Читать книгу Schwer behindert / leicht bekloppt - Bernd Mann - Страница 8
1. Kapitel
ОглавлениеNichts deutete darauf hin, dass ein Opel Kadett und ein Schweineanhänger eines Tages eine unfreiwillige Verbindung eingehen und mit an einer Geschichte schreiben würden. Der Kadett war mein allererstes Auto. Der Anhänger eigentlich im Ruhestand. Früher hatte ihn mein Vater, der ein kleines Haus mit Scheune, Stall und etwas Grund im alten Weinort Horrheim besaß, für Transporte benutzt und damit regelmäßig eines seiner Schweine zum Schlachter befördert. Bis zum Beginn der Geschichte hatte ich um den Anhänger immer einen großen Bogen gemacht. Jetzt sah ich ihn direkt vor mir, und sein Schweinegestank stank mir, wie mir das ganze Leben auf dem Dorf stank, auf dem Land stank. Nein, auf dem Land sah ich meine Zukunft damals nicht. In meinem Kadett schon. Jedenfalls meine nähere Zukunft.
Mein Name ist übrigens Bernd Mann. Sie können aber gerne Bernd zu mir sagen. Der andere Mensch, um den es in diesem Buch geht, heißt Christian. Christian ist schwerbehindert. Die Christian-Bernd-Geschichte, um die es in diesem Buch geht, hat keinen genauen Anfang. Ich kann heute nicht mehr sagen, dann und dann hat alles angefangen, denn die Christian-Bernd-Geschichte hat viele Anfänge und viele Geschichten. Ich greife diese Anfangsgeschichte heraus, weil sie mit meinem alten Opel Kadett und einem noch älteren Schweineanhänger beginnt und beide eine emotionale Spur in meinem Gedächtnis hinterlassen haben.
Der Kadett war orange und hatte vier Türen. Ein Kadett mit dieser Farbe war Ende der 1980er Jahre nichts Besonderes, ein Kadett mit vier Türen schon. Zuerst war mir das peinlich. Die Viertürenvariante war in meinen Augen doch eher etwas für Familien oder Rentner. Vier Türen waren praktisch, aber interessiert das einen Achtzehnjährigen? „Der oder keiner“, sagte mein Vater. Und so wurde es der, denn das war eindeutig besser als keiner: Opel Kadett D, 60 PS, Baujahr 1984, 59.000 Kilometer gelaufen, vier Türen, Farbe: Saft-Orange. Mit seinen vier Türen und dazu noch einer Anhängerkupplung war der zwar keine Liebe auf den allerersten Blick, aber das änderte sich von einer Sekunde auf die nächste, als ich ihn in Besitz nahm. Es war eines jener Allererstenmale, die man nie vergisst. Ich saß das erste Mal auf den schwarzgrauen Polstern hinter dem Lenkrad, und es fühlte sich an wie der erste Kuss oder die erste Zigarette. „Wow!“, dachte ich. Vor allem, weil in der Mittelkonsole eine glänzend silberne Stereoanlage mit Kassettendeck und Verstärker eingebaut worden war. Das war eindeutig etwas für einen Achtzehnjährigen. Okay, man musste für den Kaltstart auch noch einen Choke ziehen, aber wichtig war, dass ich ihn bisher in guten Händen wusste. Der Kadett gehörte dem Bruder eines Freundes. Der Bruder des Freundes war vier Jahre älter und wollte den Wagen genau zu dem Zeitpunkt verkaufen, als mein 18. Geburtstag bevorstand. Das war am 18. April 1988. 4.500 Mark sollte er kosten. Eine Stange Geld. Einen Teil verdiente ich mir im Weinberg. Den größeren Batzen bekam ich von meinen Eltern. Mein Vater hatte einen kleinen Acker verkauft.
Wenn ich heute an meinen Kadett denke, überkommt mich ein Gefühl von totaler Freiheit. Denn wie jedes Kind war ich jahrelang mit meinen Eltern im Auto unterwegs gewesen, bis ich dann eines Tages ein eigenes hatte. Mit achtzehn Jahren machte ich den Führerschein. Denn mit Achtzehn will man Auto fahren können. Zum Erwachsenwerden gehörte das für mich dazu: Volljährigkeit, Führerschein, Auto – für mich war das völlig normal. Wenig später stand der Kadett vor unserer Haustüre und ich daneben mit dem Lappen in der Tasche. Er hatte ein elegantes Fließheck und Alufelgen, die schon etwas ramponiert waren, was mich aber nicht störte. Ich war trotzdem unglaublich stolz. Einsteigen, Motor starten und überall hinfahren können. Welt, ich komme! Klar, mein Kadett war ein Gebrauchter, aber ich konnte mich auf ihn verlassen. Liegengeblieben sind wir eigentlich nie. Und die unzähligen selbstausgeführten Reparaturen schweißten uns nur noch mehr zusammen. Es war eine herrliche, unbeschwerte und auch ereignisreiche Zeit. Zuerst war Vaihingen an der Enz unser tägliches Ziel, da ich dort bis ’89 eine kaufmännische Lehre bei der Württembergischen Eisenbahngesellschaft machte. Danach steuerten wir ein Jahr lang Bietigheim-Bissingen an, wo ich Anfang ’90 im Berufskolleg die Fachhochschulreife ablegte. Schließlich fuhren wir fast täglich an den Ort, an dem ich meinen Zivildienst abzuleisten hatte: Maulbronn. Wir waren unzertrennlich geworden. Diese innige Beziehungszeit zwischen meinem Kadett und mir war auch die Zeit, in der ich Christian kennenlernte.
An einem außergewöhnlich schönen Oktobertag 1990 fuhr ich von Horrheim nach Maulbronn, um ihn abzuholen. Ich lebte damals noch bei meinen Eltern, er im Kinderzentrum Maulbronn, einer Klinik für Kinderneurologie und Sozialpädiatrie mit einem angeschlossenen, ambulanten sozialpädiatrischen Zentrum. Ich war seit Sommer einer der Betreuer, die im KIZE ihren Zivildienst leisteten. Eigentlich wäre für mich heute ein freier Tag gewesen. Aber gerade deshalb hatte ich Zeit, zu tun und zu lassen, was ich wollte. Und heute wollte ich Christian abholen. In das Kassettendeck meiner glänzend silbernen Stereoanlage hatte ich Bowie gesteckt, als ich die Ortsausfahrt von Horrheim erreichte und auf die Landstraße bog, tönte sein „Heroes“ aus den Boxen. Verstärkt durch den Verstärker der glänzend silbernen Stereoanlage schmetterte Bowie seinen Text in die Welt. Er sang von zwei Menschen, die Helden sein konnten – für immer und ewig oder auch nur für einen Tag. Und ich sang, nein, ich brüllte mit. So fuhr ich, getragen von Heldengesang, die Landstraße entlang, die mich Richtung Maulbronn führte, fuhr durch ein Panorama, das von der herbstlich gestimmten Natur in ein unnatürliches Orange getaucht worden war. Die Straße unter mir folgte der sanften Hügeligkeit der Landschaft. Ich ritt auf einer Welle. Hinten hatte ich zwar den ungeliebten Schweineanhänger am Haken, aber mein Gemüt hatte eine orangerote Brille aufgesetzt. Egal in welche Richtung ich schaute – nach vorne, was ich meistens tat, durch die Seitenscheiben, was ich manchmal tat – die Welt um mich herum war ein einziges Oh!-range. Von Herbstblatt-Oh!-range bis Kadett-Oh!-range war alles vertreten. Sogar beim Blick in den Rückspiegel, der fast ganz vom Schweineanhänger eingenommen war, nahm ich die Welt oh!-range gefärbt wahr. Es war wohl auch die Freude auf Christian, der auf mich wartete, die alles färbte. Als Zivi war ich sein Betreuer geworden. Als Bernd war ich inzwischen irgendwie sein Freund. Verrückt. Ich fuhr zu einem Freund, der schwerbehindert war. Aber was hätte ich an diesem Tag Besseres tun sollen? Verrückt? Verrückt oder normal – für mich hatte es sich immer richtig angefühlt. Auch damals schon. Den Rest machte der Song von Bowie mit mir, der von völlig normalen Menschen erzählte, die „Heroes“ sein konnten. Helden für immer, für einen Tag oder auch nur für eine Viertelstunde Wegzeit von Horrheim nach Maulbronn.
Nachdem ich die Landstraße verlassen hatte, kurvte ich noch einen kurzen Weg die Höhenstraße entlang, die mich bald durch das Zentrum des Städtchens führte. Die Klinik lag auf einem Hügel über der Stadt. Das letzte Stück der Straße stieg noch einmal an: die Knittlinger Steige. Die Auffahrt, eine langgezogene Schräge, mündete direkt in den Parkplatz vor dem Kinderzentrum. Ich überlegte noch, wie ich am besten Einparken sollte, da sah ich im Spiegel, dass Christian bereits durch die gläserne Eingangstüre des KIZE ins Freie gefahren wurde. Er lag wie gewöhnlich auf seinem Liegerollstuhl, den ein Zivi-Kollege schiebend Richtung Parkplatz manövrierte.
Mein Blick blieb nur den Bruchteil einer Sekunde an Christian hängen. Kadett und Schweineanhänger forderten meine ganze Aufmerksamkeit. Mit ein paar geschickten Lenkbewegungen brachte ich das Gespann in einer passenden Lücke in Position. Ich hatte es geschafft. Ich war ein Held. Kadett und Anhänger standen bereit.
Der Schweineanhänger tat gute Dienste als Transportmittel für Christians Liegerollstuhl. Obwohl ich den Hänger, in dem mein Vater dereinst sein Borstenvieh ans Messer des Metzgers geliefert hatte, einer chemischen Vollreinigung unterzogen hatte, war ein Rest von Schweineparfüm zurückgeblieben.
„Na, macht nichts“, hatte Christian dazu nur gesagt. „Wir haben Schwein, dass wir überhaupt was zum Transportieren für das Ding gefunden haben.“ Mit kleinen Witzen dieser Art schaffte Christian fast jedes Problem aus der Welt. Es war eine Form von Improvisation, die ich erst noch lernen sollte. Ich lernte, indem ich mir Christian zum Vorbild nahm.
Nachdem ich ausgestiegen war, ging ich hinten um den Hänger herum und sah, dass Christian schon auf mich wartete, allein, denn der Zivi-Kollege war schon wieder im Haus verschwunden.
„Hey, mein Großer“, rief ich ihm entgegen.
Christian lachte: „Parken ist aber nicht deine Stärke, was?“
„Du hast gut reden. Ich gebe hier alles, während du es dir schön bequem machen kannst und dich vorfahren lässt.“
Auf seinen Vorschlag, dass wir ja tauschen könnten, ging ich gar nicht erst ein. Er versuchte mich damit aus der Reserve zu locken. Das kannte ich schon, weil er das gerne machte. Wir begrüßten uns mit einer Umarmung. Eine Umarmung musste sein. Auch wenn wir uns erst gestern oder vor wenigen Tagen gesehen hatten, umarmten wir uns jedes Mal so, als käme einer von uns gerade von einer monatelangen Weltumseglung zurück.
„Wenn wir heute noch unsere Spazierfahrt machen wollen, musst du mich jetzt loslassen“, sagte ich zu ihm. Aber er hielt mich weiter fest. Auch das kannte ich längst von ihm. Schon von Anfang an hatte er mich immer festgehalten. Er suchte den Körperkontakt, wie ein Durstiger in der Wüste das Wasser sucht. Und wenn er den anderen Körper gefunden hatte, brauchte er stets eine größere Dosis Körperkontakt als andere Menschen. Das Berühren des eigenen oder fremden Körpers bedeutete ihm viel mehr. Es war für ihn ein Berühren der eigenen oder fremden Seele, das erst durch den körperlichen Kontakt entstand. Als ich ihn im Spätsommer kennenlernte, war ich mir dessen noch nicht bewusst gewesen. Aber schnell begriff ich: Christian litt nicht nur körperlich, er litt auch seelisch. Seine Seele zeigte starke Mangelerscheinungen. Es war der Mangel an Berührung. Seit Beginn seiner Krankheit hatte er immer zu wenig davon bekommen.
„Bis zehn, dann loslassen“, sagte ich. Ich zählte. Bei zehn ließ er los und lachte. Das war unser Spiel.
Wieder ein freier Mann, drehte ich Christian den Rücken zu und machte mich gleich am Anhänger zu schaffen. Die wenigen Handgriffe würden in gefühlt zwei Minuten erledigt sein: Zuerst musste ich den Liegerollstuhl mit Christian darauf beim Hänger parken, dann die Klappe vom Anhänger öffnen, die Anhängerplane nach oben schlagen, die Rampe herausziehen, Christian fragen, wohin er heute am liebsten fahren würde, mich dabei umdrehen, ihn huckepack nehmen, zum Kadett tragen, ihn auf die Rücksitzbank setzen, wieder nach hinten gehen, den Liegerollstuhl die Rampe hoch in den Schweineanhänger schieben und festzurren. Fertig.
Unglaublich, was in zwei Minuten alles zu schaffen war. Gerade war ich beim Anhängerplane-Nach-Oben-Schlagen und Rampe-Herausziehen, da hörte ich Christian hinter mir meinen Namen rufen: „Beeeernd!“ Ich drehte mich um. Zu spät: Christian rollte die Auffahrt hinunter. „Bremseeeen!“, schrie ich ihm nach. „Du musst bremseeen!“ Schon sah ich ihn die Auffahrt hinabrasen. Ich lief los, lief so schnell ich konnte. Aber während ich rannte, entfernte er sich immer weiter von mir. Selbst wenn ich noch so schnell rannte, ich konnte ihn nicht erreichen. Unglaublich, schoss es mir durch den Kopf, was in zwei Minuten alles passieren kann. Ich rannte und fühlte, dass ich nichts anderes machen konnte, als rennen. Christian schien im Zeitraffer unterwegs zu sein, während ich mich in Zeitlupe bewegte. Mir war, als gab es eine Zeit in der Zeit, und die stand still für mich. Ganz anders Christians Rollstuhl, der rollte und raste auf die Knittlinger Steige zu. Wenn er am Ende der Zufahrt nicht über die Steige hinwegschoss, glaube ich an Wunder. Meinen Kadett verkaufe ich auf der Stelle und spende dem Kloster Maulbronn einen größeren Geldbetrag. All das jagte durch meinen Kopf. Doch ich sah voraus, dass ich meinen Kadett behalten würde. Ich hätte so gerne jemanden dafür verantwortlich gemacht. Aber es war gerade keiner da. Und Christian war nun auch schon sehr weit weg, war nur noch als kleiner, nervöser Punkt irgendwo am Ende der Auffahrt zu sehen. Ich versuchte mich in seine Lage zu versetzen. Ich lag bäuchlings, Kopf voran, auf einem Liegerollstuhl und raste auf die Knittlinger Steige zu. Ich krallte meine Finger in die seitlich angebrachten Polster, wobei ich versuchte, durch Verlagerung meines Gewichtes, ähnlich einem Rodler beim Cresta-Run, der rasenden Fahrt meines Liegerollstuhls eine für mein Überleben vorteilhafte Richtung zu geben. Rechts flogen parkende Autos an mir vorbei, links ein paar mittelgroße Bäume. Zwischen den Bäumen sah ich immer wieder das Grün einer weiten Rasenfläche aufblitzen. Ich war nassgeschwitzt. Ich war ausgepumpt. Ich zitterte. Ich hatte weiche Knie. Am Fuß der Auffahrt angekommen, hielt ich mich gerade noch an der Hoffnung fest. Und ich dachte: Gott sei Dank! Das fürchterliche Schicksal, dass er sich bei einem Sturz so schwer verletzt, dass er den Rest seines Lebens an den Rollstuhl gefesselt ist, ereilt ihn ganz sicher nicht mehr. Davon konnte ich ausgehen. Allein der absurde Gedanke besänftigte mein pochendes Herz. Und so stand ich für einen Moment still, hielt Ausschau nach Christian, staunte, dass er die Knittlinger Steige trotz Autoverkehr sauber gequert hatte, und fragte mich, wie es sich für ihn angefühlt haben musste, als er auf der anderen Straßenseite über die Böschung hinweggeschossen war. Jetzt war alles nur noch eine Frage von Sekunden – und von Glück. Betrunkene und Kinder, dachte ich noch, schützt der liebe Gott. Vielleicht stimmte es ja, was der Volksmund sagte, und Christian war mit seinen fünfzehn Jahren noch mal mit dem Schrecken davongekommen. Am liebsten wäre ich da, wo ich jetzt stand, für immer stehen geblieben. Aber es half nichts. Und so setzte ich an, die Straße zu überqueren, als von hinten plötzlich eine Stimme nach mir rief: „Beeernd!“
Ich drehte mich um, so schnell wie ein Duellant, der von seinem Herausforderer bei seinem Namen gerufen worden war. Aber nichts. Alles war ruhig. Hinter mir lag die Zufahrt friedlich in der Herbstsonne, links parkten die Autos, völlig unbeteiligt, als sei nichts gewesen, und rechts reihte sich immer noch ein mittelgroßer Baum an den nächsten.
„Beeernd!“
Ich hörte, was sich wie Christian anhörte, aber ich sah nichts, was wie Christian aussah: „Christian, wo steckst du, verdammt?“
„Beeernd!“ Jetzt war es eindeutig: Die verzerrte, atemlose Stimme des Rufers kam von jenseits der Bäume, die vor dem grünen Rasen Spalier standen. – Ich hatte alles Mögliche erwartet, aber keinen Christian, der vor Lachen brüllte. Er war vollkommen außer sich. Er lachte wie irre. Der steht ja total neben sich, dachte ich, betrachtete das Bild des laut lachenden Christian, bis ich bemerkte, wie wenig behindertengerecht die deutsche Sprache ist.