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3.3 TÖDLICHE NIKOTINDOSIS

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Trotz der häufigen Warnungen vor Nikotinvergiftungen sind ernsthafte Vergiftungen selten. Auch Selbstmordversuche sind fast immer erfolglos. Das ist erstaunlich, da gemäß Lehrbüchern und Datenbanken bereits das Verschlucken von 60 mg Nikotin für einen erwachsenen Menschen tödlich sein soll. Diese Menge an Nikotin entspricht etwa einem Tropfen reines Nikotin oder dem Nikotingehalt des Tabaks von 5 Zigaretten. Demnach wäre Nikotin ähnlich giftig wie Kaliumcyanid («Zyankali»), dem Stereotyp eines Werkzeugs für Mord und Selbstmord. Das Verschlucken von 5 Zigaretten wäre für einen Erwachsenen tödlich, bei Kleinkindern könnte bereits eine Kippe ausreichen. Entsprechend häufig wird in den sozialen Medien vor den achtlos weggeworfenen Zigarettenresten auf Kinderspielplätzen gewarnt, obwohl kein einziger Fall einer ernsthaften Vergiftung dokumentiert ist. Es handelt sich hier ganz offensichtlich um eine moderne Sage, oder – im aktuellen Jargon – um „urban legends“ oder „fake-news“.

Die ausgesprochen seltenen fatalen Fälle von Nikotinvergiftungen und andere Ungereimtheiten rund um die berühmte Dosis von 60 mg veranlassten mich im Sommer 2013 zur Suche nach der Quelle für diese allgemein akzeptierte letale Nikotindosis. Dabei lief ich lange im Kreis: ein Lehrbuch zitierte dazu eine Datenbank, diese wiederum eine andere Datenbank, wo dann ein weiteres Lehrbuch als Beleg angeführt wurde, bis ich am Ende wieder beim ersten Buch angelangt war. Somit war ich gezwungen, meine Suche auf die bereits etwas verstaubte deutschsprachige Literatur der Zwischenkriegszeit zu erweitern. Nach langem Stöbern und mit Hilfe der Mitglieder eines Internetforums führte mich ein Artikel aus den 1930er Jahren zu dem 1906 veröffentlichten Lehrbuch der Intoxikationen des Universitätsprofessors für Toxikologie in Rostock, Rudolf Kobert [44]. Kobert schätzte die Dosis von 60 mg aufgrund von Selbstversuchen, die Karl Damian von Schroff, Leiter des Pharmakologischen Instituts der Universität Wien, 1856 in seinem Lehrbuch Pharmacologie beschrieben hatte [45]. Demnach hatten die Versuchspersonen bereits nach Aufnahme von 4 mg Nikotin, was der Menge in einem Nikotin-Kaugummi entspricht, schwerwiegende Symptome bis hin zu Krampfanfällen und Bewusstlosigkeit. Welcher Fehler den damaligen Experimentatoren unterlaufen ist, lässt sich heute nicht mehr eruieren, aber geringe Mengen an Nikotin verursachen definitiv nicht derart schwerwiegende Symptome. Die Kobert‘sche Schätzung der letalen Dosis beruhte also auf einem offensichtlich fehlerhaften Bericht, wurde aber über 100 Jahre lang von Lehrbuchautoren unreflektiert abgeschrieben und noch zu Beginn des 21. Jahrhunderts als allgemein gültig akzeptiert.

Somit galt es die tatsächliche letale Dosis abzuschätzen. Dazu lieferten in der Fachliteratur beschriebene letale und fast letale Vergiftungsfälle wertvolle Hinweise, in denen die aufgenommene Menge an Nikotin und dessen Konzentration im Blut dokumentiert waren. Mit diesen Informationen konnte ich den Grenzwert für die letale Dosis abschätzen, wobei ich den ursprünglich errechneten Wert von 2 Gramm vorsichtshalber auf 0,5 bis 1 Gramm reduziert hatte. Meine Schätzung wurde im Oktober 2013 online und im Jänner 2014 in Papierversion publiziert und ist mittlerweile allgemein akzeptiert [46]. Ausnahmen sind Gesundheitsorganisationen wie die US Centers for Disease Control (CDC), die einen langjährigen Kampf gegen Nikotin führen und alle Informationen unter den Teppich kehren, die diesen Kampf gefährden könnten. Auf der Webseite der CDC findet man daher noch immer die berühmten 60 mg mit einem Literaturzitat, das ins Nirwana führt [47].

Ich möchte aber betonen, dass man nikotinhaltige Lösungen dennoch mit Vorsicht handhaben sollte. Auch in deutlich niedrigerer Dosis kann Nikotin schweres Erbrechen und andere unerwünschte Wirkungen auslösen. Das betrifft vor allem Kinder, für die die gefährliche Dosis ihrem geringeren Körpergewicht entsprechend niedriger ist. In einem gewissen Alter tendieren Kleinkinder dazu alles zu schlucken was sie in die Finger bekommen. Es gab auch schon Verwechslungen aufgrund mangelhaft beschrifteter Gefäße. Wenn Papa konzentrierte Nikotinlösung in ein unbeschriftetes Arzneifläschchen abfüllt und Mama später der kleinen Tochter davon zehn Milliliter verabreicht, kann das ein fatales Ende nehmen. Deshalb ist unbedingt dafür Sorge zu tragen, Gefäße mit nikotinhaltigen Liquids sorgfältig zu beschriften und außerhalb der Reichweite kleiner Kinder aufzubewahren. Das gilt allerdings gleichermaßen für viele Dinge unseres Lebens, die für Kinder gefährlich sind, vom WC-Reiniger über Spirituosen bis hin zu Tabakzigaretten.

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