etwa drei Monaten war ich der Kinderstation zugeteilt worden. Offiziell war ich einer der Zivildienstleistenden des Betreuungspersonals der Gruppe 2 der Kinderstation, die wie alle Kindergruppen im ersten Obergeschoss untergebracht war. In meiner Gruppe waren die Kinder mittleren Alters; die jüngsten zählten gerade mal fünf Jahre, die älteren zwölf. Ich war für die Grundversorgung der Kinder zuständig: waschen, baden, Essen servieren oder füttern und abends gemeinsam mit ihnen spielen. Während der Woche hatten die Kinder den ganzen Tag Programm und waren somit durchgehend beschäftigt. Es gab Lehrer, Psychologen, Logopäden, Beschäftigungs- und Ergotherapeuten sowie Physiotherapeuten. Fast alle hatten irgendwelche Therapiestunden, oder sie besuchten den hauseigenen Unterricht. Daher arbeiteten wir nach einem geteilten Dienstplan. Der Arbeitstag wurde von einer vierstündigen Pause zwischen Mittag und Nachmittag unterbrochen. Am Wochenende aber waren wir Zivis umso gefragter. Dann waren wir die Programmgestalter.
Manchmal nahm ich mir ganz kurz Zeit und sah von hier oben im ersten Stock des KIZE aus einem der Fenster auf die kleine, feine Stadt Maulbronn unten im Tal, mit den Häusern und den roten Dächern, mit dem mächtigen Klosterbau und dem Tiefen See, mit dem Wald und den Weinbergen drumherum, und mich durchfuhr ein Gefühl des Glücks. Ich war froh, nun meinen Platz gefunden zu haben.
Meine Dienstzeit begann um 7 Uhr morgens und endete zunächst um 12 Uhr 30; nachmittags ging es von 16 Uhr 30 bis 19 Uhr weiter. Durch die Zweiteilung war gewährleistet, dass immer ein Zivi und eine Schwester zugegen waren, zu den Mahlzeiten und vor allem morgens beim Aufstehen. Bei vier Gruppen mit je sechs Kindern war das auch notwendig, denn die Kinder zeigten oft sehr unterschiedliche Krankheitsbilder. Es war höchste Aufmerksamkeit gefordert. Entsprechend arbeitsintensiv war der Betreuungs- und Pflegeaufwand.
Bei notorisch dünner Personaldecke kam es gelegentlich vor, dass man in anderen Gruppen aushelfen musste. So kam ich in die Gruppe 3 mit den etwas älteren Kindern. Diese waren gerade im Gruppenraum. Zum ersten Mal nahm ich Christian richtig wahr. Bisher, wenn er sich zu uns gesellt hatte, war ich in der Gruppe der anderen Zivis doch ziemlich abgelenkt und er für mich noch einer von vielen gewesen. Weil er sein Zimmer selbstständig nicht verlassen konnte, hatte man ihn auf seinem Krankenhausbett in den Gruppenraum geschoben. Tagsüber konnte er so bei den anderen sein oder auch seine Mahlzeiten mit den Kindern, den Zivis und Schwestern im Gruppenzimmer einnehmen. Was mir sofort auffiel: Er lag auf dem Bauch. Er hatte Sandsäcke auf dem Bett, die seine Position stabilisieren und – was ich erst später erfuhr – seine unkontrollierten Bewegungen eindämmen sollten. Sein Rollbett stand am Fenster. Er sah nach draußen, vielleicht etwas sehnsüchtig, so kam es mir zumindest vor. Sein schlanker Körper und seine sehnigen Hände fielen mir auf. Sicher hätte er ein paar Kilos mehr vertragen können. Er trug ein dunkelblaues Sweatshirt und eine Jogginghose, an den Füßen graue Socken, auffällig verrutscht. Als ich mich neben ihn stellte, blickte er zu mir. Kaum lächelnd betrachtete er mich. Ich sah in wache Jungenaugen. Dann drehte er den Kopf zum Fenster zurück und wirkte wieder etwas verloren. Er sah hinaus, als würde er Ausschau halten.
„Das Wetter ist gut heute“, sagte er.
„Ja, gutes Wetter. Schaut so aus, als bekämen wir einen schönen Spätsommer.“
„Ja, stimmt.“
„Ist dir langweilig? Soll ich dir Gesellschaft leisten?“
„Nein. Ja.“
„Nein oder ja?“
„Nicht langweilig. Aber Gesellschaft, ja.“
„Ich heiße Bernd und du?“
„Christian.“
„Kannst du so gut sehen, Christian? Oder soll ich dein Bett etwas drehen?“
„Geht so.“
„Nach was schaust du?“
„Nach der Natur. Kannst du mich auf die Fensterbank setzen? Aber bitte mit Kissen.“
„Du meinst, ich soll dich rüberheben?“
„Wenn du’s schaffst.“
„Ich bin mir sicher, dass ich das schaffe.“
„Ich nicht.“
„Soll ich?“
„Los, mach’ schon.“
Ich legte den einen Sandsack zur Seite, schob meine Arme unter seinen schmächtigen Körper und hob ihn an. „Du bist aber schwer, mein Großer“, sagte ich zum Scherz.
Er legte seinen dünnen Arm um meinen Hals. „Wart ab, bald bin ich groß. Dann hast du ’n Problem“, sagte er grinsend.
Ich setzte ihn auf der Fensterbank ab. Mit dem Rücken lehnte ich ihn seitlich an den Fensterstock. Die Beine und Füße hob ich auf die Fensterbank. So konnte er einigermaßen sitzen.
„Du musst mich festhalten, damit ich nicht runterfalle.“
„Keine Bange, Bernd macht das.“
Mit seinen knochigen Wangen, den dunklen Augen, schwarzen Augenbrauen und dem kurzen, dunkelbraunen Haar wirkte er irgendwie ernst. Außer wenn er lächelte, dann formten sich seine Augen zu lustigen Schlitzen und der Mund wurde ganz breit. Aber eigentlich, dachte ich, hat er ja auch allen Grund, ernst zu sein. Er hatte den Kopf zum Licht gedreht. Ich stand wie eine lebende Absturzsicherung bei ihm.
„Bist du schon lange hier, Christian?“
„Februar.“
„Und davor?“
„Hauptschule Langensteinbach. Schule für Körperbehinderte. Wieso?“
„Ja, wieso? Ich will es einfach wissen. Nur so.“
„Wenn du öfter kommst, macht es Sinn. Nur so, nicht.“
„Kommt drauf an. Ich bin in Gruppe 2 und heute nur der Ersatzmann hier.“
„Schade.“
„Ich mach’ die Dienstpläne ja nicht.“
„Du kannst mich aber ruhig öfter besuchen.“
„Hm …“
Im Raum waren noch andere Kinder, um die sich aber die Schwester kümmerte. Das zweitälteste Kind nach Christian, war zehn, keines war in dieser Gruppe unter acht. Es waren immer sechs Kinder zu betreuen. Da war das Kind, das geistig und körperlich behindert war und intensive Betreuung und Pflege brauchte. Da war das lernbehinderte Kind, da war das verhaltensauffällige Kind, da war das hyperaktive Kind. Ein kleiner Kreis mit großen Problemen. Hyperaktive Kinder waren oft zur Diagnose oder zur medikamentösen Einstellung im Haus. Bei anderen ging es ganz grundsätzlich darum, einen Ansatz für die passende Therapie zu finden. Zwei Kinder waren nur befristet zur Entlastung der Eltern in Gruppe 3 untergebracht worden. Die Gruppe war lebhaft. Überwiegend waren es Jungs. Hin und wieder kam auch mal ein Mädchen dazu. Jedenfalls war hier immer etwas los. Auch heute wieder. Schreien, lachen, rufen, streiten. Aus dem Augenwinkel konnte ich ein fliegendes Schachbrett sehen. Ich fragte mich, wie Christian hier wohl Ruhe fand, warum er nicht lieber in seinem Zimmer war. Aber Ruhe war vielleicht genau das Gegenteil von dem, was er jetzt brauchte. Im nächsten Moment hatte sich eines der Kinder verletzt. Es blutete an der Hand. Ich nahm Christian vom Fensterbrett und legte ihn rasch wieder auf sein Bett. Die Schwester hatte schon den Erste-Hilfe-Kasten gegriffen, und wir legten dem Jungen rasch einen Verband an, um die Blutung zu stillen. Später musste er genäht werden.
Eines der Kinder, ein blonder Junge, war mir besonders aufgefallen. Sein Name war Johann. Als ich im KIZE angefangen hatte, war er noch hier in der Gruppe 3 gewesen. Er hatte mit Christian das Zimmer geteilt. Das letzte Mal, als ich zum Aushelfen in der Gruppe gewesen war, hatte ich ihn noch gesehen. Ein intelligenter Kerl, der seinen Eltern zu Hause erhebliche Sorgen bereitet hatte, weil er seinem Leben im Alter von 11 Jahren ein Ende bereiten wollte. Im Kinderzentrum hatte er sich vor ein paar Tagen mit einem Handtuch selbst erwürgen wollen.