Читать книгу GENAU INS GLÜCK - Oder knapp daneben - Bernhard Bohnke - Страница 5
3 ICH DENKE POSITIV, ALSO BIN ICH POSITIV
ОглавлениеAm Abend machte Stefan es sich mit dem Buch "Die Superkraft Positiven Denkens" bequem. Der Autor hieß "Montag". Das war ein bisschen enttäuschend. Für den Autor eines solchen Werkes hätte besser der Name "Sonntag" gepasst, oder "Samstag", notfalls auch "Freitag". Aber "Montag"? Da dachte man spontan: "Schade! Das Wochenende ist vorbei." Doch davon durfte man sich nicht abhalten lassen.
Montag begann mit dem Satz: "Wenn Sie sagen: Dieses Buch bringt mir Erfolg, sprechen Sie die Wahrheit. Und wenn Sie sagen: Dieses Buch bringt mir keinen Erfolg, sprechen Sie ebenfalls wahr." Stefan schüttelte den Kopf. Das klang reichlich widersprüchlich. Aber Montag lieferte sofort die Erklärung. Entscheidend ist, dass man an den Erfolg des Positiven Denkens glaubt, nur dann funktioniert es. - Wenn das so ist, sagte sich Stefan, dann glaube ich doch lieber an den Erfolg als an den Misserfolg, denn ich will ja erfolgreich werden.
Der Autor erläuterte weiter: Positives Denken bewirkt positive Gefühle und Handlungen, negatives Denken bewirkt negative Gefühle und Handlungen. Und Montag gipfelte in der Behauptung:
"Der berühmte Philosoph Descartes sagte: 'Ich denke, also bin ich.'
Ich aber sage. 'Ich denke positiv, also bin ich positiv.'
Das ist viel positiver als Descartes' Ausspruch."
Die meisten Menschen denken negativ, schalt Montag. Um Unglück gegen Glück einzutauschen, brauchen Sie aber nur ihre negativen Gedanken durch positive zu ersetzen. So einfach ist das.
Nun kam eine Überraschung: Das wirklich Wichtige am sogenannten Positiven Denken ist gar nicht das Denken. Denn des Gedankens Blässe reicht nicht aus, um irgendetwas zu verändern. Erst muss der graue Gedanke versinnlicht werden, durch eine Vermählung mit der Phantasie, indem er durch bunte innere Bilder anschaulich und plastisch wird. Positive Vorstellungen sind gefragt.
Es genügt zum Beispiel nicht, einfach zu denken: Ich werde glücklich. Sondern man muss sich in allen Einzelheiten vor seinem inneren Auge ausmalen, wie man als glücklicher Mensch lebt: strahlendes Lächeln im gut gebräunten Gesicht, körperlich vor Gesundheit strotzend, von freundlichen oder gar bewundernden Menschen umringt, am besten noch neben einem Nobelschlitten.
Das schlichte deutsche Wort "Vorstellung" reichte allerdings kaum für ein solches farbenprächtiges inneres Gemälde. Gottseidank gab es ein wohltönendes Fremdwort: Imagination. Dieser Wortklang beflügelte von sich aus schon die positiven Gedanken.
Zwar fühlte Stefan große Lust, die Glücks-Imagination sofort auszuprobieren. Aber er hatte sich ja die Finger oder besser den Mund schon einmal dadurch verbrannt, dass er zu früh und zu schlecht vorbereitet in die Praxis gesprungen war; diesmal wollte er sich erst genauer und umfangreicher informieren. Neugierig griff er daher zu dem nächsten Buch, obwohl er mit Montag noch nicht ganz fertig war.
Er wählte: "Mind Power" von einem Autor namens Pill. Mr. Pill war unverkennbar Amerikaner und sein Buch unverkennbar amerikanisch. So amerikanisch, dass der Verlag auch in der deutschen Übersetzung viele Amerikanismen stehen gelassen hatte. Das fing schon mit dem Titel an: "Mind Power" statt "Geisteskraft". Oder z. B. "Visualisation" für "Vorstellung" und natürlich auch "Positive Thinking“ anstatt „Positives Denken“.
Pill forderte den Leser auf: "Don't worry, be happy!" Es ist sinnlos, sich Sorgen zu machen, das führt zu nichts. "Take it easy!" Jeder kann Erfolg haben - "the american dream". Allerdings muss man schon etwas für sein Glück tun, nämlich positiv denken. So wird man vom Tellerwäscher zum Millionär, so erreicht man den "american way of life".
Stefan blieb etwas skeptisch, ob der amerikanische Lebensstil wirklich verlange oder sogar darin bestehe, Millionär zu sein. Schließlich war bekannt, dass Millionen Amerikaner an oder unter der Armutsgrenze lebten. Aber solche Ausführungen passten wohl nicht in ein Positiv-Buch. Da las sich doch viel besser die "Story" von Herrn N. V. aus L. in N. Herr N. V. war der personifizierte Misserfolg: miese Gesundheit, mieser Job, miese Laune, mieses Auto und auch miese Ehefrau. Kein Wunder, dass er da auch selbst ein Miesling war! Dann lernte er durch ein Buch von Pill, seine "mind power" einzusetzen. Er "visualisierte", wie er bei bester Gesundheit, als Chef eines Unternehmens, in strahlender Laune, einen Super-Cadillac fuhr, neben sich seine (neue) bildhübsche, charmante Gattin.
Und jede dieser Visualisationen ging in Erfüllung, wie Pill in einer Vorher-Nachher-Gegenüberstellung demonstrierte. Vorher, vor dem Positiven Denken, vor dem Lesen des Buches von Pill, war N. V. in allem am Ende. Aber nachher, nach dem positiven Denken und Lesen, da galt: Ende gut, alles gut. Dabei war von großer Bedeutung, dass N. V. sich die gewünschten Veränderungen mit äußerster Genauigkeit und Detailfreude vorstellte. Es hätte
keineswegs genügt, wenn er nur an irgendeinen Cadillac gedacht hätte. Sondern er berücksichtigte jede Einzelheit, z. B. die Länge der Antenne, die Farbe der Sicherheitsgurte, die Auswahl der Stationstasten am Radio usw. usw. Und nach Ratschlag von Pill beschränkte er sich auch nicht auf optische Imaginationen. Er phantasierte, wie sich das Zuschnappen der Türen anhörte, wie sich der Lack mit den Fingerspitzen anfühlte, ja sogar, wie edel die wertvollen Lederpolster rochen. Denn Mind Power arbeitete nur, wenn es genaue Informationen erhielt; nur dann konnte es die inneren Bilder in äußere Wirklichkeit umsetzen.
Stefan rauchte der Kopf von so viel Positivem Denken. Trotzdem wollte er wenigstens noch einen Blick in "Die unendliche Megastärke des Megabewusstseins" werfen, so gespannt machte ihn der Titel. Aber das Buch gab sich reichlich kompliziert, fast wie ein Computer-Lehrbuch. Er kapierte zunächst nur soviel, dass man negative Gedankenprogramme löschen musste und neue, positive einspeichern.
Dieser staubtrockene Stoff ließ seine Müdigkeit zu einem unüberwindbaren Monster anwachsen, die Augenlider hingen ihm schwer wie Kohlensäcke runter. Er beschloss, für heute genug getan zu haben und ging zu Bett.
In der Nacht träumte er, in einem riesigen offenen Cadillac zu fahren. Die Straßen standen voll von Menschen, die ihm zujubelten und ihn als "Mr. Happy" feierten. Auf dem Nebensitz saß Pill und forderte ihn unablässig auf, allen Leuten zuzurufen, dass er den Erfolg allein dem Lesen von seinen, Pills Büchern verdanke. Schweißgebadet wachte Stefan am nächsten Morgen auf und fühlte sich halb enttäuscht, halb erleichtert, dass dieser Wunsch-Alptraum vorbei war.
Sein Mund hatte inzwischen wieder völlig zur Normalform zurückgefunden, und so fuhr er ins Büro, ohne Spott oder - noch schlimmer - Mitleid befürchten zu müssen. Lästermaul Alf ließ es sich natürlich nicht nehmen, ihn dennoch mit "Hallo Schiefmaul" zu begrüßen. Blitzschnell kam Stefan der Gedanke: "Sei selbstbewusst, sei mutig!" und er antwortete "Hallo Ekel". Alf fiel die Kinnlade runter, denn so direkt hatte ihn noch keiner mit seinem Spitznamen angeredet. Anscheinend war er im Austeilen viel besser als im Einstecken; jedenfalls verstummte er erst einmal, was Stefan als Sieg für sich buchte. So hatte er den Eindruck, mit der Methode des Positiven Denkens erstmals einen Erfolg errungen zu haben. Natürlich war das nur ein Minierfolg, keine "klassische", keine bedeutende Anwendung des Positiven Denkens, aber immerhin. Befriedigt ging er zu Dr. Locke herüber. Der starrte auf Stefans Mund und schaute dann seinerseits sehr zufrieden.
"Aha, wieder alles geschlossen."
Ja, ich hatte eine ... " - Stefan wollte nichts einfallen - "eine Zahngrippe."
Zahngrippe?" fragte Locke und ließ jetzt selbst den Mund offen stehen.
Stefan wandt sich: "Ich hatte mir den Mund erkältet und ... "
Der Gruppenleiter guckte ungläubig, aber er war offensichtlich entschlossen, sich seine Zufriedenheit nicht durch einen Zweifel wieder rauben zu lassen. "Was es nicht alles gibt", sagte er mit verbindlichem Nicken.
Stefan begab sich an seine Arbeit, aber er war nicht richtig bei der Sache. Immer wieder dachte er an sein Positiv-Programm und was er damit alles erreichen wollte. So wartete er schließlich sehnsüchtig darauf, dass Feierabend war. Früher ging er oft ungerne nach Hause, jedenfalls wenn er für den Abend kein Ausgehen oder Treffen geplant hatte. Aber jetzt fieberte er fast darauf, sich wieder in seine Positiv-Welt zu versenken.
Kaum zu Hause, krabbelte er auf seinen Fernsehsessel, lehnte sich zurück, nein, schaltete nicht den Kasten an, sondern den Kopf: Was habe ich aus den bisherigen drei Büchern gelernt?
Gut, jeder Autor beleuchtet das Thema von einem anderen Blickwinkel aus, doch im Grunde sagen sie alle das gleiche: Der Mensch ist Meister seines Lebens. Wenn er negativ denkt, erleidet er Misserfolg; aber er kann positiv denken und wird so erfolgreich. Wie hieß noch dieses Sprichwort? Richtig: "Jeder ist seines Glückes Schmied."
Diesen Spruch kannte Stefan allerdings zur Genüge. Er hörte ihn als Kind fast täglich von seinem Vater, der ein Oberlehrer war, nicht nur von Beruf, sondern leider auch als Vater. Stefans Mutter, ebenfalls Lehrerin, war gleichermaßen positiv, scheinbar. Denn als Stefan älter wurde, hatte er gemerkt, dass die gute Laune der Eltern oft nur aufgesetzt war, eine Fassade, hinter der sich manches Dunkle wie Ehekonflikte und Depressionen verbarg.
Als Stefan auf des Vaters Lieblingsspruch einmal mit dem Gegensprichwort "Die dümmsten Bauern ernten die dicksten Kartoffeln" reagierte, war der Vater fast ausgerastet und hatte sich diesen "Negativismus" lautstark verbeten.
Heute war das Verhältnis zu den Eltern ziemlich unterkühlt, man sah sich nur selten, zu besonderen Anlässen. Die Eltern hatten erwartet, dass Stefan - ihr einziges Kind - außerordentlich erfolgreich sein würde und waren mit seinem tatsächlichen Leben und erst recht seinem Beruf sehr unzufrieden. Er wiederum war es leid, sich von den Eltern ständig Vorhaltungen und Ratschläge anzuhören.
Stefan überlegte weiter: Gut, meine Eltern haben damit Recht gehabt, dass eine positive Lebenshaltung wichtig ist. Aber sie haben nicht wirklich die Bedeutung des Positiven Denkens begriffen. Vor allem haben sie es dilettantisch, laienhaft betrieben, nicht so systematisch und professionell wie ich. Sie werden noch erleben, wie ich sie mit meinem Erfolg weit übertrumpfe. Und dann wird es ihnen leid tun, dass sie mich so unterschätzt haben.
Stefan beschloss, jetzt gleich sein erstes positives Meisterstück abzuliefern. Nach den gründlichen Vorbereitungen fühlte er sich gerüstet, das Erlesene und Erlernte praktisch auszuprobieren und anzuwenden. Als Versuchskaninchen für den ersten Testlauf war ihm seine schöne Nachbarin Nicole Frohwein gerade recht. Mit seiner normalen Ausstrahlung war er bei ihr keinen Schritt weitergekommen. Sie hatte zwar bei einer weiteren Begegnung im Treppenhaus seinen Gruß erwidert, aber ohne jede Begeisterung und ohne irgendeine Bereitschaft erkennen zu lassen, den Kontakt über ein nachbarschaftliches Pflichtgrüßen hinaus zu erweitern. Doch jetzt würde er seine neue positive Strahlung auf sie richten, sie gezielt mit seiner Tiger-Super-Mega-Mind-Power ''beschießen'', da konnte sie sicher nicht widerstehen.
Zunächst musste er sich natürlich die gewünschte Situation vor seinem inneren Auge ausmalen, am besten wie einen Film im geistigen Heimkino ablaufen lassen.
Also: Sie kommt die Treppe herunter, in diesem offenherzigen roten Kleid, das sie so weiblich macht.
Er steht vor seiner Wohnungstür, lächelt ihr zu und fragt: "Frau Frohwein, haben Sie sich schon gut in unserem Haus eingelebt?" Mit dem "unser" wäre eine erste Verbindung zwischen ihnen hergestellt.
Darauf musste sie einfach antworten, etwa mit "Ja, denn es gibt so nette Menschen hier."
Er fährt fort: "Ich betrachte es als eine Selbstverständlichkeit, eine neue und auch noch so charmante Mitbewohnerin mit einem kleinen Umtrunk in meiner Wohnung zu begrüßen."
Was danach kam, wollte Stefan erst einmal offenlassen. Er fühlte sich noch nicht versiert genug, die Zukunft weiter vorwegzudenken bzw. herbeizudenken. Aber die Treppenszene spielte er immer wieder in seiner Vorstellung durch, wobei er sie mit zusätzlichen liebevollen Details ausschmückte. Am Abend legte oder genauer stellte er sich hinter seiner Wohnungstür auf die Lauer.Er hatte schon zweimal erlauscht, dass sie oft am Abend gegen 20 Uhr das Haus verließ (hoffentlich steckte da kein Mann dahinter!). Vielleicht hatte er Glück, und sie kam wieder um die gleiche Zeit. Und er hatte Glück, so schien es ihm, jedenfalls kam sie exakt um 20:11 Uhr die Treppe herunter. Er kannte inzwischen ihren Schritt. Also dann: Stefan holte tief Luft, pumpte sich positiv auf und trat vor die Tür.
Leider trug Nicole nicht das warmherzig wirkende rote Kleid, sondern einen eisblauen, Kühle verbreitenden Hosenanzug. Und leider brachte er sein Sprüchlein auch nicht so strahlend hervor wie in seiner Phantasieübung, sondern stockend, ehrlich gesagt fast stotternd. Und leider konnte er ihr zunächst nicht ins Gesicht schauen, sondern nur auf die Beine. "Frau Frohbein, Entschuldigung Frohwein. Haben Sie sich schon gut in dem Haus eingelebt?" Dummerweise vergaß er das verbindende "unser". "Eingelebt? Es geht. Mancher Mitbewohner macht es einem nicht so leicht." Sprach's und rauschte die Treppe runter. Stefan hatte zwar noch etwas sagen wollen, aber nichts rausgebracht.
"Mancher Mitbewohner." Ob sie ihn damit meinte? Vielleicht, nein bestimmt. Sie mochte ihn eben nicht. Und da half auch das Positive Denken nicht. Wieder in seiner Wohnung, schmiss er die Positiv-Bücher wütend auf den Boden. Das war doch alles nur eine verdammte Gedankenwichserei. Wahrscheinlich stimmte der Ausspruch: "Die wahren Abenteuer sind im Kopf." In der Phantasie, da konnte er sich die schönsten Erlebnisse schaffen, da war er wenigstens weitgehend - Meister seiner Welt. Aber die Umsetzung in die Realität klappte nicht, die Wirklichkeit bequemte sich kaum, seinen Vorstellungen zu folgen. Stefan ahnte nicht, dass ihm ein Erfolg nahe bevorstand. Allerdings was für ein Erfolg ...
Als er am nächsten Morgen ins Büro kam, begrüßte ihn seine Kollegin Frau Redlich mit ungewohnter Freundlichkeit: "Guten Morgen, Herr Glanz, haben Sie gut geschlafen?" Offensichtlich versuchte ihre Stimme, sich aus der gewohnten nörgeligen Tonlage bis zu einem Flöten zu erheben; der erreichte Kompromiss war ein etwas heiseres Piepsen. Stefan nickte nur kurz. Denn er war erstens schlecht gelaunt, zweitens in Grübeleien versunken und drittens überhaupt nicht an Frau Redlich interessiert.
"Ich habe Ihnen schon Kaffee gemacht, aus meiner Dose, Sie wissen, die 'Krönung'." Jetzt schreckte Stefan auf. Frau Redlich hütete ihren Kaffee wie einen Schatz. Nie gab sie davon ab, im Gegenteil, sie verdächtigte ständig jemand anderen, sich an ihrem Heiligtum vergriffen zu haben. Irgendetwas musste in der Frau vorgehen. Stefan guckte sie an. Die Redlich war sichtbar aufgeregt, was sie aber nicht unbedingt hübscher machte, vielmehr zu roten Flecken oder fleckiger Röte auf ihrem Gesicht geführt hatte. Das hätte immerhin zu ihren roten Haaren passen können, aber die beiden Rottöne harmonierten nicht. Nun, für ihr Aussehen konnte sie nichts, vielleicht auch nichts für ihre zickige Art.
"Wahrscheinlich besitzt sie verborgene menschliche Werte", versuchte Stefan sich selbst zu überreden, um etwas freundlicher zu werden. Frau Redlich begann, ihm Komplimente zu machen. Im Grunde hörte er die gerne, aber von ihr waren sie ihm unangenehm. Deshalb fühlte er sich gegen seinen Willen gezwungen zu widersprechen.
- Herr Glanz, Sie sind wirklich der fleißigste Sachbearbeiter bei uns. So schnell wie Sie ist sonst keiner.
- Aber nein, der Alfred arbeitet schneller. Der schafft mindestens fünf Fälle mehr als ich am Tag.
- Na ja der, der macht auch keine sorgfältige Arbeit. Und ist überhaupt ein ziemlich ungehobelter Mensch.
Aber Sie sind noch ein Kavalier der alten Schule.
- Sagen Sie das nicht. Wenn ich alleine bin, fluche ich manchmal furchtbar.
- Aber bestimmt nicht in Gegenwart einer Dame. So ein gutaussehender Herr wie Sie.
- Ich bin doch leider viel zu dick.
- Aber gar nicht. An so einem hageren Mann ist gar nichts dran. Sie haben eine Traumfigur.
- Da haben Sie wohl recht, Frau Redlich.
Bei diesem wunden Punkt konnte Stefan sich einfach nicht zu einem Widerspruch durchringen.
- Sehen Sie! Aber sagen Sie doch nicht immer Frau Redlich zu mir. Einfach Elfriede.
Erst jetzt wurde Stefan völlig klar: Elfriede Redlich hatte sich in ihn verliebt. Es lief ihm kalt über den Rücken. Was wollte diese Frau von ihm? Erstens, sie war wohl wesentlich älter als er. Ihr genaues Alter hatte sie verheimlicht, die Schätzungen im Büro gingen von 43 bis 49, Alf tippte sogar auf 53. Zweitens war sie absolut nicht sein Typ. Und wie konnte diese spröde Frau sich über Nacht in ihn verlieben? Das konnte doch kein Zufall sein. Plötzlich durchzuckte es ihn wie ein Blitz. Natürlich, es lag am Positiven Denken, an seiner neuen Ausstrahlung. Aber was war da schief gelaufen? Die Kraft sollte ja auf Nicole wirken, an Elfriede hatte er nun wirklich nicht gedacht. Immerhin zeigte es ihm, dass das Positive Denken doch wirkte, überhaupt etwas veränderte. Nur die Ausrichtung seiner Strahlen war leider voll daneben gegangen.
Frau Redlich kam an diesem Tag mehrfach unter irgendwelchen Vorwänden in Stefans Zimmer. Das fiel natürlich auch seinem Zimmerkollegen Alfred auf. "Na, eine neue Eroberung gemacht?" höhnte er. "Gratuliere. Volltreffer! Der Candidus hat 100 Punkte. Ihr passt bestens zusammen. Ein echtes Traumpaar." Stefan schluckte. Aber er wusste nicht, wie er dieses Lästermaul stopfen konnte. So litt er schweigend heroisch, bis ihn der Feierabend erlöste.
Heute eilte er noch schneller als sonst nach Hause, zu seinem "Denk-Sessel", wie er ihn inzwischen nannte. Wie konnte er den Nachstellungen von Elfriede - nein, er wollte sie nicht beim Vornamen nennen -, von Frau Redlich entkommen? Ihm fiel das Mega-Computer-Buch ein. Er musste das Redlich-Programm schnellstens löschen, das war klar. Aber über die richtige Vorgehensweise fühlte er sich unsicher. Wenn der Erfolg bei Frau Redlich auch unerwünscht war - Stefan schüttelte sich -, es blieb doch ein Erfolg. Also brauchte er einen Misserfolg. Aber konnte man mit dem Positiven Denken überhaupt einen Misserfolg erzielen?
Oder brauchte er dafür ein Negatives Denken? Wie auch immer. Er würde sich eine Szene mit Frau R. - am liebsten sprach er nicht einmal den Nachnamen aus - ausmalen, in der sie sich entsetzt von ihm abwandte. Gesagt getan bzw. gedacht. Stefan stellte sich vor, er führte mit Alf ein richtig fieses Machogespräch, von dem Frau R. Zeugin wurde.
Alf legte los:
- Na Alter, sag bloß, du grabschst jetzt an der Redlich rum. Willst du diese Ziege etwa bumsen?
(Frau R. will gerade in die halb geöffnete Tür treten, schreckt aber zurück.)
- Gott bewahre, ich bin doch kein Mumienschänder. Es macht mir nur Spaß, die Olle was hochzunehmen.
(Frau R. läuft rot an.)
- Trotzdem, du ruinierst dir deinen Mackerruf, wenn du dich mit dieser Schreckschraube abgibst.
(Frau R. hält die Luft an. Sie zittert.)
- Aber ich habe spitz gekriegt, die hat ordentlich was auf die hohe Kante gebuttert.
Da will ich richtig absahnen, Kassenmann machen, und dann heißt es "Bye, bye, Baby".
(Frau R. platzt vor Wut und platzt ins Zimmer. Mit schriller, überschnappender Stimme schreit sie.
"Mit mir nicht, Sie amoralisches Subjekt! Welch ein Abgrund von Schlechtigkeit!
Sie sind meiner Zuneigung nicht wert!")
Stefan atmete tief durch. Das war anstrengend gewesen, schon im Kopf. Real könnte er diese Szene sowieso nicht inszenieren und durchstehen. Aber vielleicht reichte es ja, sie nur zu denken. Das Telefon klingelte. Es würde doch wohl nicht sie sein, Elfriede? Ob seine Gedankenübung genau die umgekehrte Wirkung ausgelöst hatte, die Redlich - sogar telepathisch - angezogen, anstatt abgestoßen hatte? Aber sie würde wohl doch nicht so weit gehen, ihn zu Hause anzurufen, da er ihr, zwar durch die Blume, dennoch deutlich klargemacht hatte, dass er ihre Gefühle keineswegs erwiderte.
Er raffte sich auf und ging ans Telefon. Es war Marius, der männliche Teil eines befreundeten Ehepaares, Maria und Marius. Die beiden sahen aus wie das Traumpaar des deutschen Films: er ein schwarzhaariger, muskulöser Beau, sie eine blonde Schönheit mit Idealmaßen. Leider nur passten ihre Charaktere gar nicht zu den Vorstellungen von einem Traumpaar. Marius war meistens deprimiert und jammrig, außer wenn er seine Fotos, Dias, Videos und seit neuestem DVDs aus dem Urlaub vorführte; da ging er wirklich aus sich raus. Allerdings gingen spätestens nach zwei Stunden die entnervten Zuschauer raus, aus dem Vorführraum. Maria sah zwar aus wie ein Engelchen, hatte aber Haare auf den Zähnen. Sie kritisierte bissig an allem herum, am liebsten an Marius.
"Tag Stefan, geht's dir auch so schlecht wie mir? Wir haben lange nichts mehr voneinander gehört." Das stimmte. Seit der Trennung von Angela hatte er sich von seinen Freunden und Bekannten etwas zurückgezogen, um mitleidigen oder nur Mitleid vortäuschenden neugierigen Fragen zu entgehen. Und jetzt im Moment war er eben ganz auf sein großartiges Positiv-Programm konzentriert, da mussten Kontakte einfach zurückstehen. Einen Augenblick überlegte er, Marius vom Positiven Denken zu erzählen. Wenn es einer gebrauchen konnte, dann der. Und Maria ebenso. Aber dann ließ er das doch lieber. Denn er war leider Gottes noch wenig versiert und erfolgreich im Positiven Denken, so dass ihn abfällige Bemerkungen darüber verunsichern konnten.
Auch in den Büchern wurde gewarnt, überhaupt oder jedenfalls zu früh das eigene Positiv-Programm auszuplaudern. Montag schrieb: "Denke Gutes, aber sprich nicht darüber!" Stefan entschuldigte sich daher am Telefon mit beruflicher Überlastung, versprach jedoch, sich bald wieder zu melden. Er ließ sich in den Sessel zurückfallen und sann noch einmal über seine bisherigen Erfahrungen mit dem Positiven Denken nach:
Von Erfolgen kann ich wirklich kaum sprechen, allenfalls von unerwünschten, wie bei der unglückseligen Elfriede Redlich. Offensichtlich genügt es bei mir einfach nicht, nur die eigene psychische Kraft zu aktivieren, sondern ich muss die gewaltige kosmische Urkraft anzapfen. Mit der Allmacht des Alls werde ich alles erreichen, allzeit und überall.
Wichtiger als alles zu erlangen, war ihm aber erst einmal, Nicole zu erlangen. Ohne Kraftschub von oben traute er sich nur nicht, sie nochmals anzuquatschen. Doch mit der universalen Kraft im Rücken bzw. im Kopf würde er bestimmt mühelos eine erstklassige Anmache abliefern.