Читать книгу Systemische Beratung jenseits von Tools und Methoden - Bernd Schmid - Страница 10
Оглавление4. Mensch und Professionalität
4.1 Der Beruf als Unternehmen
Hatte man früher hierzulande einen Beruf erlernt, so konnte man diesen, wenn es gut ging, bis zum Ruhestand auf seine bewährte Art ausüben. Heute jedoch müssen sich die Menschen auf ein viel flexibleres Berufsleben einstellen als noch vor einigen Jahrzehnten.
Ständig gehen Berufe und Tätigkeitsbilder unter, auf der anderen Seite entstehen neue Berufe bzw. Funktionen in Organisationen, die mit klassischen Berufsbezeichnungen kaum noch erklärt werden können. Auch das Studium einer bestimmten Fachrichtung gibt heute meist wenig Auskunft darüber, als was man sich danach beruflich verstehen und womit man sein Geld verdienen kann. Hier geben meist erst tätigkeitsbezogene Erfahrungen und Fortbildungen ein deutlicheres Verständnis davon, welche Qualifikationen man mitbringt und wie die Position auf dem Arbeitsmarkt eingestuft werden.
Wer auf eine langfristige Zugehörigkeit zu einem Unternehmen oder einer sonstigen Organisation setzt, ist derzeit schlecht beraten. Und es ist fraglich, ob man mit der alleinigen Verantwortung des arbeitgebenden Unternehmens, für eine nachhaltige berufliche Entwicklung seiner Mitarbeiter gesorgt hat. Selbst wenn sich bei einzelnen Arbeitgebern entsprechende Haltungen zeigen, muss man zumindest bei kapitalmarktgesteuerten Unternehmen zweifeln, ob solche Haltungen zur Geltung kommen und ob die Partner solcher Verabredungen überhaupt noch im Amt sind, wenn es darauf ankommt.
Deshalb sollte man in jedem Fall selbst dafür sorgen, dass man eine berufliche Identität unabhängig von aktuellen Beschäftigungsverhältnissen entwickelt, durch angemessene Qualifikationen die eigene Arbeitsmarkttauglichkeit herstellt und durch Anpassungen auf dem Laufenden hält. Zudem nehmen die Zugehörigkeiten zu Organisationen immer öfter Eigenschaften freiberuflicher Beziehungsverhältnisse an, auch wenn man sich in »fester Stellung« wähnt.
Von daher wird die Beruf-Lebens-Gestaltung zunehmend zu einer unternehmerischen Aufgabe: Ich bin der Chef in meinem Unternehmen Beruf und als solcher auch verantwortlich für den florierenden Betrieb, für nachhaltige Entwicklung und meine Zufriedenheit sowie die »Bodenpflege« meines Berufs- und Tätigkeitsfeldes. Wie soll das gehen?
4.2 Neue Professionen
Professionen zeichnen sich dadurch aus, dass sie auf zentrale existenzielle Bezüge des Menschen ausgerichtet sind. Dies wird insbesondere deutlich an althergebrachten Professionen, denen die klassischen Universitätsfakultäten zugeordnet sind.
– Priester, Seelsorger: Beziehung zu Gott (Theologische Fakultät),
– Arzt: Beziehung zu sich selbst mit Leib und Seele (Medizinische Fakultät),
– Jurist: Beziehung zu anderen Menschen (Juristische Fakultät),
– Lehrer: Beziehung zur Kultur (Philosophische Fakultät).
Diese Professionen verfügen jeweils über ein Wissenssystem, das einen zentralen Aspekt des menschlichen Lebens in der Gesellschaft betrifft und eine hohe Allgemeingültigkeit beansprucht. (vgl. Schmidt-Lellek 2007)
Nun gibt es immer wieder Bemühungen, neue Professionsbildungen aktiv zu betreiben. Dabei geht es um gesellschaftliche und kulturelle Anliegen, aber auch um neue Berufs- und Erwerbsmöglichkeiten der Akteure. Einer der neuen existenziellen Bezüge, um die sich vielfältige Professionalisierungsbemühungen ranken, könnte so umschrieben werden: Mensch und Beruf, Mensch und Organisation sowie Mensch und Wirtschaft.
Derzeit scheint es für diese integrierenden Perspektiven noch keine eigenen akademischen Disziplinen zu geben. Deshalb müssen wir von einem interdisziplinären Ansatz ausgehen. Klassische Disziplineinteilungen eignen sich unseres Erachtens auch gar nicht, einen Vorrang auf diesem Gebiet zu erlangen.
Offen ist, wie viele und welche der vielfältigen neuen Tätigkeitsbilder und Bezeichnungen wie z. B. Coach, systemische Berater, Change Manager oder Teamentwickler in den Rang einer Profession erhoben werden und welche anderen eher als Unterformen oder spezielle Varianten betrachtet werden sollen. Hierum befinden sich Dutzende von Hochschulfakultäten sowie Berufs- und Fachverbände in einem intensiven Wettstreit.
Gleichzeitig befinden sich die klassischen Professionen selbst in einer Krise, da die bisher Sicherheit bietenden Professionsstrukturen sich verändern oder auflösen (vgl. Beck 1986).
Fraglich ist auch, inwieweit die genannten Professionsbezeichnungen wie z. B. Coach usw. sich überhaupt als Leitbegriffe eignen, um die genannten existenziellen Bezüge zu repräsentieren. Uns scheint es, dass der Bezug Mensch – Beruf besser durch eine Bezeichnung wie systemische Professionalität repräsentiert wäre.
»Die systemische Perspektive lädt dazu ein, sich in einem übergeordneten Verständnis von Professionalität zu verankern. Inhaltskonzepte, Methoden, Rollen und berufliche Szenarien können als beispielhafte Konkretisierungen von Prinzipien der Professionalität begriffen werden. Wirklichkeit und Beziehungen, professionelles Handeln und Sinnbezüge können so situativ, spezifisch und mit aktueller Lebendigkeit für jede Situation neu entworfen werden.« (Schmid 2003, 13)
Identitäten und Tätigkeitsbilder wie Coach, Teamentwickler, systemischer Berater, Change Manager könnten dann als zeit- und kontextgebundene Varianten systemischer Professionalität verstanden werden.
Der Nachteil einer solchen Bezeichnung wie systemische Professionalität ist, dass sie eher abstrakt wirkt. Wenn Menschen gegenwärtig eine professionelle Identität ausweisen und ihre Produkte anbieten wollen, fällt es nach wie vor leichter, wenn sie auf die damit verbundenen beruflichen Tätigkeiten – wie zum Beispiel Coaching – hinweisen. Auch Weiterbildungseinrichtungen müssen sich an diese Marktgewohnheit anschließen und dafür geeignete Zertifikate vergeben. Am Institut für systemische Beratung (ISB) in Wiesloch behelfen wir uns mit Titeln wie systemischer Berater in Organisation oder systemischer Coach in Organisationen. Titel dieser Art befriedigen das Bedürfnis, eine erkennbare Berufs- und Tätigkeitsbezeichnung vorweisen zu können. Sie verweisen gleichzeitig auf die übergeordnete Perspektive, für die der Begriff systemische Professionalität steht.
4.3 Professionalisieren
Im allgemeinen Verständnis meint Professionalität das Zuhause-Sein in einer Profession. Etwas professionell zu tun heißt von daher, es aus einem Berufsverständnis und einer beruflichen Identität heraus zu tun.
Das Wort »professionell« wird allerdings auch oft verwendet, wenn zum Ausdruck gebracht werden soll, dass jemand eine Sache kompetent macht. Streng genommen wäre hier das Wort »qualifiziert« besser. Ein Familienangehöriger kann als Pfleger qualifiziert tätig sein, ohne professionell zu sein. Er kann dann mit Zeit, Engagement, körperlicher Belastung etc. besser umgehen als jemand, der langjährig als Pfleger arbeitet und seinen Lebensunterhalt damit bestreiten muss.
Oft wird auch berufliche Qualifizierung und Professionalisierung synonym verwendet. Doch wäre auch hier zu differenzieren. Wenn im Vordergrund einer Fortbildung steht, weitere Fertigkeiten und Kenntnisse zu erwerben, um den Beruf kompetenter auszuüben, müsste man unserer Unterscheidung folgend von Qualifizierung sprechen und nicht von Professionalisierung.
Von Professionalisierung sprechen wir, wenn im Zentrum einer Weiterbildung das Verstehen eines Berufsbildes und der Erwerb einer beruflichen Identität stehen oder wenn jemand dabei sein bestehendes Berufsbild weiterentwickelt und seine professionelle Identität an die Entwicklungen der Umwelt und der eigenen Persönlichkeit anpasst. Hierbei werden zwar auch neue Kenntnisse und Kompetenzen erworben, doch steht dieser Neuerwerb nicht unbedingt im Vordergrund.
Je erfahrener und kompetenter Teilnehmer von Professionalisierungen sind, umso mehr gilt es, vorhandene Kompetenzen in verfügbaren Berufsbildern zu identifizieren, sie zu transformieren und in neue Berufsbilder zu integrieren. Dies ist z. B. der Fall, wenn eine erfahrene Führungskraft ein Coaching-Curriculum absolviert. Sie muss dabei verstehen lernen, was professionelle Identität als Coach mit den dazugehörigen Rollenverständnissen und Beziehungsvorstellungen bedeutet. Sie muss einige für den Beruf des Coaches zusätzlich nötigen Konzepte, Vorgehensweisen und Verhaltensweisen erlernen. Bedeutsamer ist aber oft, das Repertoire der längst in anderen Berufsverständnissen gewachsenen Kompetenzen unter der Flagge Coaching neu zu konfigurieren. Dazu gehören z. B. das Zur-Verfügung-Stellen von Erfahrungen oder die Konfrontation mit Anforderungen, ohne für deren Übernahme durch den Klienten oder die Erreichung bestimmter Ziele des Gegenübers Verantwortung zu übernehmen.
Natürlich sind die Übergänge zwischen Qualifizieren und Professionalisieren fließend. Es macht jedoch schon einen Unterschied, ob jemand für eine bestimmte Tätigkeit qualifiziert oder umfassender professionalisiert wurde. Im ersten Fall kommt jemand aus einer Weiterbildung heraus, der sich jetzt Coach nennt und damit bestimmte Rollenvorstellungen, einem bestimmten Repertoire an Konzepten und Methoden und mit festen Vorstellungen von Settings, in denen ein Coach arbeitet, verbindet. Im zweiten Fall kommt jemand heraus, der sich im Bereich Coaching professionalisiert hat und jetzt mit alten und neuen Kompetenzen zwar auch als Coach tätig sein kann, doch mit Coaching eine umfassende Perspektive und Kompetenz in Bezug auf Menschen im Beruf und Menschen in Organisationen verbindet (DBVC 2007, 2008; Schmid/Messmer 2005, Kap. 11). Letzterer kann dann z. B. auch als Coach-Pool-Manager tätig werden oder die Coaching-Perspektiven in allen Unternehmensprozessen vertreten, ohne auf das klassische Repertoire eines Beraters zugreifen zu müssen, um sich als Coach zu fühlen. Eine solche professionelle Identität ist universeller und nicht an bestimmte Konkretisierungsformen gebunden.
4.4 Systemische Professionalität
Von systemischer Professionalität sprechen wir, wenn bei einer Professionalisierung nicht nur ein konventionelles Berufsbild mit einem bestimmten Repertoire an Konzepten und Methoden erworben wird, sondern auch die damit verbundenen Prozesse bewusst durchlebt und parallel dazu von einem Meta-Standpunkt aus verstanden werden. Bei diesem umfassenden Lernvorgang werden dann vielfältige Kompetenzen erworben, mit denen man sich selbst und andere Menschen in Professionalisierungsprozessen unterstützen kann.
Es ist damit zu rechnen, dass immer mehr Menschen im Laufe ihres Berufslebens mehrere professionelle Neuorientierungen durchlaufen müssen. Daher wäre es wünschenswert, wenn die Lernprozesse bei ersten Professionalisierungen so gestaltet werden, dass sie möglichst umfassend und kreativ auf künftige übertragen werden könnten. Zusätzlich müssen immer mehr Professionelle andere Menschen bei professionellen Neuorientierungen unterstützen beziehungsweise in Organisationen entsprechende Prozesse mitgestalten. Daher ist der Erwerb von Professionalisierungskompetenzen über das Erlernen eines bestimmten Berufes hinaus ein wichtiger Zusatznutzen, manchmal sogar der entscheidende Lerngewinn.
Es genügt eben heutzutage nicht mehr, dass beispielsweise ein Bäcker es versteht, nur Brezeln zu backen. Er muss auch bedenken, wer seine Kunden sind und wie und womit neue dazu gewinnen kann und was ihre Bedürfnisse sind. Seine hervorragend schmeckenden, knusprigen Brötchen und Brezeln sowie seine leckeren Sahnetorten nützen ihm nichts, wenn sich sein Geschäft gegenüber einer großen Seniorenanlage befindet. Hier wären für Gebissträger und Diabetiker geeignete, weiche Backwaren wahrscheinlich eher ein Gewinn als wenn sich das Geschäft gegenüber einem großen Schulzentrum befände. Unser professioneller Bäcker würde wahrscheinlich ebenfalls den Markt beobachten, sich evtl. mit anderen zusammenschließen und mit seinen bissgerechten Backwaren außerdem Krankenhäuser beliefern. Dafür muss er Kontakte herstellen und überzeugen können. Er muss berechnen, ob sich der neue Aufwand personell und finanziell lohnt. Vielleicht braucht er eine gewisse Kreativität, um durch Originalität aufzufallen. Er muss spüren, was andere wünschen usw. Und vielleicht wird ihn die Bäckerinnung aufgrund seiner vielfältigen Erfahrungen und Fähigkeiten zum Aus- oder Fortbilder weniger erfolgreicher Bäcker machen.
Professionalisierung bedeutet aus systemischer Sicht also mehr als nur Kompetenzerwerb in der Ausübung eines bestimmten Berufs. Systemische Professionalisierung umfasst alle Lernprozesse, die Menschen in die Lage versetzen, ihre fachlichen und persönlichen Kompetenzen zu immer wieder neuen beruflichen Identitäten und neuen Varianten beruflicher Praxis zusammenzufügen und damit immer wieder neu im Unternehmen oder auf den Arbeitsmärkten erfolgreich zu sein.
Systemische Professionalisierung beinhaltet die Bereitschaft und Kompetenz, sich selbst und andere in die Lage zu versetzen, sich beruflich immer wieder neu zu finden. Hierzu gehören Klärungen vielfältiger Fragen, von denen wir wieder einige zum Reflektieren Ihres eigenen Unternehmens Beruf anbieten:
Vielleicht erfordern diese Fragen etwas Übersetzungsarbeit, weil beispielsweise Lehrer ihre Schüler nicht unbedingt als Kunden und ihren Unterricht nicht als Produkte verstehen. Wir haben bewusst eine unternehmerische Sprache gewählt, da sie unternehmerisches Denken und unternehmerische Verantwortung für unser Berufsleben nahe legt. Außerdem haben wir Fragen der eigenen Lebensphilosophie formuliert. Beide Bereiche gehören eben zusammen. Denn systemische Professionalität bedeutet auch, diese Zusammenhänge zu gestalten.
4.5 Beruf als Lebensform
Die Zeiten, in denen ein Beruf ein sowohl qualitativ als auch quantitativ gut abgegrenzter Lebensbereich bleiben konnte, sind für die meisten Professionellen vorbei. Man mag die erhöhten Anforderungen und die oft damit einhergehende Leistungsverdichtung beklagen, doch müssen Professionelle auf absehbare Zeit lernen, damit umzugehen, und ein möglichst abgeklärtes und verantwortetes Verhältnis dazu finden.
4.5.1 Gestiegene Anforderungen
In den meisten Märkten ist ein Angebotsüberschuss zu verzeichnen. Daher ist es kaum möglich, sich dort ohne ein enormes Engagement zu bewähren. Andererseits erwarten auch Unternehmen von ihren außertariflichen Mitarbeitern volles Engagement. Hier sind 60 bis 70 Stunden Arbeitszeit pro Woche keine Seltenheit. Hinzu kommen die gestiegenen Belastungen durch gesteigerte Dynamik, Tätigkeitsmenge und Tätigkeitsvielfalt sowie das vermehrte Mitwirken in Teams und Prozessen und den hier wechselnden Rollen als dies früher der Fall war. Oft müssen noch Anforderungen an Mobilität, internationale Reisetätigkeit, Sprachkompetenzen und interkulturelle Kooperation hinzugerechnet werden.
4.5.2 Einstieg ins Berufsleben
Gleichzeitig müssen sich junge Menschen schon sehr viel früher als noch vor wenigen Jahrzehnten mit ihrem künftigen professionellen Profil und ihrem Erfolg in der Wirtschaft und auf dem Arbeitsmarkt auseinandersetzen. Hierfür leisten Schule und Hochschule bislang wenig Hilfestellung. Dies hat neben den reformbedürftigen Strukturen und Kulturen wohl auch damit zu tun, dass die Handelnden in diesen Institutionen selbst oft nicht gelernt haben, sich diesen Thematiken zu stellen.
Aus vielen Gründen scheinen die Entscheidungsnöte bezüglich der richtigen Studien- und Berufswahl bei jungen Menschen sehr viel größer geworden zu sein. Das Damoklesschwert, zum Heer der Nutzlosen in unserer Gesellschaft zu gehören, bereitet untergründig Angst und Unruhe. Wer sich hier Zeit lassen will für eine Berufung, für ein interessantes Studium, für Lehrer, denen man sich anvertrauen will und für alle anderen Lebensinteressen, bekommt Druck. Andere absolvieren währenddessen zielstrebig praxis- und abschlussorientierte Studiengänge, machen Praktika, erwerben Zusatzqualifikationen und vertiefen Sprach- und Kulturkenntnisse bei Auslandsaufenthalten. Wo bleibt da der Raum, um mit guten Gefühlen tastende Schritte ins Leben zu machen und sich dabei womöglich noch ohne unmittelbare Verwertungsinteressen gemeinnützig oder kulturell zu engagieren?
4.5.3 Orientierungshilfen
Unternehmen legen zwar mittlerweile durchaus Wert auf ein Engagement außerhalb von Schule und Studium und auf eine gewisse Breite der Persönlich- keitsbildung, möchten aber gleichzeitig möglichst junge, vielfältig erfahrene, einsatzbereite und zielstrebige Mitarbeiter einstellen. Hier muss man auf neue Positionierungen der Zuständigen hoffen, dass die Last solcher Balanceakte nicht ganz auf die jungen Menschen verschoben wird.
Wünschenswert wäre auch, dass die dafür zuständigen Institutionen lernen, angemessene Bildung anzubieten, die sowohl die betroffenen Menschen, wie auch die organisationsintern Zuständigen für all diese Herausforderungen frühzeitig kompetent macht. Der Versuch, jungen Menschen in Konkurrenz zu ihren Mitlernenden immer größere Mengen an Wissen einzutrichtern, anstatt ihnen Kooperation, kollegiales Lernen und Urteilsfähigkeit für die wesentlichen Dinge sowie Lebenskunst beizubringen, führt zu Überlastungen und in Sackgassen. Fortschritte in Lernkultur und Didaktik könnten helfen, unnötige Belastungen junger Menschen wegen Orientierungslosigkeit und Beurteilungsnotstände zu minimieren. Viele Gleichgewichtsstörungen und Krisen der mittleren Lebensjahre haben mit Versäumnissen auf diesem Gebiet zu tun und die entsprechenden Lernbedürfnisse müssen vermutlich noch auf längere Zeit im Bereich der Erwachsenenbildung verspätet versorgt werden.
4.5.4 Jenseits der Lebensmitte
Auf der anderen Seite des Lebensbogens entstehen neue Herausforderungen, Voraussetzungen und Bedürfnisse bei den Menschen jenseits der Lebensmitte. Weil damit zu rechnen ist, dass Menschen auch in akademischen Berufen künftig sehr viel länger arbeiten müssen, wird auch für sie immer dringlicher, sich von Zeit zu Zeit weiterzuqualifizieren und neu zu professionalisieren. Viele werden dies in Eigenverantwortung tun wollen, um ihre Weiterbeschäftigung an hochwertigen Arbeitsplätzen zu sichern und um sich Befriedigung und Schaffensfreude bei der Arbeit zu erhalten.
Aber auch die Organisationen werden sich hier engagieren müssen, weil sie sich unzufriedene und leistungsunfähige Mitarbeiter nicht mehr leisten können, andere aber nicht zu bekommen sind. Aus den Unternehmen wird berichtet, dass es oft an der privaten Lebensführung liegt, wenn die Leistungs- und Lernfähigkeit älterer Mitarbeiter gering ist. Aus dem Lot geratene Familienverhältnisse, fehlendes Gesundheitsverhalten etc. würden mehr Verschleiß verursachen als stressige Arbeitsplätze. Man wird hier vertieft diskutieren müssen, was Ursache und was Folge ist.
Dabei ist zu beachten, dass die Kulturgewohnheiten, die später Schaden verursachen, in jungen Jahren entstehen und von Organisationen gefördert und gerne genutzt werden. Die Folgen von Ausbeutung und Selbstausbeutung treten erst viel später auf, wenn der alternde Organismus die Kosten dafür nicht mehr aufbringen, die Belastungen nicht mehr kompensieren kann. Doch dann sind Kursänderungen schwieriger als in jungen Jahren. Wichtig ist daher, dass gemeinsam neu für die Zusammenhänge Verantwortung übernommen wird.
Es kann auf Dauer nicht so bleiben, dass Menschen bis zu einem bestimmten Alter um jeden Preis auf Hochtouren im Hamsterrad laufen und dann von heute auf morgen in die Leere eines sogenannten Ruhestands entlassen werden.
4.5.5 Seniorexperten
Irgendwann werden voraussichtlich lebensphasenorientierte Personalarbeit, echte Altersteilzeitmodelle und weiteres professionelles wie gesellschaftliches Engagement bis ins hohe Alter nach dem Ausscheiden aus einer hauptberufli-chen Tätigkeit durchzusetzen sein. Allerdings hat die Erfahrung auch gezeigt, dass erhebliche Anstrengungen notwendig sind, das dafür notwendige Umdenken bei den Betroffenen auch in den Unternehmen zu bewirken.
So arbeiten wir am ISB zusammen mit interessierten Fachleuten und Unternehmen an Konzepten mit der Frage, wie reife Professionelle nach dem Ausscheiden aus ihren hauptberuflichen Funktionen neben dem neuen Privatleben in neuen altersgemäßen Rollen professionell aktiv bleiben können. Sie können zum Beispiel als Mentoren oder Senior-Experten jüngere Menschen unterstützen oder mit ihnen in Projekten zusammenarbeiten, für die Augenmaß und Geduld erforderlich sind. Dies kann in Kooperationsformen zwischen Unternehmen einer Region oder als Form der Mittelstandsförderung organisiert werden oder als Engagement für nichtkommerzielle Gesellschaftsbereiche im Auftrag von Unternehmen. Außer dem unmittelbaren Nutzen für alle Beteiligten kann darin ein wertvoller Beitrag zum gesellschaftsübergreifenden Generationendialog gesehen werden.
4.5.6 Beruf als Lebensinhalt
Hier soll nicht der Eindruck erweckt werden, dass man moralinsauer einem Moloch-Beruf andere Werte und Lebensqualitäten entgegenhalten muss. Für viele schaffensfreudige Menschen kann das Berufsleben phasenweise oder lebenslang zum Hauptlebensinhalt werden.
Da heute bereits mehr als fünfzig Prozent der Frauen mit Hochschulabschluss keine eigenen Kinder mehr haben, entfällt auch für viele Paare die Notwendigkeit, familiengeeignete Lebensformen zur Verfügung zu stellen. Mann/Frau kann (oder muss) sich ein Leben allein und zu zweit vorstellen, in dem Selbstverwirklichung im Beruf zum Hauptinhalt und zur Hauptquelle von Lebensbefriedigung gewählt werden. Gute Konzepte hierfür gehören zu den Anliegen einer guten Professions- und Organisationskultur.
4.6 Professionelle Kompetenzen
In vielen Professionen haben die für einen Markterfolg erforderlichen Kompetenzen erheblich zugenommen. Zum einen aufgrund der Zunahme an Komplexität der Aufgaben und Funktionen, zum anderen aufgrund der höheren Konkurrenz der Anwärter auf hochwertige Tätigkeiten. Immer mehr ausgebildete Menschen konkurrieren um immer anspruchsvollere Funktionen. Dadurch steigt für alle die Notwendigkeit, mit mehr Kompetenzen und mehr Erfahrungen aufzuwarten, ohne dass das unbedingt zu Beschäftigungssicherheit, zu besonders interessanten Tätigkeiten oder zu hoher Entlohnung führt. Durch das Erfüllen hoher Ansprüche wird das Anspruchsniveau höher getrieben (Schmid 1996a, 2007b). Wenn dabei ein vernünftiges Maß verloren geht, ist allerdings fraglich, ob dabei im Ganzen mehr Qualität und Leistung herauskommen kann. Für den Einzelnen ist es auf jeden Fall schwer, sich solchen Dynamiken zu entziehen. Denn irgendwie muss jeder überzeugen.
In den 1970er-Jahren konnten sich z. B. Beraterausbildungen neben der Selbsterfahrung auf das vertiefte Verständnis einiger Konzepte und die Beherrschung eines bestimmten Repertoires von Beratungstechniken konzentrieren und hatten dafür zumindest im therapeutischen Bereich reichlich Zeit. Dabei leistete man sich einerseits Ruhe zur Vertiefung und Reifung, andererseits allerdings auch manche Ineffektivität und Fehlgewichtung. Gleichzeitig meinte man, auf andere Feld- und Fachkompetenzen weitgehend verzichten zu können. Mängel und Selbstüberschätzung blieben oft unerkannt, weil sie von einseitigen Schulenvorstellungen gedeckt und von Kunden toleriert wurden.
Man war in einseitigen Welterklärungen und Eigengesetzlichkeiten verhaftet und erhob sie anderen gegenüber zum Maßstab. Man hatte vielleicht ein Ganzheitlichkeitsverständnis gemäß der eigenen Schule. Doch Ganzheitlichkeit im Sinne von Einbettung eigener Beiträge in die unternehmerische und gesellschaftliche Gesamtverantwortung und Integrationsfähigkeit in die dort täglichen Steuerungsbelange war meist weniger gefragt. Kritik auf Kundenseite wurde eher als Widerstand gegen Fortschrittlichkeit gedeutet, denn als berechtigte Ansprüche auf passgenaue Zulieferung.
Wie sehr sich seit dieser Zeit die Situation verändert hat, bringt die folgendeÜbung aus heutiger Zeit zum Ausdruck (vgl. Schmid et al. 2010, 26 ff.).
4.7 Beratermarktübung
Auch wenn an dieser Stelle nicht weiter auf diese Übung eingegangen wird, ist unmittelbar zu spüren, dass sie ein ganzes Spektrum von Arbeitsebenen und Lernfragestellungen integriert. Die vielfältigen Betrachtungsweisen und Arbeitsebenen erfordern Flexibilität und Disziplin, ein effektives Zusammenspiel in wechselnden professionellen Rollen, Praxisbezug und einen ökonomischen Umgang mit Ressourcen. Inhalte des Beratungsanliegens und die einzelnen Beratungsfiguren, die früher ausführlich und oft ausschließlich Thema waren, sind in einen komplexen, ganzheitlichen und praxisrelevanten Zusammenhang eingebettet.
Im Folgenden werden einige Aspekte heutiger Anforderungen an professionelle Kompetenz näher erläutert.
4.8 Kompetenzperspektiven
Manche werden diese Erfahrung noch aus der Schulzeit kennen: Man hat viel gelernt, weiß viel und fühlt sich fit. Man kommt dran, kann seine Leistung schlecht vermitteln und wird aus eigener Sicht zu Unrecht als nicht kompetent eingeschätzt. Doch was kompetent ist, entscheidet der Beobachter. Kompetenz ist also auch eine Frage der Perspektive. Über Kompetenz, die zu Markte getragen werden muss, entscheiden die Marktteilnehmer. Wo dies der Fall ist, geht die Bedeutung von rein fachlichen Kompetenzbeurteilern zurück bzw. es behalten nur diejenigen Autorität, die sich an die relevanten Märkte ankoppeln können. Das hat sein Gutes, weil sich dann die Fachorganisationen ihrer gesellschaftlichen Relevanz versichern müssen. Auf der anderen Seite müssen substanzielle fachliche Entwicklungen vor unsinnigen Auswüchsen der Märkte geschützt werden. Davon später mehr.
Am auffälligsten für den einzelnen Anbieter ist, dass professionelle Kompetenz weniger an optimierten Teilkompetenzen gemessen wird, sondern daran, ob verschiedene Komponenten immer wieder neu situationsspezifisch zu einer Gesamtkompetenz zusammengefügt werden können. Die jeweilige Orchestrierung der eigenen Kompetenzen muss zudem ökonomisch und persönlich überzeugend sein.
Niemand kann heute mehr erwarten, dass er das gesamte Programm seiner Kompetenzen und Produkte vorstellen kann, um zu überzeugen. Wenige Kostproben müssen überzeugen. Sie müssen suggerieren, dass Professionelle in der Lage sind, einen originellen und in vielen Dimensionen passenden Beitrag zu leisten. Gelingt dies, sind finanzielle Fragen oft eher zweitrangig.
Jemand, der zwar in Teilaspekten als kompetent eingeschätzt wird, aber erst durch Führung von außen zu einem integrierten Beitrag bewegt werden muss, wird leicht als Belastung für ohnehin belastete Auftraggeber angesehen. Erweckt er jedoch den Eindruck, schnell, selbst organisiert und kooperativ nützlich werden zu können, dann verspricht sich der Auftraggeber Leistung gepaart mit Entlastung.
Auch diese Anforderungen bringen Gutes und Schlechtes mit sich. Einerseits können durch solche »Präsentations-Quickies« Blender eingeladen werden, deren beste Leistung eben solche Präsentationen sind, ohne dass dann wirklich Qualität nachfolgt. Andererseits ist jeder Bewerber gefordert, auf den Punkt zu kommen und Wesentliches zu vermitteln.
Eine Art »verschärftes Eisbergprinzip« verlangt, eine Kostprobe für Kompetenz an der Oberfläche geben zu können, die von den richtigen Qualitäten dahinter überzeugt. Das wechselseitige Ansprechen von Intuitionen über die dahinter stehenden Wirklichkeitsvorstellungen und Kompetenzen entscheidet immer häufiger darüber, ob man überhaupt weitere Chancen bekommt.
4.8.1 Fachkompetenz
Heute ist man sich einig, dass Fachkompetenzen allein nur in wenigen Funktionen ausreichen. Überall entscheidet das Aufbereiten, das Auftreten, das Zusammenspiel mit anderen mit darüber, ob Fachkenntnisse zur Geltung kommen oder nicht. Soziale Faktoren – die sogenannten Soft Skills – sind also wichtig.
Längere Zeit versuchte man, solche Kompetenzen unter den Etiketten Selbstmanagement, Persönlichkeitsentwicklung, Rhetorik und Kommunikation als separate Kompetenz hinzuzunehmen. Kommunikationsfachleute, Psychologen, auch Systemiker gingen davon aus, dass sie so universales Wissen und entsprechende Dienste anzubieten hätten. Sie postulierten, dass diese auch dann nützlich seien, selbst wenn sie sich kein kompetentes Bild von den fachlichen Aspekten der beruflichen Arbeit des Gegenübers machen konnten. Die Verantwortung, das Gelernte in das konkrete Berufsleben zu übertragen, wurde den Kunden und Seminarteilnehmern allein überlassen. Dies führte zu Stimmigkeits- und Transferproblemen. Um Stimmigkeit einer Situation herzustellen, muss sie eben auch unter fachlichen Gesichtspunkten kompetent gestaltet sein. Auch wenn die separat trainierten Soft Skills besser als zuvor versorgt sind, gelingt es ohne Fachkenntnisse nicht leicht, ein überzeugendes Kraftfeld aufzubauen und andere für Bestätigung und komplementäres Mitwirken zu gewinnen. Dann sind Transfer und eigenes kreatives Weiterlernen der Klienten unter Live-Bedingungen schwer – die Sonderveranstaltungs- oder Seminarwirkung verpufft.
Als Konsequenz wird heute die Bedeutung der Fachkompetenz wieder betont. Doch wer braucht wann welche Fachkenntnisse? Welche Lernformen kann man wählen, um die Fachkenntnisse situativ angemessen einzubeziehen, ohne die ganze Angelegenheit zu kompliziert zu machen? Hierauf gibt es keine einfachen Antworten. Doch ist schon viel gewonnen, wenn man sich der Verantwortung stellt, bei Lernprozessen im Softfaktor-Bereich für angemessene Berücksichtigung fachlicher Gesichtpunkte zu sorgen.
Hierzu gehört, dass Lehrende, Berater oder Führungskräfte z. B. genügend juristische oder betriebswirtschaftliche Grundkenntnisse besitzen, um zu merken, wenn es beim Gegenüber an fachlichen Kompetenzen fehlt. Nicht, dass diese dann geboten werden müssen, aber der Umgang mit dem erkennbaren Bedarf wird in das Lerndesign integriert.
Metaphorisch ausgedrückt gilt: Wie beim Musizieren machen zwar Spieltechnik und richtige Noten allein keine Musik. Doch lässt sich auch ein inspirierendes musikalisches Kraftfeld nicht aufbauen, wenn fachliches Know-how fehlt oder nicht aktiviert und integriert wird.
4.8.2 Feldkompetenz
Was zu Fachkompetenz gesagt wurde, gilt auch für Feldkompetenz, zumal sich beides überlappen kann. Wenn jemand Probleme mit seiner Professionalität als Marketingfachmann hat, dann macht es einen Unterschied, ob er für Ver-marktung von Software übers Internet oder für Vermarktung von persönlichen Beratungsdienstleistungen zuständig ist. Obwohl viele fachliche Prinzipien dieselben sind, sind es doch verschiedene Welten. Viele Fachkompetenzen sind so feldspezifisch, dass sie als Feldkompetenzen gelten können.
Dies zeigt jedenfalls, dass Feldkenntnisse wie die der Eigengesetzlichkeit von Branchen, Größe, Struktur und Verfasstheit von Unternehmen bei der Bestimmung und Entwicklung von Kompetenz wichtig sind. Wenn ein kompetenter Vertriebsmanager aus dem Personenluftverkehr zum Schienen- nahverkehr der Bahn überwechselt, dann ist fraglich, ob die Übertragung der Buchungssysteme von einer Welt in die andere als kompetent gelten kann. Dementsprechend weisen sich Professionelle eben auch durch Felderfahrung aus bzw. prüfen, welche sie übertragen können oder welche sie neu erwerben müssen.
Manchmal geht es auch darum, in welche Felder man besser passt, um die vorhandenen Kompetenzen stimmiger nutzen zu können. Dies kann Ver- änderung hinsichtlich der Branche, der Unternehmensgröße, der Kollegen oder Kunden oder auch der Arbeitsformen und Beschäftigungsverhältnisse betreffen. Hier kann eine Passungsberatung durchaus mal die Erweiterung von Rollen- und Kontextkompetenz in Qualifizierungsmaßnahmen ersetzen.
4.8.3 Marktkompetenz
Heutzutage ist in immer mehr Funktionen Marktkompetenz erforderlich. Zwar gilt erfreulicherweise auch noch heute das Gesetz, wer gut arbeitet, wird beachtet und bemerkt. Es spricht sich herum und daher fragt der Markt wie von selbst verstärkt nach. Wer würde nicht gerne zu diesen Glücklichen zählen? Doch hat sich auch schon mancher, der sich auf gute Arbeit verlassen hat und sich mit wenigen, scheinbar sicheren Kunden oder Partnern zufrieden gab, plötzlich in der Abseitsfalle wiedergefunden, weil sich aus irgendeinem Grunde unerwartet der Wind gedreht hat. Berater für Berufsmusiker berichten zum Beispiel, dass diese geradezu empört sind, wenn sie ihr Talent und ihre Mitwirkung zu Markte tragen sollen. Lieber üben sie noch viele weitere Stunden, auch wenn da nicht der Mangel liegt.
Immer mehr Märkte mutieren zu Nachfrage-Märkten. Immer mehr Anbieter versuchen, sich im Markt auszudehnen oder neu hereinzudrängen.
Dies gilt nicht nur für Unternehmen, sondern auch für viele Freiberufler. Sie müssen ihre Kompetenzen zu marktgängigen Produkten entwickeln, sich mit Markenbildung, Imagepflege, Preispolitik und Akquisition beschäftigen. Das erfordert eigene unternehmerische Kompetenzen, die mit den professionellen Kernkompetenzen nicht unbedingt viel zu tun haben. Es braucht viel, um erfolgreich zu sein, und es kostet Kraft und andere Ressourcen. Schon deshalb kann es sich rächen, wenn man diesem Teil professioneller Kompetenz wenig Beachtung schenken will.
Auch Unternehmensinterne können nicht unbedingt aufatmen, weil sie glauben, sich diesen Mechanismen nicht stellen zu müssen. Zum einen werden die Unternehmen zunehmend als Märkte begriffen, auf denen interne Kunden zu finden und zu bedienen sind. Durchlässiger werdende Unter-nehmensgrenzen stellen interne Anbieter immer häufiger in Konkurrenz zu externen. Immer öfter wird von internen Abteilungen verlangt, dass sie nach professionellen und wirtschaftlichen Gesichtspunkten mit Externen Schritt halten. Zum anderen schaffen Erwartungen, dass eigene Produkte und Dienstleistungen auch draußen auf dem Markt abgesetzt werden, andere Horizonte. Von internen Bildungsabteilungen wird z. B. erwartet, dass sie ihre Leistungen nach außen vermarkten oder sie tun dies auch aus eigenen Ambitionen. Denn hier mitzuspielen bringt Status und Privilegien und verändert die Bewährungskriterien der Internen. Die Markttüchtigeren steigen auf oder haben die Möglichkeit, immer mehr freiberuflich zu tun. Je nach Bereich muss auch mit Outsourcing gerechnet werden, von direkten Verdrängungswettbewerben bei Abbau und Fusionen ganz zu schweigen. Im Guten wie im Schlechten haben solche Entwicklungen nicht nur Wirtschaftsunternehmen, sondern auch öffentliche Einrichtungen wie z. B. Hochschulen erreicht, in denen man Drittmittel einwerben oder auf bisher privaten Bildungsmärkten Umsatz machen soll.
Fazit: Marktwirtschaftlichen Prinzipien und Marktkompetenzen müssen sich fast alle stellen.
4.8.4 Netzwerkkompetenz
Erfolg hängt von persönlicher Leistungsfähigkeit und Vernetztheit ab. Dieses Prinzip ist gewiss nicht neu, hat aber neue Namen und neue Charakteristika.
Netzwerk steht als Begriff dafür, dass »die wichtigen anderen« nicht unbedingt im eigenen Fach, in der eigenen Abteilung oder in der Hierarchie des eigenen Unternehmens zu finden sind. Der Begriff »Value Network« bedeutet z. B., dass alle Instanzen einzubeziehen sind, die irgendwie für den Erfolg und Wertschöpfung durch ein Vorhaben wichtig sind. Dazu können andere Unternehmen, Kunden, komplementäre Marktpartner, aber auch öffentliche Einrichtungen gehören.
Die offenen Horizonte bringen die Chance und die Notwendigkeit, Terrains auszumachen und abzustecken, in denen man sich bewegen will. Andernfalls droht der Energiekollaps wegen inflationärer Vernetzung. Man muss ein Annäherungsverhalten an ungewohnte Partner lernen und herausfinden, welche man wie an sich binden kann und sollte und bei welchen das mehr Kraft kostet als es Nutzen bringt. Hierbei geht es um vielschichtige Austauschverhältnisse, die weit über direkt verrechenbare Leistungen hinausgehen. Man denke nur an den Nutzen von Co-Branding oder Verlinkung, neuere Formen von längst bekannten Gepflogenheiten wie gegenseitiges Zitieren in Medien oder Präsentieren auf Kongressen. Aber auch gegenseitige Inspiration, das Bilden von Zeitgeistgemeinschaften und persönlichen Sympathiegemeinschaften sind wichtige Dimensionen solcher Netzwerke. Aus Ökonomiegründen können diese Dimensionen nicht getrennt voneinander versorgt werden, sondern müssen zu einem oft schwer bestimmbaren Konglomerat verbunden werden. Gute Netzwerke bieten eine Netzwerkkultur, in der viele wirtschaftliche, gesellschaftliche und menschliche Bedürfnisse versorgt werden. Es ist eine der anspruchsvollen Gestaltungsaufgaben, Individualismus und Pluralismus mit Deutlichkeit in der Ausrichtung und Erkennbarkeit von außen zu kombinieren.
Netzwerke auszumachen, sich anzuschließen, lebendigen Austausch zu pflegen, der gleichzeitig der eigenen Sache zuträglich ist, sich zu positionieren, um mit wenig Aufwand an die attraktiveren Möglichkeiten zu gelangen, dabei aber solidarisch und zuverlässig zu handeln, gehören zu wichtigen Tugenden von erfolgreichen Netzwerkern.
Es ist leicht zu bemerken, dass viele Kompetenzen hierfür mit anderen hier schon besprochenen Kompetenzen identisch oder verwandt sind. Es geht ja auch nicht darum, für jedes Feld separate Kompetenzen zu erfinden, sondern unterschiedliche Perspektiven und Konfigurationen für umfassende professionelle Kompetenz zu beschreiben.
4.8.5 Sichtbarkeit und Originalität
Aufmerksamkeit ist ein knappes Gut geworden. Täglich flattern Hochglanzprospekte und Infobroschüren auf den Tisch. Die Anzahl der Websites, über die Ideen propagiert und Dienstleistungen angeboten werden, ist unübersehbar. Internetforen und Newsletter laden zum Dabeisein ein. So angenehm es sein kann, als eingeführter Anbieter mit bestimmten Produkten in bestimmten Märkten stabil nachgefragt zu werden, so schwierig kann es sein, sich neu zu etablieren. Dies gilt in besonderem Maße für Neueintritte in Märkte. Sei es, dass man in vertraute Märkte mit neuen Produkten oder mit vertrauten Produkten in neue Märkte Eingang finden möchte. Am schwierigsten ist es, wenn Produkte und Märkte neu sind.
Insbesondere als neuer Anbieter und potenzieller Kooperationspartner muss man sich mit Kompetenzen und Produkten sichtbar machen, um von anderen Marktteilnehmern beachtet zu werden. Qualität allein reicht dafür nicht, es sei denn, es gelingt, irgendwie als »Geheimtipp« gehandelt zu werden. Doch müssen die meisten Newcomer normalerweise die Erfahrung machen, dass es mit einem weiteren Prospekt, einer weiteren Website oder Aussendung nicht getan ist. Was mit viel Sorgfalt und Hingabe produziert wird, bleibt ohne Resonanz.
Versuche, sich dem Markt genehm zu machen, indem großzügig Kompetenzen behauptet, Leistungen und Wirkungen versprochen sowie alle gängigen attraktiven Schlüsselworte benutzt werden, finden meist auch nicht mehr Beachtung. Was macht es dann aus, dass man Resonanz findet? In welchen Zeiträumen und bei wem, mit welcher Nachhaltigkeit kann man Reaktionen erwarten? Auf diese Fragen gibt es keine allgemeingültigen Antworten, weil jeder Markt, jedes Milieu hier seine eigenen Gesetze hat. Marktkompetenz – und etwas allgemeiner – Feldkompetenz ist hier gefragt.
Dennoch kann man Prinzipien nennen, die hilfreich sind, Aufmerksamkeit zu erlangen. Es muss gelingen, aus der Masse herauszuragen, am besten durch glaubwürdige Originalität. Irgendetwas muss durch die vorgezeigten Oberflä-chen hindurch rüberkommen, was bei anderen verfängt und in Erinnerung bleibt. Man muss anderen einfallen, wenn im entscheidenden Moment über mögliche Partner oder Mitwirkende gesprochen wird.
Das hierfür Entscheidende liegt auf einer emotionalen Ebene. Entweder gelingt es, Suchbewegungen und Sehnsüchte anzusprechen oder man konnte durch die Oberfläche hindurch Intuitionen über glaubwürdige besondere Profile und Kompetenzen wecken. Dazu kommt, dass die Empfehlenden die Erwartung haben, dass auch sie ihren Nutzen von der Empfehlung haben werden. Es reicht auch nicht unbedingt, einen Empfehlenden persönlich zu beeindrucken. Oft muss man diese Darstellungen zur Verfügung stellen, mit denen er andere überzeugen kann. So kann der überzeugte Personalentwickler im eigenen Unternehmen auf frostige Reaktionen stoßen, wenn er zu viel auf seine persönliche Begeisterung baut und nicht genügend auf angemessene Präsentation bei Entscheidern und Betroffenen achtet. Ein Problem ist, dass man selten differenziertes und aufrichtiges Feedback in diesen Dimensionen bekommt. Umso wichtiger ist eine gute Weiterbildung und sind professionelle Gemeinschaften, die eine achtungsvolle und offene Dialogkultur pflegen. Sie schließen solche Spiegelungen ein. Qualität ist dabei nicht ohne Weiteres dadurch herstellbar, dass solche Punkte auf die Agenda aufgenommen werden, sondern sie hängt vom Gesamtniveau der gepflegten Professions- und Lernkultur ab.
4.8.6 Sensibilität und Robustheit
Zur professionellen Kompetenz gehört zwischenmenschliche Sensibilität. Dies meint Aufmerksamkeit für eine Reihe von Dimensionen des Gegenübers. Der andere will sich als Persönlichkeit gewürdigt sehen und kann sehr verärgert werden, wenn er sich nur als Funktionsträger und Mittel zum Zweck gesehen fühlt. Gleichzeitig darf die Zuwendung nicht als Bestechungsversuch erlebt werden, um zu gewinnen, ohne dass fachliche Ansprüche oder die Würde des Amts beachtet werden. Menschen sind immer hungrig danach, als jemand gesehen zu werden, der sie selbst zu sein versuchen. Partner, die dies spiegeln und Zuversicht wecken, dass es mit ihnen zusammen in diese Richtung gehen kann, sind interessant. Schönrederei, Selbstgefälligkeit und Schmeichelei oder illusionäre Vorstellungen und unsolide Versprechungen helfen bei seriösen Partnern nicht, denn irgendeine Instanz in ihnen weiß, was stimmig ist und was nicht.
Es ist also wichtig, auf die Welt der Partner und Kunden feinsinnig und entgegenkommend zu reagieren. Damit man dabei aber nicht wie ein Grashalm im Wind und ohne Kontur erlebt wird, braucht man ein solides Selbstverständnis und eine gewisse Robustheit. Dies gilt sowohl für das Aushalten belastender Situationen nach innen wie auch das kraftvolle Auftreten nach außen. Es kommt schon vor, dass Auftraggeber oder Partner sich aus Unsicherheit oder Machtgewohnheit zu einem Stärkegebaren (Schmid 2004a, Kap. 1) aufschwingen. Dies kann leicht Angst und inneren Bewährungsdruck auslösen und an Sensibilität und Kraft zehren. Deshalb ist es auch wichtig, dass man lernt, für sich zu sorgen, d. h. sich seine Ängste einzugestehen und sie konstruktiv zu kontrollieren. Nach außen ist wichtig, einerseits durch kraftvolle Antworten Eindruck zu machen, andererseits nach Resonanz darauf dann differenziertere Töne anzuschlagen und sensiblere Seiten im Gegenüber anzusprechen. Beides allein hätte weniger Aussichten auf Erfolg.
Man braucht für die unternehmerischen Aspekte der eigenen Tätigkeit nicht nur eine relativ stabile Gesundheit, die man zu pflegen lernen muss, sondern eine gewisse Robustheit. d. h. die Fähigkeit, Enttäuschungen und Niederlagen zu ertragen, ohne überzureagieren. Auf der anderen Seite sollte man sich nicht von Begeisterungen wegschwemmen lassen, sondern mit den Füßen auf dem Boden bleiben und bei der Verwirklichung von Visionen durchhalten. Das heißt, Professionelle sollten sachlich stabil und in Beziehungen zuverlässig und fair bleiben können, auch wenn Belastungen zu ertragen sind oder man enttäuscht worden ist.
Abb. 1: Nachtkerzen
4.8.7 Weltläufigkeit und Bodenständigkeit
Eine weitere Dimension soll noch als Dualität beschrieben werden: Weltläufigkeit und Bodenständigkeit.
Da unsere Welt immer flexibler und internationaler wird, werden heute von Professionellen Fremdsprachen, Reisekompetenz, häufige Umgebungswechsel, eine Toleranz für Verzicht auf vertraute Umgebungen und ein bewegliches Auftreten in multikulturellen Umgebungen erwartet. Dementsprechend werden solche Kompetenzen erworben und dem Selbstbild hinzugefügt. Wie viel davon stimmig ist und welche Belastungen dadurch empfunden werden, kommt vielleicht zu selten zum Vorschein. Vielleicht ist das auch ein würdigt Lernprozess, der erst über Generationen tiefer greifend gelingt.
Wenn es um Vertrauen geht, spielen Informationen oder Intuitionen über den anderen eine Rolle, die eher in klassischeren, familiäreren, anfassbaren Dimensionen beschrieben sind. Sie sind hier bei aller Modernität unter dem Begriff »Bodenständigkeit« zusammengefasst. Viele wollen ein Gefühl dafür haben, wie es wäre, den anderen als Hausgenossen, als Sportkamerad, als Partner in einer gemeinsamen Unternehmung oder als Freund zu haben. Sie suchen einzuschätzen, wie er sich zu seiner Herkunft, zu seinen bisherigen Weggefährten, zu seinen Nachfolgern oder zu seinem gegenwärtigen Lebens-milieu stellt, ganz nach dem Motto: »Sage mir, wo du dich beheimatest und für wen du wichtig sein willst und ich sage dir, wer du bist (für mich sein kannst)!« All das ist vielleicht ein indirekter Versuch, einzuschätzen, was man für sich selbst und die gemeinsame Sache vom anderen zu erwarten hat.
Doch auch für einen selbst kann die Rückbindung an die eigene Herkunft, die Verbundenheit mit dem Lebensumfeld, die Würdigung von allem, was dazu beigetragen hat, was man geworden ist, eine wesentliche Grundlage für professionelle Identität sein. Es ist, als würde die eigene Persönlichkeit von einer Hülle umgeben, die sie stabilisiert und aus dem Hintergrund nährt. Wer würdigt, woher er kommt und wohin er gehört, hat die substanzielle Freiheit, sich in die Zukunft zu bewegen. In vielen Fällen lohnt es, sich mit seinen Wurzeln zu beschäftigen, gerade wenn man sich unterwegs verliert oder ein besonders gutes Fundament für hoch und weit strebende Äste braucht.
4.8.8 Kulturkompetenz und die Metaperspektive
Man kann viele der oben dargestellten Kompetenzen unter dem Begriff »Kulturkompetenz« zusammenfassen. Darunter verstehen wir – pauschal gesprochen –, sich in einer hochwertigen Professions- und Organisationskultur bewegen und sich wohlfühlen zu können. Darüber hinaus bedeutet dies, Vorstellungen zu haben, warum und wie Not leidende Kultur wieder verbessert werden sollte.
Nimmt man die Sprache als Vergleich, dann ist es schon beeindruckend, wenn jemand eine lebendige, differenzierte, das Wesentliche unterhaltsam fassende Sprache sprechen kann. Andere profitieren davon, wenn sie sich auf die Kultur dieser Sprache einlassen. Kultur steckt an und ist letztlich nur durch Kultur zu vermitteln. Sprachlich Versierte beherrschen ihre Grammatik, ohne die grammatischen Regeln nennen zu können, verstehen die Bedeutungsräume der Worte, ohne sich mit Semantik zu beschäftigen. Will man Sprache nicht nur leben und nutzen, sondern zunehmend bewusst gestalten, anderen beibringen und Sprachkultur pflegen und bewahren, dann kann man sich zusätzlich mit Grammatik, Semantik und anderen Beschreibungsdimensionen für Sprache beschäftigen. Man wird vom versierten Nutzer zusätzlich zum Sprachspezialisten.
Ähnlich kann man sich das bei Professionskultur und Organisationskultur vorstellen. Kulturkompetenz bedeutet einerseits, kompetent an Kulturen teilnehmen zu können, andererseits die Fähigkeit, Kulturen von einer Metaperspektive aus zu beschreiben und als eigene Dimension zu gestalten.
4.9 Wieslocher Kompetenzformel
Will man die verschiedenen Kompetenzkomponenten miteinander verknüpfen und auf eine Formel bringen, so könnte man definieren:
Professionelle Kompetenz =
Rollenkompetenz x Kontextkompetenz x Passung.
Rollenkompetenz und Kontextkompetenz sind Begriffe aus unserer Theatermetapher (Schmid 2003, Kap. 3.2.2.). Rollenkompetenz meint die Fähigkeit, verschiedene Rollen einzunehmen und kompetent auszugestalten. Kontextkompetenz meint die Fähigkeit, die Aufführungen, in denen die Rollen zu spielen sind, zu begreifen, darin kontextförderlich zu spielen und damit die Gesamtinszenierung zu erleichtern.
Die multiplikative Verknüpfung weist darauf hin, dass die Gesamtkompetenz durch jeden einzelnen Kompetenzbereich vervielfacht erhöht oder gemindert wird. Die Verbesserung einer schwachen Kompetenzkomponente bringt daher viel mehr als der Ausbau einer starken. Umgekehrt begrenzt eine schwache Komponente die Gesamtkompetenz viel entscheidender als der Blick auf die starken Komponenten vermuten lässt.
Die Kompetenzformel macht von vornherein deutlich, dass Kompetenz nur begrenzt eine Persönlichkeitseigenschaft ist, sondern viel mit dem Umfeld zu tun hat.
Kompetenz hat eben auch damit zu tun, welches Rollenrepertoire man kennt bzw. beherrscht (Rollenkompetenz) und damit, ob man sich in Themen, mit Inszenierungen und auf Bühnen auskennt, in denen diese Rollen zu spielen sind (Kontextkompetenz). Darüber hinaus kommt es darauf an, dass die eigene Art, sich in seinem Repertoire auszudrücken und zu bewegen, zu den Anforderungen und Stilen der jeweiligen Umgebungen passt.
Bei Passung geht es darum, wie der Professionelle zum Unternehmensstil und zur Organisationskultur bzw. zu dem dort vorherrschenden Führungsstil passt. Eine wichtige Passungsdimension ist die Frage, ob die Mitwirkung und die damit verbundene Entwicklungsmöglichkeit der Seele des Professionellen Sinn machen. Manchmal hat sich das Sinnpotenzial so erschöpft, dass die Kompetenz nicht mehr zum Tragen kommt. Es kostet dann immer mehr Kraft, sich dennoch zu motivieren und auch andere spüren, dass das seelische Kraftfeld (Schmid/Hipp 2002) seine gestaltende Wirkung verliert. Wenn solche Stimmigkeiten verloren gehen, organisieren sich die Prozesse durch intuitives Zusammenspiel immer weniger konstruktiv. Dies gilt nicht nur in überschaubaren sozialen Situationen, sondern es geht auch um die Passung zu bestimmten Märkten oder beruflichen Vereinigungen, Milieus, Zeitströmungen etc.
Allerdings soll hier nicht jeder An-Passung das Wort geredet werden, denn oft lebt eine kreative Zusammenarbeit ja von den irritierenden bis inspirierenden Unterschieden. Auch soll nicht jeder zum professionellen Zehnkämpfer ausgebildet werden und möglichst in allen Disziplinen einen schwarzen Gürtel tragen. Oft ist es gerade die Besonderheit eines Anbieters, eine spezifische Qualität, die sonst nicht leicht zu finden ist, die den Marktwert ausmacht. Aber irgendetwas muss auch passen, sonst kommt ein Zusammenspiel nicht zustande oder eine erste Begeisterung bleibt ein Strohfeuer. In jedem Falle lohnt es sich, die eigenen Profile aus vielen relevanten Perspektiven näher zu studieren und bei Bedarf zu ergänzen.
Wie leicht zu bemerken ist, sind in der Wieslocher Kompetenzformel die einzelnen Dimensionen nicht allgemeingültig gefüllt oder präzise voneinander unterschieden. Wie bei vielen der ISB-Konzepte geht es nicht um präzise Bestimmungen der bezeichneten Wirklichkeit (zur Unterscheidung von randscharfen und kernprägnanten Definitionen s. Schmid 2004b), sondern um die Errichtung einer Betrachtungsperspektive, die bestimmte Überlegungen nahe legt. Man sollte eher intuitiv verstehen, welche Betrachtungen man mit welchem Konzept anstellen könnte und dann frei sein, dieses auf spezifische Situationen anzupassen.
Die Kompetenzformel legt so z. B. Wert auf die Frage der Gesamtoptimierung und der Orchestrierung von Kompetenzaspekten. Außerdem transportiert sie die Implikation, dass Kompetenz als Beziehungsphänomen verstanden werden sollte. Kompetenz im Markt ist die vom Markt erkannte und positiv beantwortete Kompetenz. Als Konsequenz liegt auf der Hand, dass die jeweiligen Systeme, auf die bezogen über Kompetenz nachgedacht wird, von vornherein einbezogen werden.
Auch gilt, dass nicht alle Dimensionen gleichzeitig berücksichtigt werden können. Dies würde zu Erklärungssystemen führen, die für den praktischen Umgang zu kompliziert wären. Daher werden Dimensionen von Kompetenz im Folgenden hintereinander erläutert.
4.10 Professionelle Persönlichkeitsentwicklung
In Fragen der Professionalität ist heute eine gewisse marktwirtschaftliche jeweiligen angesagt. Anders kann man als nicht subventionierter privater Marktteilnehmer auch nicht bestehen. Ohne ein Verständnis von Marktwirtschaft und Unternehmertum wären Professionelle auch zu weit von Organisationen und Unternehmen, denen sie ihre Dienste anbieten, entfernt. Dennoch kann gleichzeitig der Mensch mit seinen existenziellen Fragen der Lebensgestaltung im Vordergrund stehen und beide Anliegen können miteinander verbunden werden.
Viele Menschen sind mehr als früher mit ihrer persönlichen Entwicklung beschäftigt, also mit den Lebensprozessen, über die sie die einzigartige Persönlichkeit verwirklichen können, die in ihnen steckt. Diesen Prozess und Entwicklungsweg nennt die Jung’sche Psychologie Individuation. Soweit sich Individuation auf die Welt der Berufe und der Organisationen bezieht, sprechen wir von professioneller Individuation (den Begriff verdanke ich meinem Kollegen Joachim Hipp). Dieser Frage wollen wir später einen größeren Raum einräumen (s. Kap.5.-7.).
4.11 Persönliche Orientierung
In diesem Kapitel sind wir genauer auf das Unternehmen »Beruf« und die dafür notwendigen Kompetenzen eingegangen. Wir wollen Ihnen jetzt wieder die Möglichkeit geben, das eben Aufgenommene probeweise auf die eigene Situation anzuwenden.
Achtung: Nehmen Sie Ihre Überlegungen nur als situative Momenteinschätzung. Die Kompetenzformel ist keine objektive mathematische Formel. Bei der Beurteilung der professionellen Kompetenz hängt es ja auch davon ab, welche Fragen man an Sie stellt und welche Situationen man dabei berücksichtigt. Dennoch können Ihnen Ihre Überlegungen wichtige Anregungen für die Praxis vermitteln und vielleicht sind sie ein (erneuter) Anlass, sich wieder einmal Rückmeldung von anderen einzuholen. Denn die Beurteilung von Kompetenz ist, wie gesagt, auch eine Frage der Perspektive.