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4. Kapitel

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Meine Arbeit in der Kinderklinik war wie ein Eintauchen in eine völlig fremde Welt. Ich musste alles lernen, wollte alles wissen. Ich kam nicht nur mit jungen Menschen wie Christian und ihren für mich unbekannten Schicksalen in Berührung, nein, fast nebenher auch mit mir gänzlich unbekannter Technik und ihren vielen Tücken. Nie hätte ich gedacht, dass ich mich eines Tages für Rollstühle interessieren müsste. Mit dem ersten Liegerollstuhl, den Christian in Maulbronn bekam, konnte er nichts Besonderes anstellen – außer vielleicht in einem Moment mangelnder Aufmerksamkeit seines Betreuers den Berg hinunterrasen. Immerhin wusste ich von dem Tag an, woher der Rollstuhl seinen Namen hatte.

Christians erstes fahrbares Gefährt war improvisiert, im wahrsten Sinne aus der Not geboren; eine Matratze auf einem Brett, montiert auf einem hölzernen Leiterwagen, machte aus einem Spielgerät ein fahrbares Liegebett. Er war acht Jahre alt gewesen. Das Wägelchen ermöglichte ihm, von zu Hause aus Spaziergänge mit Begleitung zu unternehmen. Den Rollwagen hatte ihm sein Vater konstruiert. Als Christian noch sitzen konnte, befestigte er manchmal auch einfach einen Campingstuhl für seinen Sohn auf dem Leiterwagen. So konnte er im Garten des elterlichen Hauses bewegt werden. Er war leicht zu transportieren. Ein hageres Jüngelchen, bei dem man die Rippen zählen konnte, auf einem ebenso zerbrechlich wirkenden Stühlchen mit einer dünnen, rot-weiß gestreiften Polsterauflage.

Als seine Behinderung zur dauerhaften und sich ausweitenden Erkrankung zu werden drohte, brachte man ihn im Frühjahr 1982 zur Untersuchung nach Heidelberg. Dort wurde er in die Pädiatrie – das Zentrum für Kinder- und Jugendmedizin des Universitätsklinikums Heidelberg – aufgenommen. Man gab ihm einen Rollator, wie ihn ältere, gehbehinderte Menschen bekommen. In Heidelberg blieb er bis Juli 1983. Nach Hause kam er nicht mehr. Sein Zuhause, wie er es kannte, existierte nicht mehr. Anfang 1983 hatten sich die Eltern getrennt.

Sofort nach seinem Aufenthalt in der Heidelberger Pädiatrie, brachte man Christian in den nördlichen Schwarzwald nach Baiersbronn. Den ganzen Sommer, den Herbst und fast den ganzen Winter verbrachte er im Osterhof, einem psychotherapeutisch heilpädagogischen Kinderheim. Der Osterhof verstand sich seit seiner Gründung als „Brücke zur Familie“. Ziel der Therapie in dieser Einrichtung war die Reintegration der Kinder in den Familienkreis. Christians Familie war aber zerbrochen.

Von Januar bis September 1984 wohnte er gemeinsam mit der Mutter bei den Großeltern. Dort lebte er seinen Alltag, ohne den Vater oft zu sehen. In der Wohnung robbte er auf den Knien. Außerhalb der Wohnung bewegten ihn Großeltern und Mutter in einem Rollstuhl, den er in Baiersbronn bekommen hatte, der aber nur für kurze Strecken geeignet war; zu kippelig, zu unsicher für seine starken Bewegungsstörungen.

Im Oktober 1984 erfolgte seine Aufnahme in die Pädiatrie des Klinikums Karlsruhe. Der Rollstuhl war sein ständiger, aber unliebsamer Begleiter geworden. Damit rollte er jetzt von Krise zu Krise. Während des vergangenen halben Jahres hätten sich nach den Einschätzungen und Vorstellungen seiner Therapeuten seine Bewegungsstörungen verbessern sollen. Das Gegenteil war der Fall. Die Trennung der Eltern, der „Verlust“ des Vaters, die wechselnden Lebenssituationen, die Aussichtslosigkeit auf eine Verbesserung seiner gesundheitlichen Situation, gleich gar die zerschlagene Hoffnung auf ein normales Leben, all das hatte seine Seele belastet und eine latente Depressionen verstärkt. Sein Körper reagierte mit starken Verkrampfungen. In seinem Rollstuhl sitzend gab er das Bild eines Spastikers ab, der gegen seine krampfartigen Muskelspannungen ankämpfte. Ein aussichtsloser Kampf ungleicher Gegner.

In der pädiatrischen Abteilung des Klinikums Karlsruhe war Christian inzwischen zu einem Problemfall geworden, der bereits eine Reihe von Medizinern beschäftigt hatte, ohne, dass für den Hauptleidtragenden eine befriedigende Lösung hatte herbeigeführt werden können. In Karlsruhe diagnostizierten die behandelnden Ärzte eine schwere Form der Torsionsdystonie, die sich durch reflexartige, unkontrollierte Bewegungen zeigte. Aus verschiedenen Arztberichten war dem medizinischen Personal bekannt, dass der Beginn von Christians Erkrankung im Dezember 1981 mit einer Ehekrise der Eltern einhergegangen war. Das gesamte Krankheitsbild war deshalb bisher in Verbindung mit der familiären Problematik der Eltern gebracht und deshalb als psychische Erkrankung betrachtet worden. Man behandelte ihn also wie einen „Geistesgestörten“, in dem Glauben, man habe es mit einem psychischen Defekt zu tun, der sich in einer Torsionsdystonie zeigte. Um seine heftigen Bewegungsstörungen einzudämmen, griff man zu einem drastischen Mittel: Man gipste ihn von der Hüfte abwärts ein. Im Gips scheuerte er sich wund. Die Folge: ein Druckgeschwür, eine Blutvergiftung und eine infektiöse Entzündung des Knochenmarks. Die Infektion hätte für ihn böse enden können. Dass sie glimpflich ausging, war einfach Glück. Ende 1985 verließ Christian die Klinik in Karlsruhe. Zwar hatte er auch diese medizinische Tortur überstanden, aber er war mehr denn je an Körper und Seele krank.

Anfang 1986 kam er auf die Hauptschule nach Langensteinbach. Die Eltern hofften, dass der Schulbesuch etwas Normalität in sein völlig unnormales Leben bringen könnte. Die Schule in Karlsbad-Langensteinbach war ein Ausbildungsort für Körperbehinderte. Der Ort lag nur fünfzehn Autominuten von Karlsruhe entfernt. Als Christian dort hinkam, hatte er immer noch den Rollstuhl aus seiner Zeit in Baiersbronn. Dieser bekam eine gepolsterte Sitzschale, die das Sitzen verbessern und ihm so die Teilnahme am Unterricht erleichtern sollte. In seinem rollenden Spezialstuhl saß er Kopf und Oberkörper zur Seite gedreht, halb nach hinten hängend und die Beine nach vorne wegstreckend. Der Unterricht fand in Kleingruppen mit acht oder neun Schülern statt und begann um 8 Uhr morgens. Ein Fahrdienst holte ihn zu Hause ab. In der Schule bekam er ein Mittagessen. Nach dem Unterricht stand Krankengymnastik auf dem Tagesplan. Nachmittags gegen 15 Uhr wurde er wieder nach Hause transportiert, wo er gegen halb vier ankam. Er wohnte weiterhin bei der Mutter. Alle vierzehn Tage verbrachte er die Wochenenden bei seinem Vater. Mal hier, mal dort – für ihn war es immer ein unstetes Hin und Her und ein emotionales Achterbahnfahren gewesen.

1989, im dritten und letzten Schuljahr, konnte er kaum noch am Unterricht teilnehmen. Seine Unruhe hatte wieder zugenommen. Er war fast nicht mehr aufnahmefähig. Regelmäßig brauchte er Diazepam. Er bettelte sogar darum, weil es ihm so furchtbar schlecht ging. Diazepam ist ein Psychopharmakon zur Behandlung von Angstzuständen und epileptischen Anfällen, das auch als Schlafmittel angewendet wird. Nicht immer hat er es bekommen.

In seinem Gutachten schreibt Christians Kinderarzt an einen Kollegen: (…) Meine Beobachtungen von Christian in der Schule gehen dahin, daß in allen Stress- oder Spannungssituationen, auch in Unterrichtsstunden, in denen Christians geistige Kapazität gefordert wird, die extreme hypertone choreoathetotische Symptomatik zunimmt, bis zur völligen Unkontrollierbarkeit durch ihn selbst. In Situationen, in denen jedoch Christian emotional in Ruhephasen oder in lustigen, blödelnden Situationen, z.B. eine Kissenschlacht mit der Krankengymnastin, wird er entweder völlig entspannt oder reagiert körperlich so erstaunlich koordiniert, daß die Krankengymnastin oder ich selbst völlig erstaunt sind. Auch treten dann immer wieder völlig paradoxe Bewegungsreaktionen auf, z.B. wenn ich ihn auffordere, ein Kissen zwischen die Beine zu klemmen, damit seine hyperabduzierten Beine bzw. Knie nicht so stark aneinander reiben, kann es sein, daß er mit plötzlicher Abduktion, d.h. totaler Entspannung der Adduktoren reagiert.

Von seiten der Mutter fällt mir auf, daß sie immer wieder betont, mit keinerlei Erwartungen zu Ärzten oder Psychotherapeuten zu gehen, auf der anderen Seite aber immer wieder äußert, daß sie sich erhofft, daß sich Christians Beschwerden wieder normalisieren. (…)

Was Christian in Langesteinbach sehr gefiel, war ein Teich mit Molchen und anderen Wassertieren, die er dort entdeckt hatte. Oft beobachtete er auch Vögel, die er vom Fenster des Klassenzimmers aus sehen konnte. Regelmäßig kamen eine Bachstelze und ein Hausrotschwanz.

Während seiner Zeit in Langensteinbach wurde Christian viermal von seinen Eltern zur Untersuchung ins Zentrum für Kinderheilkunde des Klinikums der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt gebracht und dort dem Leiter der Abteilung für Pädiatrische Neurologie, Prof. Dr. med. G. Jacobi, vorgestellt: September 1987, November 1988, Oktober 1989 und Januar 1990. Nach jeder Untersuchung wurde ein Bericht verfasst; im vorletzten schilderte Professor Jacobi den Zustand Christians mit deutlich spürbarer Betroffenheit:

(…) Mir wurde der Junge erstmals am 22.9.87 ambulant vorgestellt, und zwar von beiden Eltern. Der Junge war zu diesem Zeitpunkt abgemagert, fast das gesamte Unterhautfettgewebe war geschwunden, allerdings waren die Muskeln bedingt durch die ständigen Hyperkinesen eher hypertrophiert. Von der Beschreibung her stellte sich die Hyperkinese als Mischbild zwischen einer torsionsdystonen und choreoathetotischen Bewegungsunruhe dar, die choreatischen Bewegungen traten bei Anspannung und im Affekt deutlicher hervor, während bei intendierten Bewegungen, wie die Hand geben oder auf ein Ziel deuten, der Junge nur mit maximaler Willensanspannung, dann aber doch diese Bewegung ausführen konnte. (…)

Am 12. Januar 1990 verfasste er den vierten und letzten Bericht:

(…) ich habe mir heute nochmals den Jungen angesehen und ein langes Gespräch mit beiden Eltern und dem Buben selber geführt.

Ich hatte Christian zuletzt im Nov. 88 (nach den vorliegenden Berichten tatsächlich Okt. 89) gesehen und war, ehrlich gesagt, sehr betroffen über die ausgeprägte Verschlechterung seines Zustandes: Allein die Hautveränderungen geben beredten Ausdruck der ständigen Hyperkinesen: Die gesamte Stirn, die Kinnpartie, beide Ellenbogenseiten dorsal, die Kniegelenke, aber auch der gesamte Handrücken und die Handinnenfläche sind hyperkeratotisch verändert und bräunlich pigmentiert. Dazu kommen oberflächliche Exkoriationen, die Handinnenfläche schilfert teils fein-, teils grobschilfrig ab. An der Nasenwurzel hat er eine Druckstelle, die durch den untergelegten Zeigefinger in Ruhe oder im Schlaf resultiert. Vielleicht etwas durch die Autofahrt provoziert und die besonderen Umstände der Vorstellung bewegte der Junge sich spontan und unkontrolliert auf einer 2 x 2 m großen Unterfläche bis weit über deren Rand hinaus. Etwa 10 Minuten nach Gabe einer 10 mg Diazepam-Rect. war er dann ruhig, konnte ganz klar sprechen, war aber, wenn man ihn ansprach, wieder, wie er selbst sagte, voll innerer Spannung. Ohne einen solchen medikamentösen Kunstgriff sind seine Sehnen vor allem im Bereich der Kniekehle, der Ferse, aber auch Bicepssehnen und der gesamte Erector trunci derartig verspannt, dass man die einzelnen Gelenke kaum aus den eingenommenen Stellungen passiv bewegen kann. Beeindruckend ist weiter das oberflächliche Venengeflecht an den Armen, wie man es sonst nur von manuellen Schwerstarbeitern zu sehen gewohnt ist. Der Junge ist immer warm, wie die Eltern sagen, seine Haut optimal durchblutet, das Unterhautfettgewebe fehlt fast völlig, wenn er essen kann, ißt er wohl sehr viel, auch sehr kalorienreich. Trotzdem hat er in den 1½ Jahren nur 2,3 kg zugenommen: Er wiegt jetzt 28,5 kg (…), seine Körperlänge beträgt ungefähr 143 cm (…).

Neu waren mir an dem Beschwerdebild auch seine Klagen über sein ständiges “Kribbeln im Kopf“, ein schmerzhaftes Kribbeln und ausstrahlende Schmerzen am Scheitel der funktionellen rechtskonvexen Skoliose in Höhe des IV. BWD, und weiter die Angaben über Pelzigkeit der drei äußeren Finger der linken Hand.

Wenn ich es richtig verstanden habe, so kreisen die Gedanken des Jungen häufig um sein Ende: Daß er sich durch seine Muskelspasmen einen Bandscheibenprolaps holt, der zu einer Querschnittslähmung führt, oder zu einem Atemstillstand. Auch hat er wohl selbst die Vorstellungen, daß durch die Spasmen sein Gehirn in irgendeiner Weise „zerreißen“ könnte. Man gewinnt bei diesen Angaben den Eindruck einer latenten Suizidalität. Ihnen (gemeint ist der Kinderarzt Christians) und seinen Eltern gegenüber soll er ja wohl auch schon direkte Selbstmordgedanken und -absichten geäußert haben, was verständlich ist. Jedenfalls ist er sich bewußt, daß sein Leiden ihm selber zur unerträglichen Last geworden ist (…). Es war mir sehr wertvoll zu wissen, dass inzwischen sowohl Frau Eschenbach, die Leiterin des C.G. Jung-Instituts in Stuttgart, als auch Herr Müller-Küppers, der Heidelberger Ordinarius für Kinderpsychiatrie, eine Psychogenität des gesamten Krankheitsbildes ablehnen. Daß psychogene Überlagerungsmechanismen bei einem solch schweren organischen Krankheitsbild entstehen, kann gar nicht ausbleiben.

Mitte Januar 1990 verließ Christian die Schule in Langesteinbach wieder. Er wurde ausgeschult, wie es offiziell hieß, da er nicht mehr sitzen und wegen ständiger Schmerzen und lautem Klagen, dem Unterricht nicht mehr folgen konnte. Auch war ein angemessener Transport zur Schule und wieder nach Hause fast unmöglich geworden. Sein Zustand hatte sich sehr deutlich verschlechtert. Möglicherweise hatte er auf die Schulsituation mit Stress reagiert. Stress tat ihm nicht gut. Vielleicht hatte es auch einen Gewöhnungseffekt bei den Medikamenten gegeben. Vielleicht kam aber auch eines zum anderen. Unabhängig von den Medikamenten, unabhängig von stressigen Situationen, sogar wenn eigentlich alles ruhig war, keine Veränderungen stattfanden, gab es immer wieder diese Schübe bei ihm. Selbst wenn es ihm gut ging, sich dann aber eine Kleinigkeit veränderte, reagierte er oft mit sofortiger Panik. Das hat ihn selbst am meisten verzweifeln lassen.

Wegen seiner gravierenden Beschwerden nahm ihn die Klinik für Kinderneurologie und Sozialpädiatrie im Februar 1990 im Kinderzentrum Maulbronn (KIZE) stationär auf. Dort sollten weitere medikamentöse, krankengymnastische und eventuell psychotherapeutische Behandlungsansätze entwickelt werden.

Zum Zeitpunkt seiner Aufnahme lebte er noch bei seiner Mutter, der man Anfang 1983, nach der Scheidung von Christians Vater, das Sorgerecht zugesprochen hatte. Bei seinem Aufnahmegespräch sagte er, dass er inzwischen lieber bei seinem Vater leben wolle, zu dem eine sehr enge Bindung bestand. Der Vater hatte bereits eine Sorgerechtsänderung beantragt, der auch das Familiengericht Karlsruhe zustimmte.

Bei seiner Aufnahme im KIZE war Christian 14½ Jahre alt. Bei einer Körpergröße von inzwischen 150 cm wog er knapp 30 kg. Er war sehr schmächtig. Seine Bewusstseinslage wurde als „klar“ definiert, er sei allseits orientiert, Aufmerksamkeit und Konzentration seien jedoch reduziert. Man bescheinigte ihm eine durchschnittliche Intelligenz. Seine Stimmungslage schätzte man subdepressiv bis depressiv ein.

Nach einem Jahr in Maulbronn zog der leitende Arzt des KIZE folgendes Fazit: (…) Der anfangs angesichts seiner körperlichen Schwierigkeiten sehr depressive Junge hat inzwischen wieder sehr viel mehr Zuversicht hinsichtlich seiner persönlichen Weiterentwicklung gewinnen können, er hat sich im Bereich der Selbstversorgung durchaus verbessern können, im motorischen Bereich wurden z. T. beträchtliche Fortschritte erzielt. (…)

(…) Christian erhält in der Schule für Kranke wöchentlich etwa 12 Std. Unterricht, überwiegend in Form von Kleingruppen- oder Einzelarbeit. In den ersten Monaten war wegen häufiger Schmerzen und erheblicher Bewegungsunruhe ein sinnvoller Unterricht kaum möglich, sodaß der Schwerpunkt in einer umfassenden Standortbestimmung seiner Leistungen lag. Erst ab Mitte ’90 konnte Christian mit deutlicher Verminderung der Bewegungsunruhe größere Ausdauer und höhere Belastung entwickeln und im Unterricht mehr gefordert werden. (…) intellektuell könnte er mehr zu Stande bringen, wenn nicht seine motorischen Schwierigkeiten deutliche Grenzen setzen würden. Wir erwarten jedoch in den nächsten Wochen mit einer sicheren Handhabung seines Bauchliegerwagens auch hier noch deutliche Verbesserung, sodaß wir uns eine Fortführung der Betreuung in Ihrer Einrichtung (gemeint ist das Rehabilitationszentrum in Neckargemünd) ab Sommer d. J. gut vorstellen können. (…)

Christians erste fahrbare Liege bekam er in Maulbronn. Es war eine Zwitterlösung. Sie bestand aus einem normalen Rollstuhl als Unterbau. Darauf hatte man ein gepolstertes Brett montiert. Seitlich waren Absturzsicherungen mit Öffnungen für die Arme befestigt worden. Ebenfalls gepolstert. Vorne konnte er den Kopf auflegen. Ein Bauchlieger-Wagen. Der Rollstuhl unter seinem Liegebrett war ein Standardrollstuhl, wie er als Transport- oder Schieberollstuhl in Kliniken und Behinderteneinrichtungen oder als Hilfsmittel bei kurzzeitig eingeschränkter Mobilität, etwa durch einen Beinbruch, eingesetzt wird. Es war ein sogenannter Selbstfahrer, was bedeutete, dass eine selbstständige Fortbewegung nur mittels Armkraft des Fahrers möglich war – bei 20 Kilo Rollstuhlgewicht plus Fahrergewicht, eine sehr kraftraubende Angelegenheit. Für eine dauerhafte Nutzung war der Standardrollstuhl als „Fahrwerk“ wirklich nicht geeignet. Es sei denn, sein Fortbeweger trainierte für die nächste Weltmeisterschaft im Armdrücken. Mit anderen Worten: Christian brauchte fast immer eine Person, die ihn schob.

Christians zweiter Bauchlieger-Wagen war im Vergleich zum ersten schon fast ein High-Tech-Modell. Der leitende Arzt des KIZE bezeichnete das Gefährt als Bauchfahrer-Liege. Sie war eigens für Christian angefertigt worden und verfügte über einen, von ihm über einen Joystick zu bedienenden Batterieantrieb. Bald konnte er sich mit dem Gefährt gut ohne fremde Hilfe fortbewegen. Der Motor wurde an die Räder geklappt und trieb sie an. Der elektrische Antrieb war ein erheblicher Freiheitsgewinn für Christian. Er war nun in der Lage, selbst fahren zu können. Meist war es aber so, dass die Person, die ihn begleitete, den Rollstuhl bediente.

Wie schnell die Elektronik auf Bewegungen des Joysticks ansprach, ließ sich einstellen. Ebenso konnte man die maximale Geschwindigkeit vorwählen. Bei 6 km/h lag die Höchstgeschwindigkeit, ein Geschwindigkeitsrausch war damit ausgeschlossen. Das komplette Abschalten der Steuerung war natürlich auch machbar. Manchmal war dies die einzige Möglichkeit, Akkustrom zu sparen. Bei leeren Batterien war ohnehin nur Schieben möglich, was aber nur unter großer Kraftanstrengung zu schaffen war.

Der Bauchlieger-Wagen gab Christian die Möglichkeit, sich auch alleine außer Haus zu bewegen. Kinder, die das ungewöhnliche Gefährt sahen, bezeichneten es gerne als fahrendes Bett, wobei es mit gerade mal 60 Zentimeter deutlich schmaler war. Wie beim Vorgänger-Modell waren auch hier an den Seiten Sicherungen angebracht worden, die verhinderten, dass er herunterfiel. Alles war gepolstert. Über den Joystick konnte er sein fahrendes Bett zwar selbst steuern, aber nur für kurze Zeit. Dann brauchte er wieder die Hilfe einer Begleitperson, die das für ihn übernahm. Die eingeengte Position machte das Steuern für ihn sehr anstrengend. Sein Körper wollte sich immer bewegen und wehrte sich gegen jede Einschränkung der Bewegungsfreiheit mit wachsender Kraftanstrengung – und bis an den Rand der Erschöpfung; ebenso bis zur Materialerschöpfung. Trotzdem: sein elektrisch angetriebenes Liegebett war ein Segen für Christian. Für eine begrenzte Zeit war er mobiler. Dankbar genoss er es. Mit Liegebett und Begleitung konnte er ins Kino oder seinem Hobby, dem Birdwatching, nachgehen.

Wie verrückt, dachte ich anfangs, wenn man kaum den Kopf ruhig halten kann, ein Hobby zu haben, bei dem man durch Ferngläser schauen muss. Nach unseren ersten Exkursionen wurde mir klar, dass er die Vögel schon am Gesang oder am Verhalten oder auch nur an der Silhouette erkannte. Er sah vor allem mit den Ohren und dann erst mit den Augen.

Birdwatcher sind eigentlich ganz normale Menschen. Für andere Menschen, die einen solchen Vogelbeobachter in freier Natur zu Gesicht bekommen, sind sie jedoch ein seltsamer Anblick. Und weil sie zudem eher selten sind, jedenfalls seltener als Wanderer, Jogger oder Biker, hält man sie für ein wenig spleenig. In der Landschaft fallen sie auf, weil sie Beobachter von etwas sind, das man selbst nicht sieht. Sahen wir zum Beispiel in unserem „Jagdgebiet“, der Wagbachniederung, einem Naturschutzgebiet am Oberrhein nahe Karlsruhe, drei, vier, fünf oder mehr dieser Menschen, die einander nicht beachteten, aber doch vereint das Gleiche taten, nämlich jeder für sich durchs eigene Glas blicken und hochkonzentriert in die Ferne schauen, dann sah das schon ziemlich komisch aus. Sie schauten alle in eine einzige Richtung. Manchmal bewegten sie sich sogar synchron, wie an der Schnur gezogen, und folgten gemeinsam einem Punkt am Horizont oder hoch im Himmel, wobei sie das taten, ohne die Gläser von ihren Augen zu nehmen. Für uns war das ein gewohnter Anblick. Und wenn es uns mit Christians Liegerollstuhl möglich war, reihten wir uns ein und wurden ein Teil der Gruppe. Birdwatcher eben.

Vögel entfachten in Christian ein Jagdfieber. Da sein Kopf aber immer in Bewegung war, war es ihm unmöglich, ein Fernglas vor die Augen zu halten und ein Spektiv nur mit sehr starker Willenskraft. Bremsen ließ er sich davon nicht. Zu sehr liebte er es, Vögel zu beobachten. Und so erarbeitete er sich andere Zugänge. Er hatte aus Büchern und von CDs gelernt. Es waren der Gesang, das Erscheinungsbild, die Art des Fluges und des Verhaltens, die ihm erlaubten, einen Vogel oft schon ohne technische Hilfsmittel zu identifizieren. Im Zweifel musste ich ran und genau beschreiben, was ich durch das Fernglas sah. Durch diese Art der Unterstützung, die ich immer wieder leistete, lernte auch ich mehr und mehr die Vogelwelt kennen. Vögel übten auf mich bald eine ähnliche Anziehungskraft aus wie auf Christian. Nun jagten wir dem Erlebnis gemeinsam hinterher.

In der näheren Umgebung des Kinderzentrums, wo wir am Anfang unserer gemeinsamen Ausflüge unterwegs waren, trafen wir fast nie eine Menschenseele. Wir fuhren mit Kadett und Schweineanhänger ein paar Kilometer, parkten unser Gespann schon halb in der Natur und waren ganz für uns. Von unserem Haltepunkt aus war es meist noch ein kurzes Stück Weg, bis wir an unserem eigentlichen Beobachtungsposten angelangten. Für zwei gesunde Beine, kein Problem. Mit Christians Liegerollstuhl wurde aber jedes Mal eine größere Kraftanstrengung daraus. Für Outdoor-Exkursionen eignete sich auch dieser fortschrittlichere Bauchlieger so wenig wie die erste rollbare Liege ohne Motor. Ich hätte mir für Christian ein leichteres Fahrzeug gewünscht, vor allem aber für mich, denn schließlich musste ich das sperrige Ding nicht nur sicher über holprige Wege steuern, sondern auch noch schieben. Fünfzig Kilo lassen sich im Gelände aber nicht so leicht bewegen. Auch nicht mit Rädern. Die Natur ist einfach nicht barrierefrei. Der Elektroantrieb kam auf unbefestigtem Grund noch schneller an seine Grenzen als ich. Ein Rollstuhl ist ein Hilfsmittel für Menschen, die aufgrund einer körperlichen Behinderung in der Fähigkeit zum Gehen beeinträchtigt sind. Wie aber ist das mit dem Rollstuhl, wenn dieser aufgrund einer technischen Einschränkung in seiner Fähigkeit zu rollen behindernd ist? Ich träumte von einem geländegängigen Liegerollstuhl mit einem kräftigen, zu- und abschaltbaren elektrischen Aktivantrieb und mit off-road-tauglichen Rädern. Dabei schob ich das derzeitige Gefährt und schwitzte aus allen Poren.

„Schauen wir mal, wie weit wir kommen“, sagte Christian.

„Wie weit ich komme!“ Ich schob wie besessen, und dabei versuchte ich den Tag aus mir herauszupressen. Hinter mir lagen beschissene Stunden. Der kleine Milan war gestorben. Ein Zweijähriger, der seit einem halben Jahr in meiner Gruppe war. Er war seiner Mehrfachbehinderung und seinem Krampfleiden erlegen.

„Keine gute Idee heute mit ’nem Ausflug, was?“, sagte Christian.

„Bauen wir hier das Stativ auf – Schluss!“

„Du bist aber wüterich.“

Ich hob die Schultern und atmete dabei so tief ein, wie ich konnte.

„Wüterich und jammerich.“

„Jammerich. Was soll das heißen? Das Wort gibt’s nicht.“

„Du bist aber jammerich. Und wüterich.“

„Der Tag war ja auch beschissen. Da darf ich wohl jammerich und wüterich sein.“

Schwer behindert / leicht bekloppt

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