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2. »Unter uns«


2.1 Vorbemerkung

Ich, Christiane Gérard, kenne Bernd Schmid nunmehr seit 25 Jahren, seit ich 1984 meine Transaktionsanalyse-Ausbildung in seinem Institut begonnen habe. Auch nach meinem klinischen TA-Examen 1989 blieben wir durch gemeinsame Interessen und Neigungen bis heute miteinander verbunden.

Wir blicken beide auf jeweils mindestens 30 Jahre Berufstätigkeit in den Bereichen Beratung und Psychotherapie und dazugehörender Erwachsenenbildung zurück. Wir befinden uns beide in einer Lebensphase, in der das Bedürfnis wächst, die Essenz der vergangenen Berufsjahre zu überdenken und anderen zum Nachdenken anzubieten. Dabei passen unsere Reflexions- und Erzählweisen in vielerlei Hinsicht zusammen oder ergänzen sich.

Wir sind uns bewusst, dass die Arbeitsbedingungen und Arbeitslebensweisen der Leser sich von den unseren stark unterscheiden können. Dennoch sind wir zuversichtlich, dass sie von unseren Anregungen profitieren können. Und auch wir Autoren unterscheiden uns trotz aller Übereinstimmungen in mancher Hinsicht und bilden damit selbst eine Spanne möglicher Betätigungsfelder und persönlicher und institutioneller Voraussetzungen ab:

Bernd Schmid arbeitete bzw. arbeitet vorwiegend freiberuflich in vielfältigen Rollen als Erwachsenenbildner, Supervisor, Berater, Unternehmer und Leiter seines eigenen Weiterbildungsinstituts in Wiesloch, Orientierungsgeber, Gesprächspartner für seine MitarbeiterInnen, Buchautor, Vortragender auf Kongressen und ist aktiv in Hochschulen und Verbänden. Ich war dagegen immer angestellt und arbeitete zuletzt 25 Jahre lang als Neuropsychologin und Psychotherapeutin in einer Kinderklinik – halbtags.

Wir beide haben recht unterschiedliche Lebensinszenierungen, denen unterschiedliche Lebensentwürfe zugrunde liegen. Lebensentwürfe sind geprägt

• von der Wesensart,

• von Talenten und Ambitionen,

• von Ausstattungen und Aufträgen durch die Familie,

• vom Lebensgefühl und von den Lebensstilen der Milieus, in denen man aufgewachsen ist und in denen man sich später bewegt,

• durch prägende Lebenserfahrungen, die oft in Schlüsselerlebnissen und inneren Bildern verdichtet sind. (Schmid 2008d)

Auch wenn sich Menschen oberflächlich betrachtet in gleichen Berufen oder Funktionen bewegen und sich z. B. als Psychotherapeuten, Berater, Bildungsfachleute, Führungskräfte oder Unternehmer bezeichnen, so stecken hinter diesen Titeln doch oft sehr unterschiedliche Lebensinszenierungen. Das trifft bei uns beiden Autoren ebenso zu. Das folgende Gespräch zwischen uns – spontan aufgezeichnet, stark gekürzt, bearbeitet und ergänzt – soll die Leser zu ähnlicher Selbstreflexion einladen. Wir stellen uns Fragen, die uns, manchmal unterschiedlich stark, während unseres Werdegangs und jetzt in der Lebensphase des bilanzierenden Rückblickens beschäftigt und/oder die wir häufig als Fragestellungen bei Kollegen und Kolleginnen vernommen haben.

2.2 Dialog zwischen den Autoren

CHRISTIANE GÉRARD: Wir beide schauen auf eine lange und reiche Berufszeit zurück. Angenommen, du könntest noch einmal darüber entscheiden: Würdest du diesen Berufsweg wieder so einschlagen oder würdest du etwas anders machen, und wenn ja, was?

BERND SCHMID: (…) Ursprünglich wollte ich ja mal Lehrer werden. Aber nach meinem ersten Schulpraktikum wurde mir klar, dass ich nicht Schullehrer werden wollte. Und zwar nicht wegen der Schüler, sondern weil ich im Praktikum das Lehrerkollegium wie eine Versammlung Untoter erlebt habe. Und da habe ich entschieden: Ich will nicht mit solchen Zombies in einem solchen Raum sitzen. Also war für mich klar, dass ich nicht in die Schule gehe. Lehrer wollte ich aber gerne werden. Die Alternative war dann Hochschullehrer. Ich war ja schon früh Assistent an einem Lehrstuhl für Volkswirtschaftslehre. Diese Alternative war dann aber deswegen wiederum nicht möglich, weil ich für diese zumindest damals sehr traditionelle Disziplin mit meinen psychologischen Interessen ein zu »bunter Hund« war. Ich wurde über viele eigene Bewegungen und Wechselfälle des Schicksals (Schmid 1992, 2001c) das, was ich geworden bin, und heute wüsste ich nicht, was ich beruflich ändern sollte. Im Nachhinein schien sich alles zu fügen.

CG: Du sagst also, das bin ich, das war ich und das will ich auch weiter sein.

B.: Ja, ich habe ja immer alles mit großem Engagement gemacht, war damit sehr identifiziert und habe daraus auch immer viel Kraft geschöpft. Auf der anderen Seite gab es auch Bereiche, in denen ich mich versucht habe, die mal besser und mal schlechter gingen, letztlich aber nicht wirklich gepasst haben, wie z. B. Vortragsreden vor einem größeren, mir unbekanntem Publikum.

CG: Du hast mal erzählt, dass du als Kind gerne als Zauberer oder Zirkusdirektor das Publikum zum Staunen bringen wolltest. Ich hätte daher erwartet, dass dir Auftritte vor einem Publikum liegen. Was hat da nicht gepasst?

BS: In kleinerer Manege ist mir das meist gut gelungen. Doch wäre ich auch gerne in großer Manege besser zur Geltung gekommen. Aber dafür war ich vielleicht nicht extravertiert genug. Während befreundete Kollegen auf der Bühne erst richtig in Fahrt kommen und den Stecker in der Steckdose zu haben scheinen, haben solche Auftritte meinen Akku strapaziert. Ich habe mich auch oft zu mehr Extraversion genötigt als wirklich für mich gestimmt hat. Dieses Bemühen hat zwar meine Persönlichkeit erweitert, aber ich bin heute ganz froh, dass ich jetzt mehr Introversion leben kann und nicht so oft auf die Bühne gehe. Wenn meine Institutskollegen in der Gruppe oder beim Kunden präsentieren, kann ich an meinen Schreibtisch gehen und trotzdem eine Rolle in dem Zirkus haben.

CG: Du meinst in deinem Institut? Und dort hast du die Mitwirkenden ausgebildet, betreust sie und stärkst das Kraftfeld mehr hinter den Kulissen?

BS: Genau, ich bin jetzt mit allem eng verbunden, bin wichtig und bringe meine Erfahrung und meine Kreativität ein, muss aber nicht mehr Auditorien bei Laune halten.

CG: Wie meinst du das?

BS: Als Lehrtrainer muss man neben hoher Fachlichkeit dafür sorgen, dass sich eine Gruppe wohl und gut unterhalten fühlt, weil das fürs Lernen wichtig ist. Da wir von der Gunst eines anspruchsvollen Publikums leben, geht das nicht ohne. Ich war aber eher ein Entwickler, der anderen seine neuen Entwicklungen erläutern wollte, als ein Lehrer, der neue Generationen mit bekannten Inhalten immer wieder neu beseelt.

CG: Das heißt, du hast dir ein breiteres Repertoire entwickelt, um aufzubauen, was heute eine Institution geworden ist, konzentrierst dich aber jetzt wieder auf bevorzugte Funktionen.

BS: Richtig. Ich habe über viele Jahre die Organisation so entwickelt, dass alle Funktionen gut ausgefüllt sind und ineinander greifen. Ich kann jetzt an all dem partizipieren, was mir wichtig ist, ohne selbst zu Dimensionen beitragen zu müssen, die ich zwar kann, aber lieber anderen überlasse.

CG: Ja, das klingt, als seiest du da sehr im Reinen mit dir.

BS: Ja, viele sehen das so, melden mir dies zurück und nehmen auch für sich daran Maß. Es ist gelungen, eine Kultur zu schaffen, in der ich und andere, mit denen die Passung gestimmt hat, gute Rollen finden können. Auch bin ich irgendwie meiner ursprünglichen Berufung als Hochschuldidaktiker treu geblieben. Ich habe nun »meine eigene Hochschule«. Und da wir nie öffentliche Finanzierung in Anspruch genommen haben, bestand auch die Notwendigkeit, geistig anspruchsvolle mit wirtschaftlich tauglichen Angeboten zu kombinieren. Wir stellen uns damit einem manchmal verdrängten Zusammenhang, dass Kultur ohne eine leistungsfähige Wirtschaft geringe Chancen hat. Diese Kombination aus humanistischem Bildungsideal und marktwirtschaftlichem Verantwortungsprinzip hat uns immer gezwungen, gute Kompromisse zwischen gesellschaftstauglichen Anforderungen und eigenen Wertevorstellungen zu finden. Das hätte uns eine öffentlich finanzierte Hochschule nicht so konsequent abverlangt.

CG: Du warst aber auch im Hochschulrat einer Bildungshochschule tätig.

BS: Ja, das war eine ganz eigene Erfahrung. Dort wird gerne das Humboldt’sche Bildungsideal beschworen – doch nicht immer in überzeugenden Begründungszusammenhängen. Wilhelm von Humboldt hat seine Schulreform in 18 Monaten autoritär durchgezogen. Wer nicht mitspielte, war draußen. Das ist heute nicht möglich und vielleicht in einer Demokratie auch nicht wünschenswert. Aber es gibt Momente, in denen ich das bedauere.

Aber erzähl du doch mal! Wie ergeht es denn dir mit deinem Beruf? Würdest du ihn noch einmal wählen?

CG: Ich würde möglicherweise nicht noch einmal Psychologin werden wollen? Also, es gibt schon Bereiche in meiner Arbeit, in denen ich mich wieder finde: das Kreative, das Experimentieren, das Problemlösen! Vieles mache ich immer noch sehr gerne. Aber ich fand es entsetzlich langweilig immer dann, wenn ich dachte zu wissen, wie eine Lösung aussehen könnte, dann diesen ganzen, manchmal mühseligen Prozess der Therapie selbst zu begleiten. Sicher muss man dabei bedenken, dass meine Arbeit mit Hirnverletzten bzw. mit den von diesem oft plötzlichen Schicksal betroffenen Familien auch besonders kräftezehrend war. Andererseits war es auch eine echte Herausforderung, sich in das Denken, Fühlen und Erleben von Menschen, deren Hirnorganisation sich von unserer unterscheidet, hineinzuversetzen. Das war der kreative und sehr spannende Teil. Andererseits würde ich heute wahrscheinlich eher direkt etwas Kreatives machen und dann schauen, dass ich mein Kontaktbedürfnis zu Menschen privat befriedige.

BS: Kreativ im Sinne von künstlerisch? Im klassischen Sinne: malen, schreiben, bildhauern, Musik machen …?

CG: Ja auch, aber mehr im Sinne von Etwas erfinden! Oder aber, was ich schon immer als Kind toll fand: Verhaltensbeobachtung! Du beobachtest einfach nur und gibst den andern mit, was du siehst, ohne dass du selbst was machen musst …

BS: Also nicht das Gestalterische, sondern eine andere Form des Wirkens. Ist es das, was Michael Endes Momo kann? So zuzuhören, dass etwas anders wird, ohne einen Ratschlag geben zu müssen?

Ja, das verstehe ich gut. Ja, ich hab das Gefühl, je älter ich werde, desto mehr erlaube ich mir, einfach nur zuzuhören und zu beobachten ohne einzugreifen.

CG: (…) wobei ich nicht weiß, ob mir dann nicht wieder etwas fehlen würde.

BS: Ja, da ist was dran. Auch ich erlebe dabei einen Verlust.

CG: Wovon?

BS: Mir ist ein Stück weit die »Werkel-Lust« verloren gegangen. Ich empfinde es auch als sehr segensreich, wenn Menschen einfach Lust haben, die Ärmel hochzukrempeln, und wirklich etwas zu gestalten.

Also insofern habe ich Verständnis für deine Idee. Ich weiß aber jetzt nicht, ob das nicht einfach ein aufgestautes Bedürfnis bei dir ist, was bisher zu kurz kam, oder ob du das wirklich damals schon anders hättest machen wollen.

CG: Ja, das weiß ich natürlich auch nicht. Ich habe mich aber eigentlich nie wirklich als Psychotherapeutin gefühlt. Das war etwas Fremdes, was ich machen musste, was ich auch gut gemacht habe, aber ich habe mich nie dazu berufen gefühlt. Von daher denke ich, würde ich den Beruf mit dem Wissen, das ich heute habe, nicht mehr ausüben.

BS: Psychotherapeutin. Gibt es irgendeine Konkretisierung dieses Berufslebensweges oder ist es einfach die Nennung einer Kategorie?

CG: Als ich damals zu dir in die Ausbildung kam, hatte ich mir überlegt, ob ich eine Schreinerlehre mache oder bei dir in die Lehre gehe. Letzteres passte dann sehr gut, weil ich auch bei dir ein Kunsthandwerk gelernt habe, die systemische TA. Und ich wollte wirklich ein Handwerk lernen. Ich habe immer die Berufsgruppen beneidet, die mit konkreten Werkzeugen in der Hand durch die Gegend liefen und wussten, was sie womit anpacken sollten. Schreinern wäre etwas gewesen, was ich sehr gerne gemacht hätte. Selbst Möbel erfinden und zusammensetzen. Es ist etwas Heiles, etwas Gesundes …

BS: Ja, und man kann etwas anfassen … also ich verstehe die Dimension. Ob das ein heilerer Berufslebensweg gewesen wäre, das ist noch einmal eine andere Frage.

CG: Es hätte mir dann vielleicht etwas anderes gefehlt …

BS: Ja und es zeigt einfach, dass deine tatsächliche Berufslebensentwicklung doch Dimensionen unterversorgt gelassen hat.

CG: Lass uns noch auf die andere Seite schauen: die Schattenseiten dieses Berufs.

Mir selbst fallen zwei Aspekte ein, die mich gestört haben. Das ist einmal das Image des Berufs in der Öffentlichkeit. Im Krankenhaus, in dem die Leute ja nicht freiwillig zu mir kamen, sondern geschickt wurden, brachten diese oft auch viele Vorurteile gegenüber meiner Rolle mit. Ich musste erst einmal dagegen anarbeiten, um guten Kontakt herzustellen. Das war nicht entscheidend, aber dieses Image der Psychotherapeutin oder der Beraterin in der Öffentlichkeit hat mich auch im Privaten gestört. Dort hatte ich das Gefühl, dass Leute oft Privates und Berufliches vermischten. Etwa so: Wenn du Sorgen hast, dann kannst du halt zur Christiane gehen, auch privat, sie ist ja Psychotherapeutin. Am Anfang meiner Berufsjahre habe ich diese Tendenz sicher auch selbst gefördert. Das war ja auch eine Einfluss verheißende Rolle: Man konnte damit wichtig sein und wurde gebraucht. Später aber empfand ich diese Erwartungen dann eher als lästig. Ich fand es deswegen manchmal schwierig, privat neue Kontakte zu knüpfen, weil ich misstrauisch war, ob ich nicht wieder »ausgenutzt« oder nur deswegen gemocht werden würde, weil man ja immer so »anständig« zuhört und nett ist und so. Das fand ich schade … Wie ist es dir gegangen?

BS: Bei mir war das ganz anders … Ich war immer froh, wenn jemand Interesse an meiner Kreativität hatte und ich aktiv sein konnte. Ich habe mich mit meiner Kreativität identifiziert und mich daher bei Wünschen nach Unterstützung persönlich gemeint gefühlt. Dazu kommt noch mein anderer institutioneller Kontext. Ich war Freiberufler. Leute sind zu mir gekommen, weil sie zu mir wollten und ich konnte sie mir dann auch mehr oder weniger aussuchen.

CG: Aber du hast doch auch deinen privaten Umkreis?

BS: Ja, vorwiegend über die Familie. Sonstige private Beziehungspflege war nicht mein Heimspiel. Die meisten Privatbeziehungen sind im Berufsfeld entstanden. Dort habe ich Arbeitsformen gefunden, die für mich auch viele private Begegnungsmöglichkeiten und vertrauensvolle Beziehungen ermöglichten, für die ich sonst nicht die Motivation und die Verhaltensweisen gehabt hätte.

Wir haben in unserem Institut einen Rahmen entwickelt, in dem privatpersönliche und berufliche Kontakte fließend ineinander übergehen. Meistens sind auch meine Mitarbeiter und Lehrtrainer Menschen, die gerne menschliche Begegnungen mit dem Beruf kombinieren, wie ich das auch tue.

Für meine Lehrtrainer und Mitarbeiter bin und war ich auch immer ein bisschen der Mentor und Seelsorger und bin das gerne. Umgekehrt haben sie auch Anteil an unserem Leben genommen. Das haben wir intensiv erlebt, als unser Sohn Peter gestorben ist. Die liebevolle Zuwendung, die uns zuteil geworden ist, hat mich sehr berührt. Von daher habe ich diese Beziehungen als einen sehr lebendigen und gegenseitigen Austausch erlebt.

Und mir fällt es leichter, Beziehungen zu gestalten, wenn ein Lebensvollzug – sei es beruflich oder privat – miteinander möglich ist.

CG: Das passt ja auch wieder zu dem Beziehungstyp, als den du dich beschreibst, als den Ich-Es-Typen, für den es wichtig ist, sich über ein Thema auf den anderen beziehen zu können.

BS: Ja, das müssen keine großen Themen sein. Heute Mittag zum Beispiel habe ich für alle Mitarbeiter im Wok Gemüse gekocht. Es geht auch um konkrete Tätigkeiten, über die ich in Beziehung sein kann.

CG: Das ist schon auch etwas Ungewöhnliches: diese Kombination von Lebens- und Arbeitsform.

BS: Ja, wir achten im Institut drauf, dass Leben und Arbeiten im Zusammenhang bleibt. Wenn jemand z. B. mit uns kooperieren will, dann lade ich ihn zum Gespräch ein. Wir reden erst. Dann nimmt er an unserem Mittagessen teil und kann sehen, wo er ist. Und wir sehen, wer er ist in dieser Runde. Und dies hilft uns, über mögliche Kooperationen zu entscheiden.

CG: Da bist du schon eine Ausnahme. Ich denke, viele Kollegen und Kolleginnen, die ich kenne, die möchten wirklich so eine Trennung haben. Also: »Nach der Arbeit möchte ich keinen Patienten und möglichst auch keine Probleme mehr sehen. Hier bin ich privat«.

BS: Ja klar. Es gibt auch diese déformation professionelle: In der Regel habe auch ich keinen großen Hunger auf Kontakt, weil ich davon eher zu viel habe als zu wenig. Bei privaten Begegnungen wie bei Festen treffe ich auf interessante und wertvolle Menschen, will sie aber meistens nicht näher kennen lernen, weil ich keinen Platz in meiner Seele habe.

CG: Ja, das geht wohl vielen älteren Kollegen so und ich höre von vielen, dass sie eigentlich »psychotherapiemüde« sind.

BS: Ich habe nach 20 Jahren Psychotherapie das Gefühl gehabt, ich habe es durch. Und dann habe ich etwas anderes gemacht.

CG: So ging es mir auch. Wenn ich irgendetwas konnte oder kannte, dann wurde es mir langweilig, dann wollte ich auch nicht mehr dort weitermachen.

Passung

BS: Das ist auch ein Kreuz in unserer Gesellschaft: Wir haben viel zu starre Berufe und institutionelle Funktionsbilder. Daran hängen dann viele Menschen fest, obwohl es sich überlebt hat. Nur für ganz wenige Menschen bleiben ihre Berufe Lebensberufe. Hier wären mehr Beweglichkeit und immer wieder neue Ausrichtung gesünder und kompetenter. Wir beschäftigen uns am ISB intensiv mit diesem sogenannten Passungsthema. Also: Wie passe ich zur Organisation und zur Rolle und wie passen die Institution und Rolle zu mir? Es finden ja Veränderungen auf beiden Seiten statt, sowohl gesellschaftlicher wie persönlicher Art. So können sich ehemals erfüllende Tätigkeiten für den Rolleninhaber erschöpfen oder so verändern, dass sie nicht mehr zur Person passen. Eigentlich gehört zu einer gehobenen Professionalität und zu einer Organisationskultur, dass man immer wieder einen Passungsdialog – wie wir das nennen – durchführt. Das heißt, man schaut, ob Person, Institution, Organisation, Rolle usw. noch zusammenpassen. Und wenn man merkt, es passt bald nicht mehr zusammen, kann man frühzeitig etwas am Rollenportfolio ändern oder man kann die Funktion in der Organisation umgestalten. Und wenn das nicht möglich ist, muss man sich fragen, wie man in einer anderen Organisation zu neuer seelischer Lebendigkeit gelangen kann. Die Erhaltung von Leistungsfähigkeit hat viel mit Lebendigkeit und daher viel mit einem kompetenten Passungsdialog zu tun …

CG: Dann wäre ich vielleicht doch Psychologin geblieben …

BS: … wenn du einfach mehr Möglichkeiten gesehen hättest, als Psychologin in anderen Funktionen und Rollen tätig zu werden?

CG: Als ich zum Beispiel eine Weile zusätzlich Marketingaufgaben hatte, fand ich das super. Ja, ich hätte wohl mehr Gestaltungsfreiraum für meine Ideen gebraucht.

BS: Ja eben, von daher ist es vielleicht weniger die Profession, die nicht deine wäre, sondern es waren die Organisationsfunktionen, die zu eng oder zu unbeweglich blieben.

CG: Ja, das stimmt. Insofern müsste ich in einem »neuen« Leben eher darüber nachdenken, welcher institutionelle und organisatorische Rahmen besser zu meinen Neigungen und Potenzialen passen würde.

BS: Wann bin ich eigentlich schon Psychotherapeut, Berater oder was mir als Identität vorschwebt? Diese Frage treibt einen jungen Menschen durchaus um.

CG: Welche Herausforderungen sind die richtigen? Wir beide haben ja schon öfter festgestellt, dass wir uns aufgrund unserer verschiedenen Persönlichkeitsstrukturen recht unterschiedlich an Herausforderungen heranwagen. Mich haben die ersten Berufsjahre sehr verunsichert. Das Studium selbst bereitet dich ja wenig auf den direkten Kontakt mit zukünftiger Klientel vor. Ich habe mich lange gefragt, woran ich mich eigentlich bei meiner Arbeit orientieren kann und soll. Du selbst beschreibst dich dagegen als einen Menschen, der eher gerne an die eigene Kompetenz geglaubt hat. Dennoch hast du vor über 20 Jahren eine Wirksamkeitsstudie (1988a, 1988b) zu deinen Intensivseminaren durchgeführt? Das passt für mich gar nicht zu dem wenig selbstzweiflerischen Eindruck, den du auf mich machst.

BS: Dafür gab es vor allem zwei Gründe: Zum einen konnte ich mich in den bestehenden Psychotherapie-Schulen schlecht beheimaten. Ein ganz typisches Muster für mich ist, dass ich, sobald ich an Dogmen und Schemata stoße, sofort deren Begrenzungen aufzeigen möchte. In einem Fall können Menschenbilder sinnvoll sein, aber im anderen Fall käme es einem Götzendienst gleich, wenn man sie als Wahrheiten erstarren ließe. Ich glaube, dass ein gebildeter Mensch bei jeder Frage aufgerufen ist, in seiner Weise, aus seiner Zeit, aus seinem Kontext, aus seinem Milieu kommend mit seiner Biografie stimmig neue Antworten zu finden. Insofern fühlte ich mich immer als eine Art Wilderer, der sich zwar der Konzepte und Ideen aus den üblichen Schulen bedient, sich aber den Dogmen nie unterworfen hat. Diese Freiheit hatte auch ihren Preis. Ich hatte immer das Problem, meine Identität zu definieren: Wer bin ich, wenn ich mich in keinen festen Rahmen, der mir eine Autorisierung oder eine gesicherte Identität verleiht, einfügen mag? Ich hatte und akzeptierte also identitätsbildende Rahmen um mich in nur geringem Maße und musste mir eine eigene Heimat sowie meine eigene Arbeitsweise und Struktur schaffen, wie z. B. diese Intensiv-Seminare mit einem mir gemäßen Stil.

Selbstwertzweifel oder Selbstkompetenzzweifel machten mir damals Sorgen, ohne dass mir ein traditioneller Rahmen den Rücken gestärkt hätte oder ich den jeweiligen Moden nachgegeben hätte. Ich wurde in der sehr emotionsintensiven, alternativen Psychotherapieszene manchmal mit kritischen Infragestellungen konfrontiert. Mein eher kognitiv orientierter Stil wurde verdächtigt, eine Folge von eigenen frühen Störungen zu sein, weshalb ich mich emotionalen Dingen nicht in dieser Intensität widmen könne, die damals üblich war. Um mir dazu ein etwas objektiveres Bild zu machen, habe ich alle meine Klienten schriftlich befragt.

CG: Ja, die Untersuchung wurde 1988 durchgeführt. Das war die Zeit, in der es »en vogue« war, möglichst viele Gefühle in der Therapie zum Ausdruck zu bringen. Und du fielst aus dieser Schablone heraus.

BS: Genau. Man war sich in meinen Kreisen relativ einig: Wo die Gefühle sind, da geht es lang, und je mehr eine gegenwärtige Situation auf einen früheren Konflikt oder ein früheres Erlebnis, am besten noch vorsprachlich, zurückgeführt werden kann, um so elementarere Arbeit leistet man und desto mehr gelangt man an die Wurzeln des Übels. Störungen hat man durch Fehlentwicklungen in der Kindheit bedingt verstanden und fast ausschließlich entwicklungspsychologisch beschrieben. Mir persönlich lag dieses schematische Verständnis von Störungen als auch der daraus abgeleitete Therapiestil nicht sehr. Obwohl ich durchaus gelernt hatte, mit Gefühlen umzugehen und die hinter der Gegenwart liegende, belastete Vergangenheit aufzuspüren. Empathie wurde damals ganz stark als Eingehen auf intensive Gefühle verstanden. Der Exklusivanspruch des Emotionalen, ja der Motivpsychologie überhaupt, war mir persönlich immer zu kultisch. Und bei uns ging es eben nicht so expressiv und schon gar nicht so stark kindheitsorientiert zu.

Und ich habe mich gefragt, ob ich trotzdem wertvolle Persönlichkeitsarbeit mache, und ob sich die Leute verstanden und emotional angesprochen fühlen, auch wenn ich selbst mich hauptsächlich kognitiv gesteuert habe. Am meisten hat mich beschäftigt, ob meine Art verständlich ist und Auswirkungen auf das hat, was anderen wichtig ist.

Dass es mir an emotionaler Schwingungsfähigkeit fehlte, das habe ich immer auch gespürt. Und wenn mich Leute in der Hinsicht als gestört dargestellt haben, habe ich mich durchaus darin wiedergefunden. Was mich störte bzw. zunächst verunsicherte, war die Pathologisierung meiner Persönlichkeitsausprägung. Später haben mich Lehrer wie z. B. Theodor Seifert, der Jungianer, oder andere Autoritäten, die diese Pathologisierung nicht mitgemacht haben, eher be- und gestärkt, weiter meinen Weg zu gehen. Dieser Weg war natürlich nicht nur durch Einseitigkeiten, sondern auch durch viele Kompetenzen geprägt. Ich habe dadurch im Laufe der Jahre zu einem Okay-Gefühl gefunden. Wenn ich auch heute noch manchmal Defizite feststelle und merke, da fehlen mir Dinge, die andere Menschen haben, bedauere ich das, weil ich gerne diese menschliche Dimension mehr erleben würde. Aber es ist keine Frage mehr eines Okay-Seins und Nicht-okay-Seins.

CG: Du konntest also die Nicht-okay-Gefühle loslassen und hast damit auch persönlich von der Auseinandersetzung mit deiner Berufsrolle profitiert. Und die Evaluationsstudie war eine der Möglichkeiten, die Frage deiner professionellen Wirksamkeit zu überprüfen.

BS: Genau … Insgesamt haben sich meine Hoffnungen, dass ich durch die Art und Weise, wie ich arbeite, auch Menschen ganz verschiedenen Typs erreiche und etwas Relevantes für ihre Lebensentwicklung beitragen kann, durch diese Arbeit – soweit man dies auf diese Weise erforschen kann – sehr bestätigt. Ich habe mir, wenn man so will, mit dieser Untersuchung das Plazet der relevanten anderen geholt. Und damit war die Diskussion für mich eigentlich abgeschlossen.

Resonanz und Wirkung waren gut bei dem ungewöhnlich geringen Ressourceneinsatz dieser Arbeitsform. Die meisten der TeilnehmerInnen haben die Seminare nur ein-, höchstens zweimal besucht. Und sie sind nicht deswegen nicht wiedergekommen, weil es ihnen nicht gefallen hat, sondern weil ihnen die vier intensiven Tage ausgereicht haben. Diese Ökonomie entspricht auch meiner ganzen Haltung, dass Menschen in ihrer Aufmerksamkeits- und Energiebesetzung durch Therapie und Beratung möglichst wenig aus ihren Lebenszusammenhängen abgezogen werden sollen. Vielmehr sehe ich beide Arbeitsformen als einen Boxenstopp, bei dem Klienten einen Kick bekommen, ansonsten aber in ihrem Leben bleiben, sodass Therapie und Beratung nicht zu Ersatzbühnen werden.

CG: Nun sind ja die Ergebnisse solcher Evaluationsstudien – zumal wenn sie vom Behandler selbst durchgeführt werden – an sich kein objektiver Beweis und können strengen wissenschaftlichen Kriterien nicht genügen.

BS: Nein, natürlich nicht. Aber damals war ich mir unsicher, ob das, was mir persönlich plausibel war, auch für die betroffenen Menschen über den Augenblick hinaus relevant war. Man bildet sich ja gerne was ein und findet um sich herum dann auch die Menschen, die einen darin bestätigen, und darum ist man immer in Gefahr eine Sekte zu werden. Und deswegen habe ich Fragen, die mich bewegt haben, in einem Fragebogen gestellt, wie z. B.: Fühlen Sie sich emotional angenommen? Fühlen Sie sich richtig verstanden? Hat es Ihnen gut getan? Hat es Wirkungen auf ihren Alltag? usw. Dies waren die Fragen, vor denen meine Arbeit Bestand haben sollte.

Heute brauche ich diese Absicherung in der Weiterbildung von kompetenten Professionellen nicht mehr. Unsere Teilnehmer sind erfolgreiche Professionelle, im Durchschnitt ca. 40 Jahre alt und in vielerlei Hinsicht ganz unterschiedlich (Rollen, Vorbildungen, Branchen, Organisationstypen, Zuständigkeiten und so weiter). Wenn Leute, die im Leben auf vielen Bühnen in der Bewährung stehen, öfter wiederkommen, obwohl sie stattdessen ihr beachtliches Ein- und Fortkommen mehren könnten, und wenn sie ihre Freunde, Partner, Mitarbeiter und Vorgesetzte schicken oder durch ihre Empfehlung das Vertrauen in ihre Urteilskraft riskieren, dann gibt es für mich heute keine bessere Bestätigung dafür, dass wir auf einem guten Weg sind.

Resümee

CG: Mein Resümee des Bisherigen ist: Im Grunde genommen geht es immer wieder um die Frage der Auseinandersetzung mit dem eigenen Werdegang und der Passung. Passungsklärung ist keine einmalige Aufgabe, sondern ein kontinuierlicher Prozess, in dem ein lebendiges und labiles System immer wieder ausbalanciert werden muss. Antworten auf Passungsfragen werden daher immer situations- und kontextbezogen bleiben. Sie ändern sich mit den Bedingungen: ein Halbtagsjob mag solange erfüllen, solange man in der anderen Hälfte des Tages durch andere Aufgaben gefordert ist. Fallen diese weg, ändert sich möglicherweise auch die Passung. Ein bisher eher schüchtern auftretender Mensch, der seine dominante Seite entdeckt, wird in seiner Firma vielleicht eine andere Funktion wahrnehmen wollen. Die Lebensform eines Freiberuflers, die bisher gepasst hat, kann ihren Reiz durch private Veränderungen verlieren usw. Die Variationsmöglichkeiten, die zu einer Unpässlichkeit führen, sind komplex und vielfältig, die Anzahl möglicher Passungen jedoch begrenzt: Ich kann mich nicht überall anpassen, ohne meine seelische Lebendigkeit zu verlieren, und institutionelle und organisatorische Bedingungen haben ebenfalls ihre begrenzte Veränderungskapazität. Das Spielfeld dazwischen jedoch erscheint mir recht groß. Um die Spielräume wahrnehmen zu können, scheint es mir wichtig zu sein, mich selbst wesentlich wahrnehmen zu können. Dazu brauche ich relevante andere, die mich spiegeln, mir notfalls dysfunktionale Anpassungen aufzeigen, mir aber auch neue Passungsmöglichkeiten aufzeigen.

Und ich brauche den Mut, Veränderungen vorzunehmen, wenn ich spüre, dass mir als Zeichen mangelnder Passung meine seelische Lebendigkeit abhanden zu kommen droht.

2.3 Und Sie? Ein Fragebogen zur persönlichen Orientierung






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