Читать книгу Die E-Zigarette - Bernd Mayer - Страница 12
3.4 HOHES SUCHTPOTENTIAL?
ОглавлениеDas hohe Suchtpotential von Nikotin ist wohl der am weitesten verbreitete Mythos über das Rauchen. Die Suchtwirkung von Nikotin sei vergleichbar mit – wenn nicht sogar stärker als – jene von Heroin, hört und liest man regelmäßig. Wenn ich in Vorträgen die diversen Mythen rund um Nikotin sachlich und evidenzbasiert als Schauermärchen entlarve, rufen meine Ausführungen zur „Nikotinsucht“ regelmäßig Zweifel an meiner Glaubwürdigkeit hervor. Von kopfschüttelndem Lächeln bis hin zu offener Feindseligkeit reichen die Reaktionen des Publikums. Die starke Abhängigkeit der meisten Raucherinnen und Raucher sei ja wohl offenkundig. Wie bereits im Abschnitt über die gesundheitlichen Aspekte geschildert, wird auch bei der Diskussion über Sucht und Abhängigkeit Nikotinkonsum mit dem Rauchen gleichgesetzt. Und es erweist sich als schwierig bis fast unmöglich, diese Gleichsetzung ohne Verlust von Glaubwürdigkeit sachlich und unaufgeregt zu hinterfragen.
Bevor ich den Versuch wage, das hier zu tun, möchte ich daran erinnern, dass Raucherinnen und Raucher nicht an ihrer Abhängigkeit sterben, sondern an den schädlichen Wirkungen der Inhaltsstoffe von Tabakrauch. Man würde eine Sucht gegen eine andere tauschen, wird häufig angeführt. Selbst wenn dieses Argument gegen den Umstieg auf E-Zigaretten gerechtfertigt wäre, sollte man das tatsächliche Problem nicht aus den Augen verlieren. Es stellt sich allenfalls die Frage, ob Abhängigkeit ohne Schädigung von sich selbst oder anderen eine Einschränkung der persönlichen Entscheidungsfreiheit darstellt, die zu vermeiden und gegebenenfalls medizinisch zu behandeln wäre. Diese ethisch/moralische Frage lässt sich nicht sachlich beantworten.
Die Abgrenzung von Sucht (englisch: addiction) und Abhängigkeit (englisch: dependence) ist ebenso schwierig wie eine allgemein akzeptierte Definition dieser Begriffe. Als Mitglied eines internationalen Netzwerks zu tobacco harm reduction hatte ich Gelegenheit, Diskussionen zur Definition dieser Begriffe von weltweit anerkannten Suchtexperten zu verfolgen, die letztendlich kein Ergebnis erbrachten. Auch die WHO kämpft seit Jahrzehnten mit der Terminologie und wird demnächst (ICD-11) auf die Verwendung dieser Begriffe gänzlich verzichten und stattdessen von substance use disorder (Substanzmissbrauch) sprechen. Ich bin kein Experte auf diesem Gebiet und fühle mich nicht dazu berufen, zu dieser Diskussion substantiell beizutragen.
Die WHO hat in ihrer Klassifikation von Krankheiten in der derzeit gültigen Fassung (ICD-10) Kriterien für die Abhängigkeit von Suchtmitteln erstellt (substance use disorder). Demnach ist die Diagnose „Abhängigkeit“ gerechtfertigt, wenn mindestens drei der folgenden Kriterien erfüllt sind (deutsche Übersetzung gemäß drug.com.de):
1 Ein starker Wunsch oder eine Art Zwang, psychotrope Substanzen zu konsumieren.
2 Verminderte Kontrollfähigkeit in Bezug auf den Beginn, die Beendigung oder die Menge des Konsums.
3 Ein körperliches Entzugssyndrom bei Beendigung oder Reduktion des Konsums, nachgewiesen durch substanzspezifische Entzugssymptome oder durch die Aufnahme der gleichen oder nahe verwandter Substanzen, um Entzugssymptome zu vermindern oder zu vermeiden.
4 Nachweis einer Toleranz gegenüber der Substanz, im Sinne von erhöhten Dosen, die erforderlich sind, um die ursprüngliche durch niedrigere Dosen erreichte Wirkung hervorzurufen.
5 Fortschreitende Vernachlässigung anderer Vergnügungen oder Interessen zugunsten des Substanzkonsums sowie ein erhöhter Zeitaufwand, um die Substanz zu konsumieren oder sich von den Folgen zu erholen.
6 Anhaltender Substanzkonsum trotz des Nachweises eindeutig schädlicher Folgen.
Ob bei einem Großteil der Raucher drei dieser Kriterien erfüllt sind, weiß ich nicht. Mit Sicherheit fehlt aber das Kardinalsymptom substanzspezifischer Sucht, wonach Toleranz gegenüber dem Suchtstoff eine zunehmende Steigerung der zur Befriedigung erforderlichen Dosis zur Folge hat. Jedenfalls wäre ein beträchtlicher Anteil der Raucherinnen und Raucher gemäß WHO-Kriterien nicht abhängig, was aber Umfragen widerspricht, wonach 80 Prozent gerne aufhören würden, das aber nicht schaffen. Die WHO-Kriterien mögen für Heroinsucht anwendbar sein, sind aber offenbar nur sehr begrenzt für die Erfassung von Zigarettenabhängigkeit geeignet.
Als Alternative hat der schwedische Tabakforscher Karl Fagerström einen nach ihm benannten Test entwickelt, der mittels eines Punktesystems die Einstufung des Schweregrads der Nikotin- bzw. Zigarettenabhängigkeit ermöglichen soll [48].
Der Fagerström-Test (auf Seite 32) wurde in unzähligen Studien zum Abhängigkeitspotential des Rauchens eingesetzt. Die erzielte Punktezahl variiert mit Alter, Geschlecht, ethnischer Zugehörigkeit, Sozialstatus und anderen Faktoren, sodass die Angabe eines Mittelwerts weder möglich noch sinnvoll ist. Der Fragebogen wurde auch vielfach kritisiert und modifiziert. Besonders augenscheinlich ist, dass man selbst bei einer Punktezahl von 0 als „gering abhängig“ eingestuft wird, die Möglichkeit völliger Unabhängigkeit also nicht besteht. Zudem wurde gezeigt, dass die im Fagerström-Test ermittelte Punktezahl mit der Anzahl der täglich gerauchten Zigaretten korreliert [49], der komplexe Fragebogen demnach schlichtweg überflüssig wäre. Unabhängig von den teilweise kontroversen Zahlen aufgrund der WHO-Kriterien und des Fagerström-Tests ist das starke Abhängigkeitspotential des Rauchens wohl augenscheinlich. Im Folgenden werde ich kurz die Mechanismen beschreiben, die dieser Abhängigkeit zugrunde liegen.
Ein gemeinsames Merkmal aller suchterzeugenden Substanzen ist die Freisetzung von Botenstoffen im Gehirn, sogenannten Neurotransmittern, die das Belohnungs- und Belohnungserwartungssystem aktivieren. Durch die Aussendung positiver Reize signalisieren diese Systeme Lust und Freude und motivieren uns durch diese „Belohnung“ zur Wiederholung der lustvollen Handlung. Allerdings gewöhnen wir uns sehr rasch an die positiven Reize und das Belohnungssystem fordert mehr, es fordert Steigerung der Lust. Ein klassisches Beispiel dafür ist die Kaufsucht, bei der sich unmittelbar nach jedem Einkauf Unzufriedenheit einstellt und zur Befriedigung des Belohnungssystems der nächste Einkauf getätigt wird. Es wurde über Betroffene berichtet, bei denen hunderte nicht ausgepackte Warenpakete aufgefunden wurden. Wir tendieren also dazu, Handlungen zu wiederholen, die lustvolle Erfahrungen zur Folge hatten. Und das ist die Grundlage jeder Form von Sucht und Abhängigkeit.
FAGERSTRÖM-TEST FÜR ZIGARETTENABHÄNGIGKEIT
Wann nach dem Aufstehen rauchen Sie Ihre erste Zigarette?
nach 5 Minuten (3 Punkte)
nach 6 bis 30 Minuten (2 Punkte)
nach 31 bis 60 Minuten (1 Punkt)
nach mehr als 60 Minuten (0 Punkte)
Finden Sie es schwierig, an Orten, wo das Rauchen verboten ist, das Rauchen zu unterlassen?
ja (1 Punkt)
nein (0 Punkte)
Auf welche Zigarette würden Sie nicht verzichten wollen?
die erste am Morgen (1 Punkt)
andere (0 Punkte)
Wie viele Zigaretten rauchen Sie im allgemeinen pro Tag?
31 und mehr (3 Punkte)
21 bis 30 (2 Punkte)
11 bis 20 (1 Punkt)
bis 10 (0 Punkte)
Rauchen Sie am Morgen im allgemeinen mehr als am Rest des Tages?
ja (1 Punkt)
nein (0 Punkte)
Kommt es vor, dass Sie rauchen, wenn Sie krank sind und tagsüber im Bett bleiben müssen?
ja (1 Punkt)
nein (0 Punkte)
AUSWERTUNG | |
0 bis 2 Punkte: | geringe Abhängigkeit |
3 bis 4 Punkte: | mittlere Abhängigkeit |
5 bis 6 Punkte: | starke Abhängigkeit |
7 bis 10 Punkte: | sehr starke Abhängigkeit |
Der bedeutendste Aktivator des Belohnungssystems ist der Neurotransmitter Dopamin, der im Gehirn in den Basalganglien (genauer: im Striatum) durch endogene (körpereigene) Opiate (Endorphine) und Cannabinoide freigesetzt wird. Dopamin aktiviert Dopamin-Rezeptoren in einem für das Belohnungssystem sehr wichtigen Gehirnareal, dem sogenannten Nucleus accumbens; durch Weiterleitung der Erregung an andere Gehirnstrukturen wird Zufriedenheit, Freude und Lust vermittelt. Die Freisetzung von Dopamin in den Basalganglien ist ein gemeinsames Merkmal der meisten missbräuchlich verwendeten Suchtstoffe, wie Amphetaminen, Opiaten oder Kokain [50]. Daher wird Dopaminfreisetzung durch eine bestimmte Substanz häufig als hinreichend für deren Einstufung als Suchtstoff erachtet. Allerdings sind die neuronalen Mechanismen der Erzeugung von Sucht sehr komplex und nur teilweise verstanden. Es besteht keine einfache Korrelation zwischen dem Suchtpotential einzelner Stoffe und dem Ausmaß der Dopaminfreisetzung, und langfristiger Drogenkonsum führt eher zu einer Abnahme der Aktivität dopaminerger Systeme [50]. Eine detaillierte Diskussion der neuronalen Mechanismen von Sucht und Abhängigkeit würde den Rahmen dieses Buches sprengen, daher wollen wir uns nun den Faktoren der Zigarettenabhängigkeit zuwenden. Ich spreche bewusst nicht von Tabakabhängigkeit, da unterschiedliche Tabakprodukte wie Pfeifen, Zigarren, Snus, Kautabak oder Wasserpfeifen jeweils unterschiedliches Abhängigkeitspotential haben, das durchwegs niedriger ist als jenes von Zigaretten.
Es besteht kein Zweifel, dass Nikotin durch Stimulierung nikotinerger Acetylcholin-Rezeptoren in den Basalganglien die Freisetzung von Dopamin auslöst und damit zur Abhängigkeit von Raucherinnen und Rauchern beiträgt. Allerdings weisen zahlreiche Befunde daraufhin, dass diese Wirkung von Nikotin die Zigarettenabhängigkeit nur unzureichend erklärt. Einen auch Laien unmittelbar einsichtigen Hinweis darauf liefert die bereits erwähnte geringe Wirksamkeit von Nikotinersatzprodukten bei der Raucherentwöhnung. Die Entwicklung dieser Produkte in den 1970er Jahren beruhte auf der Annahme, dass Nikotin der entscheidende Suchtstoff in Tabakrauch ist und daher die Substitution mit nikotinhaltigen Arzneimitteln Raucherinnen und Rauchern ausreichende Befriedigung bietet. Wie wir heute wissen, ist das nicht der Fall [51,52]. Die Verabreichung von Nikotin in Interventionsstudien wird von Ethikkommissionen kritisch beurteilt und bedarf daher einer guten Begründung des Therapieziels. Daher sind Studien zum Abhängigkeitspotential von Nikotin ohne Tabak rar gesät. In der Fachliteratur findet man aber zwei Studien, in denen die therapeutische Wirkung von Nikotinpflastern bis zu sechs Monate lang an Patientinnen und Patienten untersucht wurde, die niemals geraucht hatten. Nach Beendigung der Studien wurde kein einziger Fall von Abhängigkeit beobachtet [14,26]. Gegen diese Argumente wird zumeist die „Geschwindigkeitshypothese“ der Sucht angeführt, wonach das Suchtpotential einer Substanz umso stärker ausgeprägt ist, je schneller sie aufgenommen wird und in das Gehirn gelangt. Daher würden Zigaretten, aus denen Nikotin binnen Sekunden in das Gehirn gelangt, abhängig machen, wohingegen das bei Pflastern und Kaugummis mit langsamer Anflutung nicht der Fall sei. Abgesehen davon, dass diese Hypothese aus vielerlei Gründen auf wackeligen Beinen steht, ist die Geschwindigkeit der Nikotinaufnahme auch aus medizinischen Nikotininhalatoren relativ schnell und beim Rauchen langsamer als behauptet wird [39]. Beim Dampfen ist die Anflutung von Nikotin im Blut je nach Bedingungen eher etwas langsamer als beim Rauchen, allerdings weist eine 2019 publizierte Studie auf Nikotin-Anflutung im Gehirn mit einer Halbwertszeit zirka 30 Sekunden hin, was im Vergleich zu den bisher vorliegenden Studien zur Anflutung im Blut sehr schnell wäre [53].
Das Suchtpotential von reinem Nikotin, also in Abwesenheit von Tabakrauch, sorgt seit langem für Kontroversen unter Fachleuten. Christine Fowler und Mitarbeiter haben kürzlich in einem exzellenten Übersichtsartikel die divergierenden Befunde in der Fachliteratur beschrieben und die Konsequenzen für die Regulierung von E-Zigaretten und anderen neuen nikotinhaltigen Erzeugnissen diskutiert [54]. Versuche mit Labortieren zeigen weitgehend einhellig, dass zwar Nikotin in Tabakrauch die Tiere sehr schnell abhängig macht, reines Nikotin aber deutlich weniger wirksam ist. Diese Befunde legen nahe, dass Tabakrauch Substanzen enthält, die die suchterzeugende Wirkung von Nikotin verstärken [55-57]. Sowohl in der Tabakpflanze als auch im Tabakrauch wurden mehrere Substanzen mit derartiger Wirkung identifiziert, unter anderem Hemmstoffe des Enzyms Monoamino-Oxidase (MAO), das für den Abbau von Dopamin im Gehirn verantwortlich ist. Demnach würde Nikotin die Freisetzung von Dopamin bewirken, während die mit dem Rauch inhalierten Hemmstoffe der MAO den Abbau von Dopamin blockieren und damit dessen Wirkung synergistisch verstärken [58-62]. Die MAO-Aktivität ist im Gehirn und peripheren Geweben von Raucherinnen und Rauchern signifikant vermindert und erreicht erst Wochen oder Monate nach dem Rauchstopp wieder den Spiegel nichtrauchender Kontrollgruppen [63-65]. Die sehr langsame Erholung der MAO-Aktivität könnte zeitverzögerte Rückfälle nach Rauchstopp ebenso erklären wie die Unzufriedenheit von Raucherinnen und Rauchern einige Wochen nach dem Umstieg auf nikotinhaltige E-Zigaretten ohne die wirkungsverstärkenden Substanzen im Tabakrauch. Depressive Erkrankungen sind mit hohen Raucherquoten assoziiert, und umgekehrt geht Raucherentwöhnung häufig mit depressiven Phasen einher [66-69]. Synthetische MAO-Inhibitoren sind zur Pharmakotherapie von Depressionen zugelassen (zum Beispiel Aurorix®) und Antidepressiva wie Buprion (Zyban®) oder Vareniclin (Champix®) zur medikamentösen Unterstützung der Raucherentwöhnung [70]. Die MAO-Hypothese erscheint daher sehr attraktiv, zu deren Bestätigung sind aber weiterführende Untersuchungen erforderlich. Bisher vorliegende Studien zur Wirksamkeit von MAO-Hemmern bei der Raucherentwöhnung waren nur eingeschränkt erfolgreich [71,72]. Möglicherweise liefert zukünftige Forschung alternative Erklärungen für das hohe Abhängigkeitspotential von Tabakrauch im Vergleich zu reinem Nikotin – und damit neue pharmakotherapeutische Möglichkeiten zur Unterstützung der Raucherentwöhnung [73].
Expertinnen und Experten in der Tabakkontrolle wissen, dass die biologischen Effekte der Rauchinhaltsstoffe nur eine Komponente der Zigarettenabhängigkeit darstellen. Eine weitere wesentliche Komponente ist die Gewöhnung an ein Rauchritual, die Konditionierung des Rauchverhaltens, wie das in der Fachsprache genannt wird. Die Öffnung der Zigarettenpackung, die Haptik der Zigarette in der Hand, das Anzünden, die Handzu-Mund Bewegung, und die Ausatmung des Rauchs sind über viele Jahre konditionierte Verhaltensmuster, von denen man sich nur sehr schwer trennt. Eine rauchende Kollegin, die meiner Empfehlung zum Umstieg auf E-Zigaretten nicht folgen wollte, hat das damit begründet, dass ihr das Abaschen der Zigarette im Aschenbecher fehlen würde. Ein Wiener Trafikant erzählte mir bei einer Veranstaltung, manche seiner Kunden würden bei der Benutzung von E-Zigaretten mit Mundstücken aus Kunststoff oder Metall die physische Beschaffenheit der Zigarettenfilter vermissen und deshalb den Tabakerhitzer IQOS (siehe 5.2) bevorzugen, bei dem ein solcher Filter als Mundstück dient.
Verhaltensabhängigkeit manifestiert sich also in individuell unterschiedlicher Ausprägung. Dass Verhaltensabhängigkeit wesentlich zur psychischen Abhängigkeit vom Zigarettenrauchen beiträgt, steht aber für Fachleute außer Zweifel. Daher sind psychotherapeutische Maßnahmen, vor allem Verhaltenstherapien, zentraler Bestandteil der medizinischen Raucherentwöhnung. Obwohl die körperlichen Symptome des Nikotinentzugs sehr rasch abklingen und spätestens nach einer Woche gänzlich verschwunden sind, scheitern Entwöhnungsversuche oft nach Monaten oder gar Jahren. Daher liegt die Vermutung nahe, dass der Gewöhnung an das Rauchverhalten deutlich größere Bedeutung zukommt als den substanzspezifischen Effekten von Nikotin und anderen Inhaltsstoffen des Tabakrauchs.
Damit sind wir beim wesentlichen Vorteil von E-Zigaretten gegenüber anderen nikotinhaltigen Produkten angelangt. E-Zigaretten erlauben die Beibehaltung des Rauchverhaltens (sofern man auf das Abaschen und den Zigarettenfilter als Mundstück verzichten kann). Eine Änderung des Verhaltens, das zentrale Ziel medizinischer Raucherentwöhnung, wird damit nicht erreicht. E-Zigaretten sollten daher nicht als Nicorette®, Version 2.0. betrachtet werden, sondern als um Größenordnungen weniger schädliche Alternativen zu Tabakzigaretten. Die Aufrechterhaltung des Rauchverhaltens ist jedoch ein zentrales Argument der Gegner, die nur vollständigen Verzicht mit entsprechender Verhaltensänderung als erfolgreiche Raucherentwöhnung akzeptieren. Dass Umsteiger aufgehört haben zu rauchen, ist in deren Augen anscheinend bedeutungslos.
Karl Fagerström, den wir bereits als Erfinder des nach ihm benannten Tests kennengelernt haben, war in den 1970er Jahren maßgeblich an der Entwicklung nikotinhaltiger Arzneimittel zur Behandlung der Nikotinsucht beteiligt. Sein Test fand als „Fagerströmtest für Nikotinabhängigkeit“ Eingang in die Literatur und wurde in hunderten einschlägigen Studien angewendet. Später hat Fagerström allerdings erkannt, dass sein Konzept der Nikotinsucht unhaltbar ist. Konsequenterweise hat er im Jahr 2012 in einer Fachpublikation seinen Test in „Fagerströmtest für Zigarettenabhängigkeit“ umbenannt [74]. In seiner Arbeit diskutiert Fagerström nicht nur die hier erwähnten Argumente, sondern zahlreiche weitere Befunde, die die Existenz klinisch bedeutsamer Nikotinsucht in Frage stellen. Wer meine Argumentation aus verständlichen Gründen mit Skepsis betrachtet, sollte die Ausführungen von Professor Fagerström lesen, der seit Jahrzehnten den inneren Kreisen der Tabakkontrolle angehört und als lebende Legende auf dem Gebiet von Nikotin- und Tabakabhängigkeit bezeichnet werden kann. Im Unterschied zu vielen anderen Vertretern der Tabakkontrolle hat er – wie man das von einem seriösen Wissenschaftler erwarten würde – seine Lieblingshypothese aufgrund der Fakten ad acta gelegt. Zu ähnlichen Schlussfolgerungen wie Fagerström gelangten Hanan Frenk und Reuven Dar, die 2011 unter dem Titel If the Data Contradict the Theory, Throw Out the Data: Nicotine Addiction in the 2010 Report of the Surgeon General den Bericht über Nikotinsucht des Direktors des öffentlichen Gesundheitswesens der USA anhand der verfügbaren Fachliteratur heftig kritisierten [75]. In der Tabakkontrolle und im öffentlichen Gesundheitswesen ignoriert man die von Fagerström und anderen angeführten Fakten hartnäckig. In einem mit aller Vehemenz geführten Kampf gegen Tabak – der sich mittlerweile in einen Kampf gegen Nikotin verwandelt hat – beharrt man hartnäckig und faktenresistent auf dem angeblich mit Heroin vergleichbaren Suchtpotential von Nikotin.
Wie entwickelt sich die Abhängigkeit von Raucherinnen und Rauchern nach dem Umstieg auf E-Zigaretten? Aufgrund erheblicher individueller Unterschiede lässt sich diese Frage nicht allgemein gültig beantworten. Manche Umsteiger berichten von massiver Reduktion des „Suchtdrucks“ und problemloser Abstinenz für viele Stunden oder sogar Tage, die zuvor kaum erträglich war. Viele hören binnen einiger Monate auf zu dampfen und haben somit E-Zigaretten als Hilfsmittel für den Totalausstieg aus ihrem Inhalationsverhalten benutzt. Andere wiederum sind von ihren „Dampfen“ ebenso abhängig wie früher von Zigaretten und haben fast immer ein Gerät in Händen oder zumindest in Reichweite und beabsichtigen nicht, später einmal mit dem Dampfen aufzuhören. Die überwiegende Mehrheit ordnet sich wohl irgendwo in der Mitte zwischen diesen Extremen ein. Ähnlich heterogen wie die anekdotischen Erfahrungsberichte sind auch die Ergebnisse publizierter Studien, die allerdings mit einer Ausnahme auf ein deutlich niedrigeres Abhängigkeitspotential von E-Zigaretten hinweisen [76-79].
Ex-Raucherinnen und -Raucher, die auf das Dampfen umgestiegen sind, halten ihre Nikotinspiegel im Blut weitgehend aufrecht. Es besteht zwar die Tendenz zur Reduktion der Nikotinkonzentration der Liquids, was aber zumeist durch größere Mengen an täglich konsumiertem Liquid kompensiert wird [80]. Entgegen den soeben diskutierten Befunden ist diese offenbar unbewusste Einstellung eines langfristig konstanten Nikotin-Blutspiegels ein Hinweis auf Nikotinabhängigkeit von Umsteigern. Eine mögliche Erklärung wäre die Aufrechterhaltung konditionierter Zigarettenabhängigkeit durch Nikotin. Tatsächlich weisen Tierversuche daraufhin, dass Ratten, die experimentell von Tabakrauch abhängig gemacht wurden, danach signifikant stärkere Nikotinabhängigkeit und andere neuronale Nikotineffekte zeigen als Kontrolltiere [81,82]. Der konditionierende Effekt von Tabakrauch könnte auf Hemmung der Neubildung von Nervenzellen aus Stammzellen, der sogenannten Neurogenese, im Gehirnareal des Hippocampus beruhen [83]. Neurogenese und deren Hemmung bei depressiven Erkrankungen beziehungsweise Förderung durch Antidepressiva ist ein heißes und ausgesprochen kontroverses Thema aktueller Forschung [84,85]. Ein möglicher Zusammenhang von Neurogenese mit den antidepressiven Effekten von MAO-Hemmern im Tabakrauch und Zigarettenabhängigkeit ist nicht von der Hand zu weisen. Sollten diese Ergebnisse auf den Menschen übertragbar sein, würde man sich durch das Rauchen eine langfristige Nikotinabhängigkeit quasi anzüchten, während man als Nichtraucher bei Exposition mit Nikotin in Abwesenheit von Tabakrauch nicht abhängig wird. Leider lässt sich die Übertragbarkeit der Tierversuche auf den Menschen aus ethischen Gründen nur sehr eingeschränkt in klinischen Interventionsstudien verifizieren.
Neben allfälligen Effekten von Nikotin spielt bei der Abhängigkeit vom Dampfen mit hoher Wahrscheinlichkeit die bereits besprochene Gewöhnung an das Verhalten eine entscheidende Rolle. In einem Selbstversuch habe ich vor einiger Zeit herauszufinden versucht, ob ich vorwiegend vom Verhalten oder von Nikotin abhängig bin. Leider ist das nicht so einfach, wie es den Anschein haben mag. Beim Dampfen nikotinfreier Liquids fehlt mir – und viele andere berichten Ähnliches – das leichte Kratzen im Hals, das man auch beim Rauchen verspürt. Ohne dieses Kratzen hat man das unbefriedigende Gefühl Alpenluft zu inhalieren. Diese leichte Reizung der Atemwege, auch als throat hit bezeichnet, beruht auf Aktivierung von nikotinergen Acetylcholinrezeptoren auf sensorischen Zellen der oberen Atemwege [86] und trägt maßgeblich zur Befriedigung beim Rauchen bei [87,88]. Für meinen Selbstversuch habe ich mir daher ein besonders kratziges Liquid gemischt und einen ebenso kratzigen Verdampfer gewählt. Eine Woche lang verwendete ich dieses Setup ohne merkliche Entzugssymptomatik. Auch im Zuge einer Infektionserkrankung, bei der das Dampfen aufgrund von Reizung der Atemwege ausgesprochen schmerzhaft war, habe ich einige Tage ohne Probleme darauf verzichtet, allerdings regelmäßig ein Gerät in Reichweite gehabt, dieses in die Hand genommen und damit „gespielt“. Als Raucher hatte ich hingegen bei regelmäßig wiederkehrenden Infektionskrankheiten die Zähne zusammengebissen und trotz heftiger Halsschmerzen geraucht. Aufgrund dieser Erfahrungen gehe ich davon aus, dass ich viele Jahre nach dem Umstieg noch immer vom Verhalten, aber kaum oder gar nicht von Nikotin abhängig bin. Nachdem bekanntlich jeder Mensch anders ist, lässt sich diese Selbstbeobachtung allerdings nicht generalisieren.
Zum Abschluss dieses Kapitels möchte ich die regelmäßig wiederkehrenden und mantra-artig wiederholten Warnungen vor Nikotinsucht relativieren. Unabhängig davon, ob diese tatsächlich oder nur in den Köpfen von WHO, CDC und Tabakkontrolle existiert, ist der entscheidende Punkt nicht die mögliche Abhängigkeit an sich, sondern allfällige Schädigung der Gesundheit. Gesundheitsorganisationen führen einen jahrzehntelangen Krieg gegen das Rauchen, weil das ein potentiell tödliches Verhalten ist. Alternative Nikotinprodukte, allen voran E-Zigaretten, könnten dazu beitragen diesen Krieg endgültig zu gewinnen. Nur leider hat die Tabakkontrolle irgendwann den tatsächlichen Feind aus den Augen verloren und bekämpft nunmehr seinen harmlosen Gefährten. Da mir die Botschaft immens wichtig ist, wiederhole ich sie hier: Raucherinnen und Rauchern sterben nicht an ihrer Abhängigkeit, sondern an den Folgen der Inhalation von gesundheitsschädlichem Verbrennungsrauch.