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2. Kapitel

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Jenseits der Türe glaubte ich Stimmen zu hören und hielt einen Augenblick inne. Ich klopfte erneut, zögerte aber, die Klinke zu drücken. Ich legte meinen Kopf an das Türblatt und lauschte. Was an mein Ohr drang, waren Stimmen, aber sie waren keinesfalls menschlicher Natur. Die Laute nahmen rasch an Deutlichkeit zu, als ich die Türe einen Spalt weit öffnete. Vorsichtig trat ich ein. Christian lag ausgestreckt auf seinem Bett. Er hatte die Augen geschlossen. Seitlich sah ich die schweren Sandsäcke liegen, die seinen Körper auf der Fläche stabilisierten. Auf dem Tisch, der neben seinem Bett stand, fiel mir als Erstes der schwarze Kassettenrecorder auf. Neben dem Recorder lagen Kassetten und Hüllen: „Der Vogelstimmen-Trainer“, „Der Garten erwacht“ und „208 deutsche Vogelstimmen – von Amsel bis Zwergtaucher“. Er hatte mich immer noch nicht wahrgenommen. Erst als ich neben ihm stand und am Lautstärkeknopf drehte, öffnete er die Augen und brachte ein „Kuckuck“ hervor.

„Ja, Kuckuck. Hallo, Christian!“

„Nein, Bernd, ein Kuckuck.“

„Ja, weiß ich, den hätte ich wohl auch erkannt. Kuckuck, ruft‘s aus dem Wald …“, sagte ich, und dabei griff er nach meiner Hand.

„Cuculus canorus. Kuckuck. Gehört zur Ordnung der Kuckucksvögel und zur Familie der Kuckucke“, ergänzte er. „Kommt in Nordafrika über Westeuropa bis Sibirien und im äußersten Osten Asiens vor.“

„Gut, Christian, was du alles weißt.“

„Ist ungefähr so groß wie eine Taube, und sein Gefieder ist größtenteils grau.“ Er lag ungewöhnlich regungslos da. Wahrscheinlich hatte man ihm etwas zur Beruhigung gegeben. Nur seine Hand hielt mich weiter in ihrem eisernen Griff.

„Weißt du das alles von den Kassetten?“

Er nickte.

„Der Kuckuck legt seine Eier in fremde Nester, wusstest du das?“

„Und brütet nicht selbst.“

„Toll! Und der Kassettenrecorder ist auch neu, was?“

„Papa …“

„Aha.“

„Jetzt kann ich lernen, welche Vogelstimme ich höre. Und Vögel sammeln.“

„Wie jetzt? Und was machst du damit?“

„Nein, Bernd.“ Er lachte. „Beobachten und aufschreiben; die Vögel, die ich sehe. Birdwatching.“

„Du beobachtest Vögel?“

„Es gibt in Deutschland über zweihundert Singvögel und viele Greife, Eulen, Falken und auch viele Wasservögel.“

„Und was hast du davon?“

„Macht Spaß. Im Frühling kommen auch noch viele Zugvögel aus Afrika, Spanien, Portugal, Frankreich.“

„Und das nennst du sammeln?“

„Und im Herbst viele Vögel aus Nordeuropa, zum Überwintern; aus Norwegen, Schweden, Finnland, Dänemark und Island.“

„Wie Briefmarken sammeln.“

Mit einer Bewegung der Linken machte er mir klar, dass er davon nicht viel hielt. Erneut schloss er die Augen.

„Nach Nordafrika“, sagte er, ohne den Satz zu beenden. „Skandinavien wäre auch toll.“

„Zum Birdwatching meinst Du?“

Er nickte.

„Meinst du das?“

„Was sonst?“

„Klar, was soll man in Afrika oder Schweden auch anderes machen.“ Ich löste mich kurz aus seinem Klammergriff, rückte einen Stuhl heran und setzte mich ganz nah an sein Bett. Sofort nahm er meine Hand, zog an meinem Arm und klemmte ihn fest unter seine rechte Achsel. Es war erst das zweite oder dritte Mal, dass ich ihn außerhalb meines Dienstes besuchte. Es war Mitte September. Die Bäume vor seinem Fenster verloren ihr Grün. Seit Juli gehörte ich zu einer Handvoll Zivis im Haus. Jeder hatte eine Gruppe von Kindern, die er betreute. Christian war nicht in meiner Gruppe. Er war mit Abstand das älteste aller Kinder im KIZE. Mit seinen fünfzehn Jahren fühlte er sich mehr zu uns hingezogen. Mit den Kleineren und Kleinsten hatte er schlicht nichts am Hut, und weil er sich einsam fühlte, suchte er unsere Gesellschaft.

Was Einsamkeit bedeutete, wie es sich anfühlte, als habe das Leben einen zurückgelassen, konnte ich schmerzlich nachvollziehen. Ich hatte zwei Schwestern. Beide starben einen frühen Tod. 1972 war Helene mit neunzehn Jahren an einer Bauchfellentzündung gestorben. Nach geplatztem Blinddarm war sie als Notfall ins Krankenhaus eingeliefert worden. Ein ganzes Jahr lang musste sie leiden, bis sie den Kampf verlor. Ich war zwei Jahre alt und noch zu klein, um den Verlust zu realisieren. 1984 kam meine Schwester Else gemeinsam mit ihrem Freund bei einem Autounfall ums Leben. Es war kurz vor Weihnachten geschehen. Das erste Glatteis im Jahr. Es war ein Trauma für die ganze Familie. Ich war vierzehn. Elses Tod war ein großer Schock für mich. Sie war gerade mal neunundzwanzig Jahre alt geworden – und sie war für mich mehr als nur meine große Schwester gewesen. Nun war ich Einzelkind, und der Verlust machte mich auch zum Einzelgänger. Zuerst versuchte ich zu verdrängen: Alkohol, Feiern, alles Mögliche. Trotzdem hatte ich kaum Kontakt zu Gleichaltrigen. Drei Jahre ging das so. In diesem Zeitraum machte ich meine Lehre, die ich aber unwichtig fand. Meine Schwestern hatten eine Lücke hinterlassen, in der ich mich selbst zu verlieren drohte. Ich lernte mit dem Schmerz zu leben, aber die Lücke blieb. Ich wusste nichts mit meinem Leben anzufangen und entschied, noch einmal die Schulbank zu drücken. Um etwas Sinnvolles zu tun, beschloss ich, meine Fachhochschulreife nachzuholen.

Das Jahr am Berufskolleg in Bietigheim-Bissingen ging schnell zu Ende, fast zu schnell. Denn auch nach diesem Jahr hatte ich immer noch keine Vorstellung von meiner Zukunft entwickelt. Die Frage „Wo willst du hin?“ stand nach wie vor mahnend im Raum. Über eine zufällige Bekanntschaft erfuhr ich, dass Maulbronn Zivis suchen würde. Das war es also? Von hinten drängte die Frage nach der eigenen Zukunft. Von vorne zog das Rufen irgendeiner imaginären Stimme meine Aufmerksamkeit auf sich. Dem Drängen nachgebend und dem Ruf folgend, setzte ich mich mit der Pflegeleitung in Verbindung. Sie wollten mich eine Zeit lang beobachten und sehen, wie ich mich in der Praxis anstellen würde. Am Ende befand die Leitung, ich sei qualifiziert. So wurde ich Zivi. Ich war zwanzig Jahre alt. Ein junger Mensch, der keinerlei Erfahrung mit Behinderten oder deren Pflege hatte. Anfänglich war es sehr anstrengend für mich, aber auch schnell sehr befriedigend. Über meine Arbeit fand ich wieder zu mir selbst. Ich sah wieder einen Sinn im Leben. Auch, weil ich noch nie zuvor solches Leid gesehen hatte: verhaltensauffällige Kinder. Kranke Kinder. Überforderte oder unwillige Eltern. Kinder mit schweren Behinderungen, entweder angeboren oder durch Krankheit oder Unfall verursacht.

Dann las ich Christians Akte. Ich war schockiert. Sein jahrelanger Leidensweg durch die Kliniken war lückenlos dokumentiert. Ich las, dass alles in seinem siebten Lebensjahr begonnen hatte. Ich stellte mir vor, wie sein rechter Fuß anfing, nach innen zu ziehen, dann sein linker. Wie er seine Füße nicht mehr aufsetzen konnte und ihm das Gehen unmöglich wurde. Wie sich die unkontrollierten Bewegungen über die Beine auf seine ganzen Gliedmaßen ausweiteten. Wie sein Rücken nach hinten zog, wie ein dauerhaftes Hohlkreuz an seinem noch kindlichen Körper zerrte, sodass an ein aufrechtes Sitzen nicht mehr zu denken war. Wie er verzweifelnd, weinend versuchte, die Veränderungen zu verstehen. Wie er nach nur wenigen Wochen fast sämtliche Kontrolle über seinen Körper verloren hatte. Wie die Ärzte keine Erklärung fanden und nur herumexperimentierten. Wie ein Arzt ihn von der Hüfte abwärts eingipste, in der Hoffnung, dass sich Christians Beine nicht mehr unkontrolliert bewegen würden. Wie Christians Gliedmaßen im Gips weiter die Bewegung suchten und er sich aufscheuerte, was eine Infektion zur Folge hatte. Wie andere Ärzte eine psychologische Ursache unterstellten und er seine Eltern nur noch sehen durfte, wenn er sich das durch bestimmte Übungen verdient hatte; etwa wenn er es geschafft hatte, sich selbst die Zähne zu putzen oder ohne fremde Hilfe etwas zu essen. Je nach Schwierigkeitsgrad bekam er dafür mehr oder weniger Punkte. Die gesammelten Punkte konnte er für Kinobesuche einlösen oder für die Teilnahme an Gruppenveranstaltungen oder für Besuche der Eltern. Immer wollte er zu den Eltern, immer wollte er nach Hause. Er spielte dieses perfide Spiel mit. Fühlte sich unter Druck gesetzt, weil er keine Wahl hatte. Es machte ihn wütend. Ich las, wie er litt. Wie er die körperlichen und psychischen Qualen jahrelang nur unter stärksten Medikamenten ertrug. Wie Valium sein dauerhafter Begleiter wurde. Wie er mit unbändigem Willen gegen die Krankheit ankämpfte und versuchte, ihr glückliche Momente abzutrotzen.

Von seiner Krankheit hatte ich vorher noch nie etwas gehört. Schon einmal hatte ich auf der Straße Menschen im Rollstuhl gesehen, die auffallend unkontrollierte Körperbewegungen machten, Fehlbewegungen. Die etwa urplötzlich den Kopf nach hinten warfen oder den Oberkörper nach vorne schleuderten. Manchmal schien es, als hätten sie den Kopf zur Seite gelegt, etwa so, als würden sie ein Bild in einem Museum genauer betrachten wollen. In Wirklichkeit konnten sie diese Bewegungen gar nicht beeinflussen. Christians Krankheit hatte seinen ganzen Körper im Griff. Er hatte die Kontrolle über seine Bewegungen verloren; Symptome einer generalisierten Dystonie. Um eine plötzliche Fehlbewegung zu verhindern, durch die er sich hätte verletzen können, oder einfach, um überhaupt zur Ruhe zu kommen, bekam er Psychopharmaka, wie man sie auch Parkinson-Patienten gegen starkes Zittern gibt. Von diesen krampflösenden und muskelentspannenden Präparaten war er abhängig. Ohne diese Medikation ging gar nichts.

Die ersten Anzeichen seiner Krankheit zeigten sich bei ihm im Alter von sechs Jahren. Als eine beginnende generalisierte Dystonie wurden seine Symptome zunächst noch nicht erkannt. Zuerst war sein rechter Fuß davon betroffen. Fast unbemerkt begann dieser zu „spinnen“. Christians Eltern dachten wohl, es sei eine Sache, die vorüberginge. Zwei Monate später fing der linke Fuß an. Schuhe konnte Christian bald nicht mehr tragen. Jetzt begann der rechte Fuß nach innen zu ziehen. Das machte das Auftreten schwierig. Dann bekam er Probleme, überhaupt Schritte zu machen, weil sich die Beine nicht mehr nach vorne bewegen ließen. Es ging weiter, bis die Krankheit von seinem Körper so weit Besitz genommen hatte, dass er gar nicht mehr laufen und später auch nicht mehr sitzen konnte. Er konnte den Oberkörper nicht mehr aufrechthalten, die Arm- und Handfunktionen waren gestört. Geistig verlief seine Entwicklung wie bei jedem normalen Kind, doch viele, die ihn nicht kannten, dachten, er sei geistesgestört. Grund dafür war sein ungewöhnliches Verhalten, waren seine krampfartigen Gesten, seine plötzlichen Bewegungen, die ohne jeden erkennbaren Sinn abliefen, seine Muskelverkrampfungen, die den Kopf nach hinten oder den Oberkörper nach vorne zogen. Er erzählte mir das alles bei meinen Besuchen. Nach und nach. Er erzählte von dem Tag im Dezember 1981, als alles mit dem einen Fuß angefangen hatte, vom Klinikaufenthalt in Heidelberg im darauffolgenden Februar und wie er dort in der Klinik auf dem Boden lag und sich unkontrolliert bewegte. An die drei Monate dazwischen hatte er keine Erinnerung mehr.

(…) Alle bekannte Literatur beschreibt das Zustandekommen eines solchen Krankheitsbildes sehr schleichend über Monate und Jahre und nicht binnen weniger Wochen. (…) So formulierte es sein Kinderarzt Anfang 1989 in einem Schreiben an einen Kollegen, bei dem er um fachlichen Rat gebeten hatte.

Dass es sich bei seiner Krankheit um eine spezielle Funktionsstörung im Gehirn handelte, die sich negativ auf seine Bewegungsabläufe, aber nicht auf seine Intelligenz und damit auch nicht auf seine Denkleistung auswirkte, musste auch ich erst verstehen. Er war geistig vollkommen normal, aber gefangen in einem Körper, der ihm jegliche Kontrolle entzogen hatte.

Seit Februar ’90 lebte er in der Maulbronner Kinderklinik. Zum Zeitpunkt seiner Einlieferung war er aufgrund seiner körperlichen Probleme sehr depressiv gewesen. Sein Zustand hatte sich zuvor sehr verschlechtert, sodass es ihm nicht mehr möglich gewesen war, den Unterricht an der Schule für Körperbehinderte in Langensteinbach zu besuchen.

In Maulbronn hatte man zunächst die schon Ende 1989 begonnene Behandlung gegen die Störungen der Muskelspannung fortgesetzt. Daneben hatten täglich psychotherapeutische Gespräche und krankengymnastische Übungsbehandlungen stattgefunden. Ein weiterer Behandlungsversuch mit einer Kombination von Timonil, einem Medikament zur Behandlung von epileptischen Anfallserkrankungen, und Orap, einem Neuroleptikum zur Behandlung spezieller psychischer Erkrankungen, sowie abendlichen Gaben des Schlafmittels Diazepam musste wegen zunehmender Bewegungsstörungen nach einigen Wochen abgebrochen werden. Ab Mitte Mai 1990 hatte sich Christians Zustand unter einer kombinierten Behandlung von Akineton (gegen Bewegungsstörungen), Timonil (zur Behandlung von epileptischen Anfallserkrankungen) und Frisium (beruhigendes und angstlösendes Medikament) erheblich verbessert, die bizarren Bewegungen nahmen deutlich ab, seine Stimmungslage verbesserte sich, auch das Interesse an sozialen Kontakten nahm zu.

Jetzt im Herbst, nach umfangreicher Behandlungsprozedur, ging es ihm schon wieder besser. Er konnte in Bauchlage Bücher lesen und seinen Kassettenrecorder selbstständig bedienen, führte leichte Werkarbeiten aus und beteiligte sich an Spielen am Tisch. Soweit es ihm möglich war, half er auch in seiner Stationsgruppe mit und wischte nach dem Essen den Gruppentisch ab. Mit seinem einfachen Bauchlieger-Selbstfahrer hatte er gelernt, sich über kurze Strecken fortzubewegen. Schwierig war für ihn noch das Sitzen. Er schaffte es zwar, aus der Bauchlage in den Fersensitz hochzukommen, aber langes Sitzen in dieser Position strengte ihn sehr an. Dass er den Kassettenrecorder wieder bedienen konnte, war sein größtes Glück.

Schwer behindert / leicht bekloppt

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