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3. Aktion Bockwurst

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„Was war letzten Monat mit Ihnen los, Frau Stöhr? Wieder nur im Schnitt drei Fälle pro Tag!” Die Frage kam ärgerlicher raus, als ich es gewollt hatte. Wenn ich sie nicht gleich in Ruhe ließ, würde sie bestimmt wieder losflennen. Guckte schon so komisch auf ihre Fußspitzen.

„Olga hatte Durchfall. Da macht man sich halt Sorgen.”

Jetzt wurde ich sauer: „Frau Stöhr, auch wenn Ihre Siamkatze Durchfall hat: Team 3 erwartet von Ihnen nächsten Monat fünf Fälle am Tag. Ist das klar?”

Herr Goller sah Frau Stöhr entschuldigend an: „Hartmut, fünf Fälle ist ganz schön happig. Wie soll man das schaffen?”

„Das sagt der Richtige!” Mit dem Kuli tippte ich auf Gollers Namen. Alle Teammitglieder schauten angespannt auf die vor ihrer Nase aufgebaute Flipchart mit der monatlichen Rangliste.

„Goller, wieder mal die rote Laterne, nur 55 Fälle im Monat – das sind 2,5 am Tag! Und dabei sage und schreibe zwölf Einsprüche produziert. Das muss dir mal einer nachmachen!”

„Ich hatte letzten Monat dreimal Teamtelefon”, versuchte Goller sich zu rechtfertigen.

„Haben andere Kollegen auch und schaffen trotzdem ihre Arbeit”, zischte Meurer.

Lorenz, der Finanzanwärter, grinste schadenfroh. Goller lief rot an und duckte sich hinter Pitti Platsch. Tabea Pinne wurde von allen nur Pitti Platsch genannt. Passte auch viel besser zu ihrem Mickey-Mouse-Stimmchen und ihrer moppeligen Figur.

Noch war ich mit Goller nicht fertig. „Goller, einfach mal Haken dran und weg! Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte werden ab sofort nicht mehr mit dem Routenplaner abgecheckt. Ist das klar geworden?”

Nur Meurer nickte – es kam selten vor, dass er mir Recht gab. Meurer musste ich besonders im Auge behalten. Ständig zog er meine Anweisungen in den Teambesprechungen ins Lächerliche.Wahrscheinlich war er nur froh, dass Goller heute im Fokus stand. Seiner roten Birne nach zu urteilen, hatte er sein Blut bestimmt schon wieder zur Hälfte mit Mariacron verdünnt. Kaute ständig Kaugummi – als wenn er damit seine Fahne vertuschen wollte. Andererseits schaffte der Junge was weg, da konnte ich nicht meckern. Hauptsache seine Leber hielt noch ein paar Jahre durch und er wurde wegen seines Alkoholproblems nicht von ganz oben aus meinem Team entsorgt. Norbert Büschel, Teamfürst von Team 1, hatte seine Chance gewittert und letzten Monat Herrn Gümmersbach vom Präventionsrat eingeschaltet. Hinter meinem Rücken hatten sie Meurer bedrängt, sechs Wochen Kur einzureichen. Umstellung auf Jever alkoholfrei.

Aber da war ich gerade noch rechtzeitig dazwischen gegangen. Sechs Wochen Kur – das wäre das Ende von Team 3 gewesen. Büschel hatte sich schwarz geärgert.

Mit Frau Stöhr war ich auch noch nicht fertig: „Und Frau Stöhr, nicht ständig mit Frau Nullmeier aus Team 2 den Wohnweltkatalog durchstöbern. Kein Wunder, dass Ihre Schlagzahl nicht stimmt.”

Jetzt war ich zu weit gegangen. Erst zuckten ihre Mundwinkel, dann wurden ihre Augen feucht. Sie heulte von einer auf die andere Sekunde los: „Ich kann nicht mehr. Ich seh nur noch einen großen Berg!”

Die Männer sahen betreten zu Boden. Betroffen nahm Pitti Platsch Frau Stöhr in ihre dicken, weichen Arme: „Angie, was hast du denn? Ist doch alles nicht so schlimm.”

„Doch! Alles ist schlimm! Und es wird immer noch schlimmer”, schluchzte Frau Stöhr.

„Aber Frau Stöhr, wir sind doch ein Team!”, versuchte ich sie zu beruhigen.

Wieder brüllte sie los: „Nächste Woche ist Heiligabend, und …”

Pitti Platsch streichelte ihren Arm. „Und was? Du kannst es uns ruhig erzählen.”

Frau Stöhr nahm dankbar das ihr angebotene Taschentuch undsagte stockend: „Nun – ich hab’ doch erst drei Geschenke; und ich weiß nicht, ob ich es schaffe, noch die restlichen zu besorgen. Bei dem Stress habe ich einfach nicht den Kopf frei.” Erneuter Heulkrampf. Pitti Platsch nickte verständnisvoll. Sie setzte sich aufrecht hin und sah mich mit ihrer Pottschnitt-Dauerwelle pampig an: „Herr Schminke, so geht das nicht weiter! Wir müssen in unserem Team mal was machen – ’ne richtige Aktion meine ich.”

Alle nickten.

Die Kollegen hatten Recht. Die Luft war einfach raus. Mir kam eine Idee: „Ich könnte uns zu einer Einkommensteuer-Fachtagung anmelden. Jetzt wird gerade von der Oberfinanzdirektion ‚Neues vom Sonderausgabenabzug‘ angeboten.”

Entsetzt starrte mich Goller an. Pitti Platsch schüttelte energisch den Kopf: „Wir könnten doch mittags mal ’ne schöne Bockwurst essen. Ich könnte den Einkocher von Oma mitbringen.”

Alle waren begeistert! „Aktion Bockwurst” wurde einstimmig beschlossen und sollte am 23.12. stattfinden.

Vielleicht war ich wirklich ein bisschen übers Ziel hinausgeschossen. „Ich bezahle Senf und Ketchup”, bot ich mich großzügig an, „Herr Meurer, Sie sind für den Einkauf zuständig. Lorenz fragt ab, wie viele Würste jeder essen möchte und Tina kümmert sich darum, die Würstchen heiß zu machen.” Tina rümpfte die Nase: „Die Dinger fasse ich nicht an! Ich hole mir lieber einen Salat von Mc Donald’s.”

Das fing ja gut an! Ich wollte schon auf Tina losgehen, aber Goller kam mir zuvor: „Ist schon okay, Hartmut. Ich kümmere mich um die Bockwürste. Hab zwar so was noch nie gemacht, aber wozu gibt’s denn Chefkoch.de.”

Uns blieb nur noch etwa eine Woche. Ich ahnte, dass wir als Team an unsere Grenzen stoßen würden.

Meurer kam am Mittwoch aufgeregt in mein Büro und beschwerte sich über Lorenz: „Hartmut, glaubst du es denn, der Bengel hat mir immer noch nicht durchgegeben, wie viele Bockwürste ich besor­gen soll! Diese Handy-Generation kriegt nichts mehr gebacken.” Meurer hatte Recht. Na, der konnte was erleben!

Geladen öffnete ich die Tür zum Anwärterbüro. Lorenz saß auf der Fensterbank und löffelte in aller Seelenruhe einen Joghurt. Sein Schreibtisch war blank. Nichts! Nicht mal ein aufgeschlagenes Steuergesetz lag dort. Drei Jahre Ausbildung – und was kam dabei heraus? Wir hatten früher immer zur Tarnung die Eingeweide einer Steuererklärung auf dem Schreibtisch liegen. War Pflicht. Lernte man in der ersten Woche. Da konnte selbst der Vorsteher jederzeit unangekündigt ins Büro schneien.

„Sag mal, Junge”, fuhr ich ihn an, „das sind ja schöne Sachen, die ich da von dir höre!” Lorenz glotzte mich gleichmütig an und leckte genüsslich den Löffel ab. Frechheit!

„Herr Meurer hat mir gerade erzählt, dass du bei ihm noch nicht die Bestell-Liste für die Bockwürste abgeben hast”, blaffte ich.

„’Tschuldigung, Herr Schminke, aber die Kollegen können sich nicht entscheiden. Frau Stöhr hat von Frau Nullmeier gehört, die Grobe ist zu grob. Da ist sie jetzt unsicher geworden. Und Pitti Platsch weiß nicht, ob sie eine mit Kräutern oder eine ohne alles nehmen soll.”

„Wir nehmen ohne alles und für alle das Gleiche”, entschied ich und trieb damit das Projekt entscheidend voran.

Mittwoch, 23.12. Ich traf Meurer in der Teeküche. „Hartmut, stell dir vor: Goller will die Würste schon eine Stunde vorher in den Einkocher legen! Er meint, sie werden sonst nicht heiß. Aber da mache ich nicht mit!”

Die Tür flog auf. Goller kam aufgebracht mit einer weißen Plastiktüte herein, durch die sich die Bockwürste abzeichneten.

„Hartmut, misch dich ja nicht ein, sonst spül ich die Dinger eigenhändig in der Toilette runter!”

Da gehörte schon was dazu, wenn Goller sich so aufregte. Selbst als seine Gerda zwei Wochen zu ihrer Mutter abgehauen war, hatte er sich nichts anmerken lassen.

Nach einer halben Stunde war es mir gelungen, einen Kompromiss auszuhandeln: Meurer sollte seine Wurst in den letzten neun Minuten in den Topf legen. „Und wie wollen Sie Ihre Wurst im Auge behalten?”, fragte Goller Herrn Meurer skeptisch. „Kein Problem”, meinte Meurer, „ich bringe hinten am Zippel eine Büroklammer an.”

Konnte ich mir zwar nicht vorstellen, dass das klappen sollte, aber egal. War jetzt sein Problem.

Um 12:30 Uhr sollte gegessen werden. Bereits eine Stunde vorher saßen alle um den Einkocher herum, ein monströses Teil, fast so groß wie eine Gulaschkanone. Gespannt verfolgten wir, wie Goller Wurst für Wurst vorsichtig ins Wasser ließ. Er ging dabei so bedächtig vor, als handelte es sich um Neutronenbomben. Meurer saß vor seiner präparierten Bockwurst und prüfte den Sitz der Büroklammer. Gebannt schaute er auf die Uhr. Um Punkt 12:21 Uhr ließ er seine Bockwurst eigenhändig zu Wasser. Goller grunzte verächtlich.

12:30 Uhr. Meurers Funkuhr piepte dreimal. Sofort sprang er auf, stellte sich neben den Topf und stierte hinein, als sei gerade ein Nichtschwimmer hineingesprungen. Auffordernd schaute er Goller an: „Nehmen Sie jetzt die Würste aus dem Topf!” Goller blieb sitzen. „Noch zwei Minuten.”

Jetzt zitterte Meurers Stimme: „Herr Goller, geben Sie mir jetzt meine Wurst!” Alle hielten die Luft an. Goller blickte immer noch trotzig in den Topf. Der Knabe konnte verdammt bockig sein.

War es meine Aufgabe als Teamfürst einzugreifen? Zum ersten Mal hatte ich Mitleid mit Axthammer, der täglich genötigt war, Personalentscheidungen zu treffen. Von mir hing jetzt alles ab. Beschwörend sagte ich: „Goller, gib Meurer sofort seine Bockwurst.”

Er rührte sich immer noch nicht. Dann – unendlich langsam und so, als wolle er es sich noch einmal anders überlegen – griff Goller mit der Zange in den Topf und angelte nach der Wurst mit der Büroklammer. Dann die Katastrophe! Noch über dem Topf glittihm die Bockwurst aus der Zange und flutschte wie ein Goldfisch zurück ins Wasser.

Alle waren aufgesprungen und starrten ins heiße Wasser, in dem sich ein gutes Dutzend Brühwürste tummelte. Auf dem Grund des Topfes schwamm die Büroklammer.

„Goller, jetzt tun Sie doch endlich was, Sie Nulpe!”, schrie Meurer Goller an.

„Da!”, Meurer deutete auf eine Bockwurst, die auf dem Grund des Einkochers schwamm.

„Nee, nee, die ist das nicht.” Goller in seiner drögen Art machte keine Anstalten nach der Wurst zu angeln.

„Doch! Ganz bestimmt. Meine Wurst hatte in der Mitte Pigmentstörungen.” Goller rührte mit der Zange im Wasser herum. „Da oben!” Lorenz deutete belustigt auf eine Wurst, die gerade Auftrieb bekommen hatte: „Voilá! Die Wurst mit den Pigmentstörungen.”

„Goller, Zugriff”, schrie ich ihn an. Jetzt hatte er sie, hielt sie triumphierend über unsere Köpfe und legte sie auf einen Pappteller. Meurer nahm die Wurst in die Hand. Alle starrten ihn an. Er biss in die Wurst. Sie knackte nicht. Meurer nickte zufrieden und log: „Genau richtig.”

Kurz vor 17:00 Uhr war endlich alles wieder aufgeräumt. Nun konnte es weihnachtlich werden. In meinem Büro zündete ich eine Kerze an, hörte Radio und packte meine Aktentasche. Der Wiener Knabenchor sang gerade: „Oh du Fröhliche”. Feierlich stimmte ich in den Refrain ein: „Freue dich, oh Christenheit.” – ‚Aktion Bockwurst‘ war ein voller Erfolg!

Jetzt noch schnell den Computer herunterfahren. Vorher ein schneller Blick in die Monatsstatistik – was war denn das? Bearbeitungsstand der erledigten Steuererklärungen am 23.12.: 75,3 Prozent. Das konnte nicht sein! Alle übrigen Teams hatten ein besseres Ergebnis. Selbst Team 1 hatte es auf 83,5 Prozent gebracht! Und die hatten wirklich die letzten Schnecken an Bord. Musstensogar Herrn Wellhausen mit durchziehen, der montags und freitags immer krank machte.

Wie konnte das passieren? Hektisch sah ich bei Goller nach. Gerade mal acht Fälle hatte er in den letzten zwei Wochen erledigt. Der Einlauf neulich hatte überhaupt nichts gebracht. Goller hatte stundenlang im Internet gesurft, um auch ja alles richtig zu machen. Mit Johann Lafer persönlich hätte er telefoniert, um noch einen Tipp für die perfekte Bockwurst zu bekommen, hat er irgendwann in der Kaffeerunde stolz erzählt.

Meurer, die Rakete, hatte auch nur 14 Fälle abgegeben. Kein Wunder, wenn man von sieben Schlachtern Vergleichsangebote einholt und alle Betriebsprüfungsakten von geprüften Imbissbuden nach Wiegeprotokollen durchsucht. Die dicksten Bockwürste verkaufte sowieso meine Frau Britta in unserem Imbiss. Hätte ich ihm gleich sagen können.

Es gab nur noch eine Möglichkeit die Statistik zu retten: Aus dem Auto holte ich zwei Faltboxen und packte sie randvoll mit unbearbeiteten Steuererklärungen. Über Weihnachten würde ich sie zu Hause eingabegerecht vorbereiten und am 30.12. kurz vor Statistikschluss im Amt in den PC hacken. Noch gab ich mich nicht geschlagen.

Die Zecke auf Abwegen

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