Читать книгу Moorkur - Bernd-Peter Liegener - Страница 10
Оглавление4. Kapitel
Der Oberarzt
Er hatte es ihnen sagen können. Doktor Göllner hatte sein Dienstzimmer im Erdgeschoss, in dem sich die medizinische Chefetage befand. Etwas abgelegen im linken Seitenflügel des Klinikgebäudes, wo nicht so viele Patienten vorbeikamen. Doktor Deinberg hatte angerufen und sie avisiert, so dass sie nun keine Zeit mehr hatten, zwischendurch nach dem Gerichtsmediziner zu sehen.
»Schade«, meinte sie. »Ich hätte gerne erst noch mit Kurt gesprochen.«
»Wegen des Todeszeitpunktes, oder weil du wieder wilde Theorien aufstellen willst?« Tatsächlich fand sie es hilfreich, alle möglichen Varianten des Tatgeschehens mit ihm zusammen durchzugehen, die zu seinen Funden und Befunden passten. Vor allem aber machte es Spaß. Dass eine Mordermittlung Spaß machen konnte, hatte sie auch erst lernen müssen, aber diesmal schien ihr alles etwas zäh und öde. Vielleicht musste der König erst richtig in Fahrt kommen.
»Schau mal, was ich mir besorgt habe!« Statt auf seine Frage zu antworten, zog sie ihr nagelneues Notizbuch aus der Innentasche ihrer Lederjacke. »Ich denke, ich bin dran mit der Befragung, und diesmal werde ich alles Wichtige mitschreiben, wie es sich für eine königstreue Kommissarin gehört.«
»Oh! Sind die großzügig gesäten Samenkörner meiner endlichen Weisheit also doch auf den fruchtbaren Boden einer echten Kriminalistin gefallen. Überreiche Freude bläht meine stolze Brust!«
»Was tut man nicht alles, um sich bei seinem Vorgesetzten einzuschmeicheln! Das Band lässt die echte Kriminalistin aber trotzdem laufen.«
»Ermittlungen am laufenden Band! Als Polizistin hat man es nicht leicht, oder?«
»Nein, aber das ist kein Grund, schwermütig zu werden. Lass uns also voll Tatendrang und Arbeitsfreude an diese Tür hier klopfen.« Voll Tatendrang und Arbeitsfreude klopfte sie an die Tür. Diese schien jedoch deutlich weniger motiviert als sie, denn trotz eines oberärztlich herausgerufenen »Ja bitte!« und eines kräftigen kommissariellen Klinkendruckes verharrte sie inaktiv in der geschlossenen Position. Erst ein paar schnelle Schritte und ein aufschließendes Klacken später tat sie widerwillig am Teppich schabend ihre Pflicht und öffnete sich.
»Entschuldigung«, sagte Doktor Göllner, während er auf die zwei Stühle vor seinem Schreibtisch wies. Sie sahen genauso aus wie die in Deinbergs Dienstzimmer, nur der mächtige Tisch und der bequeme Bürosessel dahinter wiesen auf die Wichtigkeit ihres Besitzers hin. Der wichtige Besitzer war ein großer, schlanker Mann, dessen frisch gebügelter und gestärkter Kittel seine sportliche Figur nicht verstecken konnte, und wohl auch nicht sollte. Er war tailliert geschnitten, ohne Kragen, so dass man die weinrote Seidenkrawatte sehen konnte, die goldenen Knöpfe waren nicht geschlossen, um die Eleganz der darunter getragenen Nadelstreifenweste zur Geltung zu bringen. Der goldbraune Ton seiner leicht gewellten, wohlfrisierten Haare passte so gut zu seinen honigfarbenen Augen, dass sie gedacht hätte, sie seien gefärbt, wenn sich nicht ein paar feine graue Strähnen an den Schläfen dazwischen geschlichen hätten. Eigentlich zu früh, dachte sie, denn das ebenmäßige, fein geschnittene und gründlich rasierte Gesicht war sicherlich nicht viel mehr als dreißig Jahre alt. »Verzeihen Sie«, entschuldigte er sich noch einmal. »Ich komme meistens durchs Sekretariat herein, und dann bleibt die Tür zum Flur natürlich geschlossen. Sie sind gewissermaßen gegen einen Patientenschutzwall gelaufen.« Er schaute erst den Kommissar an, dann sie. Ein wenig zu lange, wie sie fand. »Sie kommen wegen Frau Salach, ja?«
»Genau. Das ist Kriminalhauptkommissar König, und mein Name ist Benson. Sie haben schon gehört, dass sie heute Nacht verstorben ist?«
»Ja, ermordet, wenn ich es richtig verstanden habe. Deshalb sind Sie ja wohl hier. Frau Wohlert hat mich unterrichtet. Das ist unsere Verwaltungsleiterin. Sie können sich sicher vorstellen, dass mich das sehr betroffen gemacht hat.« Tatsächlich zeigte ein leichtes Zittern der Hände seine emotionale Erregung. »Frau Salach war Patientin auf Station vier, die ich leite. Sie war nicht eigentlich meine Patientin, Frau Janke war ihre Therapeutin, eine unserer Psychologinnen. Und Doktor Deinberg hat sie natürlich betreut, der Stationsarzt. Aber ich kannte sie von der Visite und ich finde, sie war wirklich eine außergewöhnliche Frau.« Der feuchte Schimmer in seinen Augen passte nicht zu seiner nüchternen Stimme. »Sehen Sie, es ist so: Als Arzt ist man es natürlich gewohnt, dass auch mal ein Patient stirbt. Aber hier in der Rehaklinik? Und sie war eigentlich gesund. Ein paar psychische Probleme hatte sie vielleicht, aber wer hat die nicht? Nicht etwa etwas, wobei man an Suizidalität denken würde. Und dann ein Mord! Das ist einfach furchtbar.« Er zog ein Papiertaschentuch aus einem auf dem Tisch bereitliegenden Päckchen und putzte sich die Nase. »Entschuldigung!«
»Nicht doch! Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen. Entschuldigen Sie lieber mir meine direkte Frage: Kannten Sie Frau Salach nur als Patientin, oder haben Sie sie auch als Frau kennengelernt?«
Der souveräne Oberarzt schloss kurz die Augen und legte seine Fingerspitzen aneinander. Die Zeigefinger berührten seine geschlossenen Lippen. Ein tiefer Atemzug. »Nun ja, wir haben uns auch ein- oder zweimal privat getroffen. Etwas zusammen getrunken, miteinander gesprochen, nichts weiter. Sie war eine ganz besondere Frau, aber eben auch eine Patientin. Da gibt es so etwas wie Abstinenz, wissen Sie?«
»Und diese Abstinenz haben Sie natürlich eingehalten, oder war Frau Salach eine Ausnahme?«
Doktor Göllner nahm sich wieder etwas Zeit für seine Antwort. »Sehen Sie, es ist so: Für den privaten Umgang mit Patienten gibt es für Ärzte gewisse Regeln. Diese Regeln sollen dazu dienen, die Patienten zu schützen und nicht, sie in ihrer Art zu leben zu begrenzen oder der Wahl ihrer Sozialkontakte einzuschränken. Oft ist es schwer, die Grenzen des Erlaubten festzulegen und oft ist das Erlaubte nicht das Richtige. Für einen Chirurgen, der einer ihm unbekannten Patienten einen eingewachsenen Zehennagel entfernt, gilt etwas anderes als für einen Psychotherapeuten, der beruflich in die Tiefen ihrer Seele eindringt. Der Chefarzt, der nur aufgrund einer Patientenliste weiß, dass eine Frau seine Patientin ist, ohne sie jemals gesehen zu haben, hat andere Freiheiten als ihr Stationsarzt, der in ständigem Kontakt mit ihr ist. Wir reden hier von Grauzonen, dehnbaren Begriffen und unscharfen Grenzlinien. Sie als Polizisten wollen natürlich eine klare Aussage.« Seine Mundwinkel bewegten sich nach oben, während seine Augen abenteuerlich blitzten. »Wären Sie so gut, Ihre letzte Frage noch einmal zu wiederholen, damit ich Ihnen präzise und korrekt antworten kann?«
Sie warf ihrem Chef einen irritierten Blick zu, den dieser mit einem unauffälligen Nicken quittierte. »Ich habe Sie gefragt, ob Sie Ihre Abstinenz eingehalten haben, oder für Frau Salach eine Ausnahme gemacht haben.«
»Nein, ich habe für Frau Salach keine Ausnahme gemacht. Das kann ich Ihnen gerne beeiden. Ich hoffe, wir können den unangenehmen Teil unseres Gesprächs damit beenden. Was möchten Sie noch über Frau Salach wissen?«
»Kann es sein, dass sie mit jemand anderem ein Verhältnis gehabt hat, der zum Klinikpersonal gehört?«
»Diese Frage kann ich klar beantworten: Ja, sie hatte eine kurze Beziehung mit einem unserer Physiotherapeuten und ja, ich kann Ihnen davon erzählen, da sie mir als Privatperson und nicht als Arzt davon berichtet hat.«
»Und wie ist der Name dieses Physiotherapeuten?«
»Es handelt sich um Herrn Hufner. Ein sportlicher und hübscher junger Mann. Ich konnte verstehen, dass sie ein wenig Vergnügen mit ihm haben wollte.«
»Hätten Sie das nicht melden müssen, oder wenigstens mit ihm darüber reden müssen? Haben Sie das vielleicht sogar getan?«
»Nein, das habe ich nicht. Als Oberarzt hatte ich ja gar keine Kenntnis davon. Und was hätte ich ihm auch schon sagen können? Hätte ich ihn tadeln sollen, weil er sich von solch einer tollen Frau verführen hat lassen? Sie hätten Frau Salach kennen müssen, um das zu verstehen. Wenn sie jemanden haben wollte, hat sie ihn auch bekommen. Wie hätte er ihr schon widerstehen können in seiner unerfahrenen Jugend? Er hatte überhaupt keine Chance.«
»Und Sie, hatten Sie eine Chance?«
»Es ehrt mich, dass Sie mich in meinem Alter mit Herrn Hufner vergleichen und es kränkt mich, dass Sie mir seine Unerfahrenheit zutrauen. Nein, bei mir hat Frau Salach etwas anderes gesucht. Es ging um einen Austausch auf anderer Ebene. Wir hatten intellektuell sehr tiefgehende Gespräche. Uns verband etwas anderes als körperliche Liebe. Vielleicht sind Sie ja auch zu jung, um das zu verstehen, aber es geht nicht immer nur um Sex.«
Sie hasste es, im Dienst als eine Frau mit all ihren individuellen tatsächlichen oder vermuteten Eigenschaften angesehen zu werden. Sie war eine Dienstperson und als solche geschlechts-, alters- und überhaupt neutral. »Sie wollen damit sagen, dass es sich bei dieser Beziehung zwischen Ihrer Patientin und ihrem Krankengymnasten um ein rein sexuelles Verhältnis gehandelt hat?«
»Ja, genau das will ich sagen. Es hatte keine Bedeutung.«
»Sind Sie sicher, dass Herr Hufner das genauso gesehen hat?«
»Ich denke schon. Aber ich kenne ja nur ihre Version der Geschichte.«
»War die Affäre beendet, als Sie mit ihr ausgegangen sind?«
»Ja, das war sie. Aber da kann ich mich natürlich auch nur auf das verlassen, was Frau Salach mir erzählt hat. `Je heißer die Flamme, desto schneller verbrennt der Docht´, hat sie gesagt.«
»Könnte es sein, dass eine Seite des Dochtes noch glühte? Dass Herr Hufner noch in Flammen stand?«
»Sie meinen, der jugendliche Liebhaber wird verlassen, fühlt sich herabgesetzt und mit jäher Vehemenz wandelt sich seine Liebe in Hass, der nur durch einen Mord zu stillen ist? Sie scheinen auf der dringlichen Suche nach einem Motiv zu sein. Gestatten Sie mir eine Frage: Wurde Frau Salach erwürgt?«
»Über die Todesursache wissen wir noch nichts Genaueres. Das Gespräch mit Ihnen war uns wichtiger als das mit dem Gerichtsmediziner. Aber ich fürchte, das Erwürgen aus Eifersucht ist zwar ein hübsches Klischee, eine andere Mordmethode schließt aber enttäuschte Liebe als Motiv nicht aus. Wie sieht es denn mit Ihrer platonischen Liebe und der intellektuellen Beziehung aus. Bestand sie noch?«
»Liebe und Beziehung sind sicher nicht die richtigen Worte für das, was uns verband. Aber: Ja, wir hätten uns heute Abend wieder getroffen.« Er zögerte einen Moment und lächelte sie dann mit jugendlicher Frechheit an. »Wenn Sie mich nicht wegen Bekanntschaft mit einem Mordopfer verhaften möchten, hätte ich also den Nachrückplatz für ein Rendezvous zu vergeben.«
Eitler Fatzke! Hielt er sich etwa für unwiderstehlich? Da war gerade die Frau ermordet worden, mit der er sich verabredet hatte, und schon suchte er nach Ersatz? Martina war froh, dass sie zu perplex war, um ihm eine passende Antwort zu geben. Diese wäre sicherlich nicht so beruflich distanziert ausgefallen, wie sie das gewollt hätte. Glücklicherweise hatte ihr Chef ein Gespür dafür, wann es an ihm war, das Gespräch zu übernehmen und fand auch die passende Frage:
»Könnte Ihre Frau nicht für Ihre Bekannte einspringen? Oder kann man sich mit ihr nicht auf der gleichen intellektuellen Ebene unterhalten?«
Göllner lehnte sich zurück, sein Blick wanderte zum Kommissar. »Meine Frau ist verreist. Ich glaube auch nicht, dass sie allzu viel Lust hätte, mit mir auszugehen. Sehen Sie, es ist so: Es ist schon etwas länger her, dass die Kerze abgebrannt ist.«
»Gut. Na ja, vielleicht auch nicht gut, aber das geht uns nun wirklich nichts an. Jetzt kommen noch die typischen Polizeifragen, auf die Sie sicher schon gewartet haben.« Der Arzt sah ihn erwartungsvoll an. »Wann haben Sie Frau Salach das letzte Mal gesehen?«
»Vorgestern. Wir waren im Epikur, falls Sie das kennen. Und wir haben uns übrigens nicht gestritten, wie Ihnen die Kellner dort bestätigen können. Nur, falls Sie bei mir nach einem Motiv suchen sollten. Und warum sollten Sie das nicht tun?«
»Ja, warum nicht? Und gestern Abend, was haben Sie da getan?«
»Gestern Abend? Um welche Zeit?« Schon wieder! Es war einfach ärgerlich, dass sie nichts über den Todeszeitpunkt wussten.
»Sagen wir einfach den ganzen Abend und die ganze Nacht.«
»Das nenne ich eine präzise Angabe. Dann will ich Ihnen mal eine präzise Antwort geben: Das weiß ich nicht mehr so genau. Nach Feierabend bin ich bei Reichelt einkaufen gegangen, habe mir zuhause etwas gekocht, noch mal telefoniert, etwas gelesen und etwas Musik gehört. Dafür kann ich Ihnen leider keine Zeugen benennen. Nachts habe ich geschlafen, was nach meiner Kenntnis weder verboten, noch ungewöhnlich ist, aber als Alibi vermutlich eher schwach klingt. Vielleicht habe ich ja so laut geschnarcht, dass mich zur Tatzeit ein Nachbar durch die Wände gehört hat. Meinen Sie nicht, es wäre doch besser, erst einmal den Todeszeitpunkt bestimmen zu lassen und mich dann noch einmal auszuquetschen, wenn überhaupt ein Verdacht gegen mich besteht?«
»Gut, genug gequetscht!« Karl klappte zeitgleich mit ihr sein Notizbuch zu. Präziser hätten sie den Moment des Zuklappens nicht abstimmen können, wenn sie einen einwöchigen Spezialkurs im Notizbuch-Synchronschließen belegt hätten. Die sich überlagernden Schallwellen erzeugten einen Knall, der die Endgültigkeit des Gesprächsendes körperlich spürbar machte. »Wenn wir noch Fragen haben, werden wir wieder auf Sie zukommen. Es wäre nett, wenn Sie Karmensbrück in den nächsten Tagen nicht verlassen würden.«
»Es tut mir leid, dass ich dein Rendezvous mit dem Oberarzt vereitelt habe«, entschuldigte sich Karl grinsend auf dem Weg zur Badeabteilung. »Ihr hättet bestimmt intellektuell hochstehende Gespräche geführt.«
»Eifersüchtig?«
»Aber natürlich! Während eines Falles gehört deine ganze Zeit deinem König. In solchen Dingen lassen wir absolutistischen Herrscher nicht mit uns reden. Schon gar nicht erlauben wir unseren Untertanen, sich mit potentiellen Verdächtigen in die Nähe der grauen Gummigrenzen der Abstinenz zu begeben.«
»Dann werde ich mich heute ausnahmsweise einmal abstinieren. Lass uns nicht zu viel Zeit für den Fall brauchen! Meine Seele lechzt nach eingebildeten Oberärzten.«