Читать книгу Die E-Zigarette - Bernd Mayer - Страница 10
3.2 TOXIZITÄT
ОглавлениеHäufig liest man Nikotin sei ein tödliches Nervengift. Das ist grundsätzlich richtig, aber nur die halbe Wahrheit. Um das zu verstehen müssen wir zunächst klären, welche Stoffe als Gifte zu bezeichnen sind. In der Bevölkerung besteht vermutlich Einigkeit, dass die aus Kriminalromanen gut bekannten Stoffe Arsenik oder Kaliumcyanid („Blausäure“) Gifte sind, wohingegen Kochsalz oder Arzneimittel gemeinhin als nützlich erachtet werden. Diese Unterscheidung ist wissenschaftlich allerdings nicht haltbar. Bereits vor 500 Jahren hat Paracelsus erkannt, dass der Begriff „Gift“ oder „giftig“ immer auf eine Dosis Bezug nehmen muss. Oder wie das in einem Standard-Lehrbuch der Toxikologie formuliert ist: Es mag ein Dosisbereich existieren, in dem ein bestimmtes Agens eine giftige Wirkung entfaltet. Es gibt immer auch Expositionsbereiche eines Agens, die keine unerwünschten Wirkungen auslösen. [33] Um beim Beispiel Blausäure zu bleiben: Bittermandeln, Aprikosenkerne und andere pflanzliche Nahrungsmittel enthalten Bestandteile (Glykoside), die im Körper Blausäure freisetzen. Dennoch ist der Verzehr geringer Mengen unbedenklich. Unter Berücksichtigung der Dosisabhängigkeit biologischer Wirkungen werden von den Behörden deshalb Grenzwerte für die Aufnahme potentiell schädlicher Substanzen definiert. Im Fall von Cyanid beträgt der tägliche Grenzwert 20 mg pro Kilogramm Körpergewicht. Für einen 60 kg schweren Menschen ist demnach die über den Tag verteilte Aufnahme von bis zu 1,2 Gramm Cyanid nicht „giftig“. Umgekehrt kann der Verzehr von an sich als „ungiftig“ angesehenen Lebensmitteln durchaus fatal enden: 150 Gramm Kochsalz können tödlich sein. In hoher Dosierung wirkt also ein Stoff, den jeder von uns im Küchenschrank aufbewahrt und täglich benutzt, als tödliches Gift. Für das gut verträgliche, auch für Kleinkinder und schwangere Frauen zugelassene Schmerzmittel Paracetamol (zum Beispiel Mexalen®) beträgt die empfohlene Einzeldosis 0,5 Gramm, die tägliche Maximaldosis 2 Gramm. Aber bereits ab einer Dosis von etwa 8 Gramm führt Paracetamol zu schweren, lebensbedrohlichen Leber- und Nierenschäden. In Abhängigkeit von der Dosis ist diese Substanz entweder ein hilfreiches Schmerzmittel für Babys oder tödliches Gift.
Aber nun zum Nikotin. Die Wirkungen von Nikotin beruhen auf der Stimulierung von bestimmten Rezeptoren auf Nervenzellen, die durch den Neurotransmitter Acetylcholin aktiviert werden. Nikotin imitiert also ein körpereigenes Wirkprinzip. In dem beim Rauchen oder Dampfen erzielten Konzentrationsbereich regt Nikotin die Zellen zur Aktivität an, hat also einen stimulierenden Effekt. In mehr als 100-fach höherer Konzentration kehrt sich dieser Effekt jedoch um, sodass die Funktion der Nervenzellen blockiert wird und Nikotin seine neurotoxische Wirkung als Nervengift entfaltet.
Die Wirkumkehr beruht dabei auf der Dauerstimulierung der Acetylcholin-Rezeptoren, die zu einer Aktivitäts-Blockade der Nervenzellen führen. Auf einem ähnlichen biochemischen Effekt beruht auch die relaxierende Wirkung von Suxamethonium (Succinylcholin), einem Mittel, das bei chirurgischen Eingriffen zur Entspannung der Skelettmuskulatur verwendet wird. Eine Wirkung, die im übrigen auch Curare-Derivate entfalten, die als muskellähmende Pfeilgifte südamerikanischer Indianer bekannt sind.
Nunmehr stellt sich die wesentliche Frage, unter welchen Umständen die Nikotinkonzentration im Blut so hoch werden kann, dass die neurotoxische Wirkung von Nikotin zum Tragen kommt. Nikotin wird im Körper rasch abgebaut und verteilt sich in zahlreichen Geweben, sodass bei kontinuierlicher Zufuhr kleiner Mengen, wie das beim Rauchen oder Dampfen der Fall ist, gefährliche Blutspiegel niemals erreicht werden. Es stellt sich ein Fließgleichgewicht (steady state) ein, das den Anstieg der Nikotinkonzentration im Blut limitiert. Außerdem löst Nikotin bereits bei leichter Überdosierung unangenehme Wirkungen wie Schwindel, Kopfschmerzen und – in Extremfällen – Erbrechen aus, die uns zur Unterbrechung der Aufnahme veranlassen: man legt eine Rauch- oder Dampfpause ein. Somit stellt man durch Anpassung des Rauchverhaltens unbewusst optimale Nikotinspiegel ein, man „titriert“ die erforderlichen Blutspiegel an Nikotin, ohne sich dessen bewusst zu sein. Diese Selbsttitration mit Nikotin ist für das Rauchen seit langem dokumentiert, und aktuelle Studien zeigten das auch für das Dampfen [34]. Das von Frau Dr. Martina Pötschke-Langer bei einer Anhörung im deutschen Bundestag gezeichnete Schreckensbild von Dampferinnen und Dampfern, die bis zur Bewusstlosigkeit an ihren E-Zigaretten ziehen [35], ist daher realitätsfern und als Science Fiction zur Bekämpfung von E-Zigaretten einzustufen.
Ernsthafte Vergiftungserscheinungen bis hin zum Tod treten nur auf, wenn größere Mengen an Nikotin als Bolus („auf einen Sitz“) aufgenommen werden. Bei oraler Aufnahme (Verschlucken) von Nikotin in Form von Tabak oder nikotinhaltigen Flüssigkeiten wird nur etwa ein Fünftel der verschluckten Menge im Körper wirksam, der Rest wird in der Leber abgebaut und ausgeschieden. Fachleute nennen den Anteil eines Wirkstoffs, der ins Blut gelangt und systemisch wirksam werden kann Bioverfügbarkeit. Definitionsgemäß beträgt die Bioverfügbarkeit eines Stoffes bei intravenöser Verabreichung 100 Prozent, da in dem Fall die gesamte Menge direkt in das Blut injiziert wird und dort wirksam werden kann. Je nachdem, wie man einen Wirkstoff zuführt (appliziert), kann die Bioverfügbarkeit aber varriieren. Wie ist das bei Nikotin? Bei Verschlucken ist sie, siehe oben, gering. Beim „Lungenzug“ ist sie hoch. Bei inhalativer Applikation oder „bukkal“ über die Mundschleimhaut, wird Nikotin nahezu vollständig aufgenommen. [36].
Neben der Bioverfügbarkeit ist auch die Geschwindigkeit der Aufnahme von Stoffen zu berücksichtigen. Wenn man Nikotin verschluckt, muss die Substanz zunächst in den Dünndarm und gelangt über die Pfortader und die Leber ins Blut. Das dauert je nach Füllung des Magen-Darmtrakts 30 bis 60 Minuten. Auch über die Haut wird Nikotin aufgrund der Barrierefunktion der Epidermis nur sehr langsam aufgenommen [37,38]. So geben die sogenannten Pflaster (transdermale therapeutische Systeme, TTS) das enthaltene Nikotin nur langsam über einen Zeitraum von 12 bis 24 Stunden ab. Deshalb ist auch die Gefahr von Nikotinvergiftung bei versehentlicher Kontamination der Haut vernachlässigbar. Selbst hochkonzentrierte Nikotinlösungen verursachen keinen merkbaren Effekt, wenn man sich nach einem allfälligen Missgeschick die Hände wäscht.
Bei Aufnahme über die Mundschleimhaut (Lutschtabletten, Sprays) wird Nikotin wesentlich schneller aufgenommen, da der Umweg über den Magen-Darmtrakt und die Leber entfällt. Besonders schnelle Aufnahme beobachtet man bei Inhalation von Tabakrauch, da Nikotin im Rauch an feste Partikel gebunden ist, die aufgrund ihres geringen Durchmessers tief in die Lunge eindringen können und das Nikotin von den Lungenbläschen direkt ins Blut abgegeben wird. Häufig wird kolportiert, inhaliertes Nikotin würde im Gehirn binnen weniger Sekunden seine Wirkung entfalten. Das wurde aber durch eine elegante Studie widerlegt, in der die Aufnahme beim Rauchen mit einem bildgebenden Verfahren untersucht wurde. Es vergingen mehrere Minuten bis im Gehirn maximal wirksame Spiegel an Nikotin erreicht wurden [39].
Bei Inhalation nikotinhaltiger Aerosole aus E-Zigaretten scheint die Geschwindigkeit der Aufnahme etwas langsamer zu sein als beim Rauchen, wobei die in Studien gemessenen Werte allerdings stark variieren [40-43]. Die Geschwindigkeit ist wahrscheinlich nicht nur von der Nikotinkonzentration des Liquids und der eingestellten Leistung, sondern auch von der Zugtechnik abhängig (siehe Kapitel 4). So ist es denkbar, dass bei konventioneller Inhalation („Mund-zu-Lunge“) ein erheblicher Anteil des Nikotins bereits in der Mundschleimhaut und in den oberen Atemwegen aufgenommen wird und daher im Vergleich zur Inhalation „Direkt-auf-Lunge“ verzögert ins Blut gelangt. Dazu liegen aber bisher keine Untersuchungen vor. Unabhängig vom zeitlichen Verlauf sind die maximalen Nikotinkonzentrationen im Blut beim Dampfen ähnlich wie beim Rauchen.