Читать книгу Systemische Beratung jenseits von Tools und Methoden - Bernd Schmid - Страница 9
Оглавление3. Mensch und Beruf – ein Überblick
Haben Sie schon einmal einen größeren französischen Supermarché besucht? Es gibt fast alles, aber Sie finden nichts. Ähnlich mag es Ungeübten ergehen, wenn sie sich im Berufsleben zu orientieren versuchen. Welche Betrachtungen sind für eine geklärte Professionalität von Belang? Augenfällig sind Fachkenntnisse aller Art. Aber wie viele Professionelle (z. B. Lehrer) scheitern an fehlenden Fachkenntnissen? In einer breit angelegten Studie zu Coaching-Weiterbildung scheinen Inhalte nur zu ungefähr zehn Prozent deren Qualität auszumachen. Schwerer beschreibbare sonstige Kulturkomponenten solcher Weiterbildungen sind viel entscheidender. Für Professionalität sind die Komponenten, die traditionell als hintergründig angesehen werden, so entscheidend wie Ober- und Untertöne für Musik. Sie bestimmen den unverwechselbaren Sound, der charakteristisch bleibt, auch wenn Melodien wechseln. Wie in der Einleitung beschrieben, sind die zu einer geläuterten Professionalität gehörenden Hintergründe vielschichtig und vielfältig. Sich mit ihnen auseinanderzusetzen ist ein lebenslanger Prozess und letztlich viel spannender als Inhalte.
Wir werden jetzt einen kleinen Überblick geben, aus welchen unterschiedlichen Wirklichkeitsbereichen (Denk-)Angebote in diesem Buch zu finden sind.
3.1 Menschen im Beruf
Es geht um den Menschen, der im Beruf nicht nur einen Job oder eine Einnahmequelle sieht, sondern der sich in einem Berufsleben mit seiner professionellen Persönlichkeit, mit seinen Talenten und seiner Wertorientierung verwirklichen möchte.
Es geht um den Menschen, der sich im professionellen Selbstverständnis selbst erfahren, sich in seinem gesellschaftlichen Engagement selbst verwirklichen will. Es geht also um den Menschen, der die Gestaltung seines Berufslebens als wesentlichen Bestandteil seiner Lebensgestaltung begreift.
3.2 Menschen in Organisationen
Es geht um den Menschen in Organisationsfunktionen, da Berufstätigkeit in der Regel mit Zugehörigkeiten zu und Funktionen in Organisationen verbunden ist. Die dort vorgefundene Organisationskultur berührt unmittelbar die Lebenskultur der darin wirkenden Menschen. Professionelle Persönlichkeitsentwicklung und Organisationskulturentwicklung stehen daher in einem engen Zusammenhang. Im Funktionsträger treffen Professionskultur und Organisationskultur aufeinander. Sie können sich im kritischen Dialog bereichern oder zu schwer erträglichen Konflikten führen. Beide können als eigene Dimensionen beschrieben werden: die Charakteristika des Berufsfeldes wie die Eigenschaften einer Organisation in ihren Umwelten.
3.3 Professionelle Persönlichkeitsentwicklung
Zur Funktion kommt die Individualität des Menschen hinzu. Sie kann auch unabhängig von Beruf und Organisation beschrieben werden, da sie sich auch in anderen Bereichen in ihrer Unverwechselbarkeit zeigt. In jedem Fall betrachten wir Persönlichkeit immer im Zusammenhang mit konkreten Welten und Lebensvollzügen darin. Daher kann professionelle Persönlichkeitsentwicklung tiefer gehend nicht losgelöst von der Entwicklung der Professionen selbst, den professionellen Gemeinschaften und der Organisationen verstanden werden. Wer also den Menschen und seine Entwicklung im Beruf und in der Organisation verstehen will, muss sich um ein Verständnis von Professions- und Organisationswelten bemühen.
3.4 Kernfragen der Ökonomie
Die Professionen und die sie vertretenden Gemeinschaften wiederum können kaum ohne die Entwicklung der Märkte für Arbeits- und Dienstleistungen verstanden werden. Und diese sind wiederum mit anderen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklungen auf schwer durchschaubare Weise vernetzt.
Es muss also heute in der persönlichen und beruflichen Selbstverwirklichung eine Komplexität berücksichtigt werden, die privat unmittelbar einfühlbare Perspektiven überfordert. Wer mithalten will, muss lernen, irgendwie damit umzugehen. Mangelnde Kompetenz im Umgang mit dieser Komplexität führt zu Misserfolgen, die wiederum die professionelle Entwicklung, die Lebensgestaltung und das Lebensgefühl erheblich beeinträchtigen.
Wer sich als Spielball der Entwicklungen blind und ohnmächtig fühlt, reagiert auf Dauer mit seelischen und sonstigen gesundheitlichen Belastungen. Fachleute beobachten eine dramatische Zunahme depressiver Erscheinungsbilder. Man kann sich leicht vorstellen, dass dies auch mit den erschwerten Anforderungen an berufliche Lebensgestaltung zu tun hat.
3.5 Integrierende Perspektiven
Es geht damit auch um das Leben auf privaten und sonstigen gesellschaftlichen Bühnen. Entsteht Entwicklungsbedarf, stellt sich auch die Frage, welche Verfahren (z. B. Psychotherapie) oder multidisziplinäre Ansätze eher geeignet sind, Menschen bei ihrer Lebensgestaltung und ihrer persönlichen und beruflichen Selbstverwirklichung in einem derartig komplexen Bedingungsgeflecht zu unterstützen.
Zwar lassen sich berufsbedingte psychische Störungen treffend in psychotherapeutischen Dimensionen beschreiben, jedoch ist Psychotherapie gesellschaftlich gesehen keine Lösung. Davon haben uns viele Jahre als Praktiker und Lehrer auf dem Gebiet der Psychotherapie überzeugt. Durch die Einseitigkeit der Ansätze dort, bei gleichzeitigem Anspruch auf umfassende Erklärung menschlicher Schicksale, sind Wirksamkeit und Anschlussfähigkeit der Psychotherapie begrenzt. Trotz einiger weiterführender Ansätze wird meist versucht, die individuelle Lebensgestaltung der Menschen auch im beruflichen und gesellschaftlichen Bereich aus der privaten Lebensentwicklung heraus zu verstehen und zu verändern. Die konkreten beruflichen und gesellschaftlichen Lebenswelten müssten in der Psychotherapie wesentlich mehr und besser berücksichtigt werden. Dies ist ohne eine umfassende Veränderung der Perspektiven, der Konzepte und Methoden der Psychotherapie kaum möglich.
Wahrscheinlich funktioniert es umgekehrt: Eine gelungene multidisziplinäre Auseinandersetzung mit der Berufs- und Organisationswelt stellt den entscheidenden Beitrag auch zur Gesundheit des Einzelnen und der Gesellschaft dar. Für das Berufsleben und ein kompetentes Ausfüllen von Organisationsfunktionen sind psychotherapeutische Betrachtungen nur eine und oft nicht die entscheidende Perspektive. Dort, wo diese hilfreich sind, sind sie willkommen, sollten aber in Konzepten und Methoden kompetent mit den vielen anderen Perspektiven der Berufs- und Organisationswelt integriert werden.
Warum unterscheiden wir zwischen Menschen im Beruf und Menschen in Organisationen?
Menschen mit beruflichen Kompetenzen können in bestimmten Organisationen dennoch wenig erfolgreich sein beziehungsweise wenig Zufriedenheit erfahren. Dies kann damit zu tun haben, dass sie die Welt dieser Organisation nicht hinreichend verstehen oder nicht zu ihr passen. Umgekehrt gibt es Menschen, die in bestimmten Funktionen und Organisationen groß geworden sind, die jedoch kein eigenes professionelles Selbstverständnis entwickelt und sich in keiner professionellen Gemeinschaft beheimatet haben. Sie wissen dann oft nicht, wer sie beruflich sind, und geraten völlig aus dem Lot, wenn sie sich plötzlich auf dem Arbeitsmarkt neu orientieren müssen. Daher unterscheiden wir den beruflichen Lebensweg einerseits und bestimmte Funktionen in bzw. die Zugehörigkeit zu Organisationen andererseits. Die Perspektiven zu unterscheiden, schafft die Voraussetzung für getrennte Betrachtungen und für Fragen der Passung der Entwicklungen in beiden Sphären.
3.6 Passung
Viele Menschen geraten in berufliche Tätigkeiten und Organisationsfunktionen, die sie nicht befriedigen und ausfüllen können. Das ist gar nicht so selten, wird jedoch oft eher unterschwellig empfunden. Sich dies einzugestehen, ist häufig mit Scham behaftet und wird leicht ausgeblendet, zum Beispiel wenn es nicht zum gewünschten Selbstbild passt. Unzureichende Passung wird dann als diffuses Unbehagen erlebt. Manchmal schwelt im Hintergrund stumme Verzweifelung (Berne 1964, Schmid 1989). Wenn man damit zu tun hat, ist es nicht einfach, angemessen zu beschreiben, wo die Diskrepanzen liegen und was zu tun wäre, um Abhilfe zu schaffen. Dazu bedarf es feinsinniger Gespräche.
Kompetenz und Bereitschaft zu gemeinsamen Klärungen solcher Fragen sind in professionellen Gemeinschaften und Organisationen meist nicht sonderlich ausgeprägt. Daher leben die Menschen und die Organisationen oft viele Jahre mit Minderleistungen und persönlichen Belastungen. Diese könnten durchaus vermieden werden, wenn die differenzierte Klärung solcher Passungs-Fragen selbstverständlicher Bestandteil professioneller Kompetenz und Organisationskultur wäre. Hierzu bedarf es, neben Gesprächstechniken, eines differenzierten Verständnisses von Persönlichkeit bezogen auf Berufs-lebenswege und Organisationsfunktionen. Diese sind heute in komplexer gewordene Welten eingebettet und können immer weniger losgelöst von einer umfassenderen gesellschaftlichen Umwelt verstanden werden. Daher geht es um den Menschen als Mittelpunkt einer persönlichen Biografie und gleichzeitig als Mitglied einer sich zunehmend globalisierenden Gesellschaft.
3.7 Umgang mit Überkomplexität
Stehen wir also wie David vor dem Goliath der Überkomplexität, mit der wir irgendwie zurechtkommen müssen? Antworten finden wir meist nicht mehr dadurch, dass wir uns auf einige Beschreibungen und Steuerungsebenen konzentrieren und die eigene Kompetenz dort perfektionieren. Dies käme einem Versuch der illusionären Beherrschung der Aufgabenstellungen gleich. Hingegen ist Der flexible Mensch (Sennett 1998; orig.: The Corrosion of Character) heute der Mensch, der lebenslang an möglichst kompetenten Varianten der prinzipiellen Unwissenheit arbeitet.
Es geht also um Selbstverständnisse und Kompetenzen an den Knotenpunkten zwischen Persönlichkeitskultur, Professionskultur, Organisationskultur und der Kultur des Wirtschaftens unserer Gesellschaft.
3.8 Unternehmen und Organisationen
Die starke Betonung des Menschen könnte den Eindruck erwecken, dass hier von einem Gegensatz zwischen der Wohlfahrt des Menschen und den Bedürfnissen von Organisationen ausgegangen wird. Dies ist aber natürlich nicht notwendig der Fall. Im Gegenteil sind wir davon überzeugt, dass es keine nachhaltige Entwicklung für die einzelnen Menschen gibt, wenn sich die Gesellschaft nicht in dafür geeigneter Weise entwickelt. Auch wird hier kein Gegensatz zwischen Wirtschaft und Gesellschaft proklamiert, sondern wir folgen dem Verständnis von Luhmann (1988), nach dem Wirtschaft und Gesellschaft nicht zwei verschiedene Bereiche sind, sondern Wirtschaften eine wichtige Dimension von Gesellschaft und der Lebensvollzüge darin ist. Von daher ist Wirtschaftskultur ein Bestandteil von Gesellschaftskultur. Gesellschaftskultur ohne oder gar gegen Wirtschaftkultur entwickeln zu wollen, wäre genauso, als wenn man die Lebenskultur einer Familie ohne den Umgang mit Zeit, Geld, dem Können, dem Engagement ihrer Mitglieder – also der Ökonomie der Familie – bestimmen wollte.
3.9 Kulturentwicklung in Organisationen
Darüber hinaus sind wir überzeugt davon, dass größere soziale Systeme, also auch Unternehmen und Organisationen, ohne eine geeignete Kultur überhaupt nicht steuerbar sind (Schmid/Meyer 2010). Sie sind so komplex, dass der Versuch, alle Prozesse technisch kontrollierbar und lenkbar zu machen, die verfügbare Steuerungskompetenz und -kapazität um Dimension überschreiten würde. Größere soziale Systeme sind nur dadurch steuerbar, dass die handelnden Menschen verstehen, worauf es ankommt, wie Leistungen zu erbringen sind, wie man dabei mit sich und anderen umgehen soll, was zum Stil dieses Unternehmens gehört und was nicht. Dies klingt vielleicht wie ein Anspruch, ist aber eine Tatsache – auch wenn sie oft ausgeblendet wird.
Menschen gestalten Unternehmensprozesse – im Guten wie im Schlechten – mehr oder weniger bewusst in Selbststeuerung. Sie tun dies aus ihrem mehr oder weniger gepflegten Kulturverständnis heraus. Daher sehen wir in der Organisationskulturentwicklung eine entscheidende Dimension der Organisationsentwicklung. Erfahrungsgemäß sind Organisations- und Personalentwicklungsmaßnahmen nur dann hilfreich, wenn sie explizit oder implizit nachhaltig positive Wirkungen auf die Organisationskultur und über diese auf die Selbststeuerung der Menschen haben.
3.10 Die systemische Perspektive
Der Begriff »systemisch« markiert ein Wirklichkeitsverständnis und eine Haltung, aus der heraus Fragen gestellt und beantwortet werden. (Die vielfältigen Dimensionen des Begriffs »systemisch« sind an anderer Stelle abgehandelt, z. B. einführend von Klein/Kannicht 2007, Schmidt 2004.)
Hierzu gehören Grundannahmen, wie die grundsätzliche Überkomplexität und Unergründlichkeit beziehungsweise die letztendliche Unberechenbarkeit lebendiger Prozesse. Hierzu gehört die Metaperspektive, aus der Wirklichkeit nicht objektiv existiert, sondern diejenige des Betrachters ist und somit eine mehr oder weniger gemeinsam gestaltete Wirklichkeit der beteiligten Systeme darstellt. Auch wenn Fakten im Spiel sind, sind doch die Bedeutungsgebungen für die Selbststeuerung entscheidend. Daher sind Wirklichkeit und Wirksamkeit ohne die Lebenskultur der beteiligten Systeme nicht zu verstehen.
Systemische Betrachtungen machen immer wieder Klärungen notwendig, welche Aspekte der möglichen Wirklichkeiten wie einbezogen werden sollen, damit für die beteiligten Systeme sinnvolle Wirkungen entfaltet werden können. Man spricht von Rekursivität und Kybernetik verschiedener Ordnungen. Dies ist nicht ohne eine gewisse geistige Disziplin möglich. Dennoch darf das Gefühl für Konkretes und Lebendiges nicht verloren gehen.
Nicht zuletzt steht »systemisch« für Haltungen, die dem Leben und dem professionellen Handeln zugrunde gelegt werden, wie etwa Lösungsorientierung, Ressourcenorientierung, Offenheit gegenüber Unerwartetem und Würdigung der Vielfalt des Lebendigen. Daraus erwachsen schöpferische Gestaltungslust, Verantwortungsbereitschaft und beherztes Handeln gepaart mit professioneller Demut und Würdigung alles Lebendigen.
3.11 Persönliche Orientierung
Wie gerade beschrieben, geht es uns in diesem Buch vor allem um unser Selbstverständnis und unsere Kompetenzen an den Knotenpunkten zwischen Persönlichkeitskultur, Professionskultur, Organisationskultur und der Kultur des Wirtschaftens in unserer Gesellschaft. Dabei ist es uns ein Anliegen, die Zusammenhänge in ihrer Komplexität zu beschreiben.
Sie haben erfolgreich unseren Überblick durchstreift und wollen vielleicht nicht nur nebenbei, sondern ausdrücklich die aufgeworfenen Fragen auf sich selbst anwenden.
Daher möchten wir Sie einladen, mithilfe unserer Fragen herauszufinden, wo Sie sich selbst positionieren und welche der im Folgenden abgehandelten Dimensionen Sie im Augenblick mehr oder weniger beschäftigen und Fragen von Veränderungen aufwerfen könnten. Vielleicht gelangen Sie dadurch auch zu einem erweiterten Verständnis der Gesamtzusammenhänge.