Читать книгу GENAU INS GLÜCK - Oder knapp daneben - Bernhard Bohnke - Страница 6

4 DER KOSMOS GEHÖRT MIR

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Am nächsten Tag hatte Stefan sich frei genommen. Er brauchte eine Büro-Pause, d. h. eine Redlich-Pause. Schon morgens um 9 Uhr ging er zu der Buchhandlung Harmonia, wo er seine ersten Positiv-Bücher gekauft hatte. Die Buchhändlerin erkannte ihn sofort wieder.

Mit leicht verschwörerischem Blick fragte sie leise: "Na, hat es Ihnen schon etwas gebracht mit dem Positiven Denken?"

"Es geht so", murmelte Stefan etwas verlegen. "Ich möchte aber noch den Kosmos kaufen." Er stutzte und wurde noch verlegener. "Sie wissen schon: das Buch 'Der Kosmos gehört mir'." Nervös zupfte er sich mit der lin-

ken Hand am rechten Ohrläppchen - ein Tick, den er von seinem Vater übernommen hatte.

"Sie meinen: 'Der Kosmos gehört dir'."

"Natürlich! Ob mir oder dir, das ist ja wohl egal", antwortete Stefan ärgerlich, aber im Grunde froh, dass ihm die Verärgerung aus der Verlegenheit raushalf. '''Du bist der Größte' ist wieder reingekommen, wollen Sie das auch nehmen?"

"Danke, das habe ich nicht nötig", erwiderte Stefan trotzig. Die Verkäuferin lächelte nur süffisant.

Stefan fühlte sich ihr gegenüber unsicher. Das beste Mittel dagegen war, sie zu verunsichern. Aber womit? Spontan fragte er beim Zahlen einfach: "Wie heißen Sie eigentlich?"

Diese Frage schien sie zumindest zu überraschen. "Brandauer. Warum? Wollen Sie sich über mich beschweren?"

"Und mit Vornamen?" Nun war sie wirklich unsicher. "Birgit. Wozu wollen Sie das wissen?"

"Nur so", grinste Stefan. Und ging mit dem befriedigten Gefühl, eine Niederlage wenigstens in einen kleinen Sieg umgewandelt zu haben.

Kaum zu Hause angekommen, vertiefte er sich in sein neues kosmisches Buch. Schon die Abbildung auf dem Umschlag war vielversprechend. Da schwebte ein Mensch mitten im Sternenhimmel, auf allen Seiten von gelben Strahlen umgeben. Aber Stefan war vor allem gespannt, was die kosmische Urkraft, die alle Wünsche erfüllen könnte, nun genau wäre. Er las: "Die kosmische Kraft ist die Kraft des Kosmos. Andere sprechen auch von der Kraft des Alls oder des Universums. Manche nennen sie göttliche Kraft. Anstatt 'Kraft' kann man auch 'Energie' sagen. Es handelt sich jedenfalls um die gewaltigste Kraft, die existiert. Doch Sie vermögen diese Kraft anzuzapfen und für sich arbeiten zu lassen. So werden Sie zum 'Master of the Universe'."

Stefan war beeindruckt. Doch er konnte sich noch immer nichts Genaueres unter der Kosmos-Kraft - vom Autor "KK" abgekürzt - vorstellen. Und von einem plötzlichen Faustischen Impuls ergriffen, wollte er jetzt wissen, was für eine Kraft das sei, die die Welt im Innersten zusammenhält. Vielleicht konnte sein 24-bändiges Lexikon, das er sich in einer schwachen Stunde von einem Vertreter hatte aufschwatzen lassen, hier weiter helfen. In der Tat: Er las, dass die Physik 4 fundamentale Kräfte kenne: 1) Schwerkraft, 2) Elektromagnetische Kraft, 3) Schwache Kraft, 4) Starke Kraft. Welche dieser 4 Kräfte könnte die gesuchte KK sein?

Die Schwerkraft schien ihm zu schwerfällig für eine Kraft, die eilfertig ständig alle (seine) Wünsche erfüllen sollte. Und die elektromagnetische Kraft? Diese Kraft, die schon bei jeder stromdurchflossenen Drahtspule wirkte, war bestimmt zu banal. Außerdem erinnerte sie ihn unangenehm an stets misslungene Experimente im Physik-Unterricht. Die "schwache Kraft" kam natürlich nicht in Frage, der Name sagte schon alles. So setzte er seine ganze Hoffnung auf die "starke Kraft". Über die gab es zu lesen: "Man nennt sie auch Farbkraft. Sie verhindert, dass sich die Quarks in den Nukleonen zu weit voneinander entfernen. Diese Kraft wird durch sogenannte Gluonen übertragen, die zwischen den Quarks hin- und herfliegen und wie Klebstoff für ihr Zusammenhalten sorgen."

Klebstoff? Stefan war betroffen - konnte die großartige KK nur eine Art kosmisches Uhu sein? Den Rest des Textes hatte er kaum verstanden. Und um sich vor weiteren Anstrengungen oder Enttäuschungen zu schützen, beschloss er lieber, dass es für ihn doch nicht so wichtig sei, das Wesen der KK zu begreifen - Hauptsache, sie funktionierte. Gerade wollte er das Lexikon schon zuschlagen, da las er den Satz: "Die Physiker vermuten, dass hinter den vier Kräften eine einheitliche Urkraft wirkt." Aha, wahrscheinlich war die gesuchte KK mit der unbekannten Urkraft identisch. Doch wie sollte es eigentlich gelingen, diese gewaltige Kraft für sich einzuspannen?

Der Autor von "Der Kosmos gehört dir" hatte da keinerlei Bedenken. Denn die KK sei eine geistige Kraft, überhaupt sei der ganze materielle Kosmos aus Geist entstanden; er sei letztlich nichts anderes als ein unendlicher - positiver - Gedanke. Von daher könnten wir eben mit unserem menschlichen Geist, mit unserem Denken die KK beeinflussen.

Was Stefan merkwürdig vorkam: Einerseits schwärmte der Autor von der ungeheuren Potenz und Intelligenz der kosmischen Kraft, andererseits schilderte er sie als servilen Geist "aus der Flasche", ja sprach sogar ungeniert von "Kosmos melken". War eine solche Lehre wirklich kosmisch oder nur komisch? Egal, sagte sich Stefan. Probieren geht bekanntlich über studieren. Jetzt wollte er versuchen, KK zu kontaktieren. Wie lautete die Anweisung? "Öffnen Sie sich für die kosmische Energie. Lassen Sie diese in sich hineinfließen und sich ganz von ihr ausfüllen! Schließen Sie zunächst die Augen und fühlen Sie, wie die Energie in Sie strömt!" Also gut, auf zum kosmischen Höhenflug.

Stefan lehnte sich zurück und schloss brav - wie gefordert - die Augen. Er murmelte innerlich: "Stefan ruft KK. bitte kommen!"

Keine Reaktion. Er fuhr fort: "Bitte kosmischer Geist, ergieße dich in mich!"

Immer noch keine Reaktion. Hoffentlich fühlte sich auch die richtige Kraft angesprochen. Nicht dass sich nachher noch die "schwache Kraft" meldete und ihn eventuell schwächte. Aha, da tat sich etwas.

Seine Arme begannen zu kribbeln und zu jucken. Stefan widerstand der Versuchung, sich zu kratzen - dass er bloß nicht die Energie wegkratzte. Aber war es denn wirklich die kosmische Energie? Oder war es nur wieder seine Erdbeerallergie?

Unvorsichtigerweise hatte er zum Frühstück ein Erdbeerjoghurt gegessen, im Glauben, man könnte sich darauf verlassen, dass in den modernen Fruchtjoghurts nichts mehr von der echten Frucht, sondern nur noch "naturidentische" sprich chemische Aromastoffe drin wären. Stefan fühlte eine zunehmende Müdigkeit und Schwere. "Verdammt, hoffentlich hat mich nicht doch die schwache Kraft erwischt - oder die Schwerkraft ... " Als er zwei Stunden später wieder aufwachte, fühlte er sich zwar ausgeschlafen, aber der KK war er keinen Schritt nähergekommen. Etwas schuldbewusst riss er sich zusammen und las weiter.

Das Erfolgsprinzip war im Grunde wieder das gleiche wie in den vorherigen Büchern. Man musste sich ein Ziel anschaulich vorstellen. Und man musste an die Erfüllung des Ziels glauben. Nur hatten die ersten Autoren von der Kraft der Gedanken gesprochen, während dieser von der kosmischen Kraft sprach.

Die wurde allerdings durch die Gedanken aktiviert, somit war das letztlich kaum ein Unterschied. Stefan fragte sich allerdings, ob man die enorme KK wirklich auch für banale Probleme des Alltags wie "mehr Geld" oder ''weniger Gewicht" oder "mehr Sex" oder ''weniger Pickel" bemühen durfte. Oder machte das nur Sinn bei erhabenen Lebenszielen wie "geistige Erleuchtung erlangen"? Er beschloss, erst einmal ausschließlich die empfohlene "Kosmos-Grundübung" durchzuführen, und zwar ab jetzt jeden Morgen. Sie bestand eben darin, sich vorzustellen, wie die kosmische Energie in einen hinein fließt und sich ganz mit ihr aufzuladen.

Der Autor empfahl, die Energie auch anzusprechen: "Sei mir willkommen, du herrliche Macht des Himmels!" Oder: "Ich grüße dich, du himmlische Sternenkraft!" Das kam Stefan zwar reichlich pathetisch, um nicht zu sagen peinlich vor. Aber solange es niemand hörte ... Und für so ein großes Ziel durfte man einfach nicht überempfindlich sein. Denn das Buch versprach ja: "Wenn Sie die Übung regelmäßig durchführen, werden Sie letztendlich zum geistigen Meister des Universums, zum mentalen Mr. Universum, zum 'Gedanken-Schwarzenegger'."

In dieser Nacht hatte Stefan einen phantastischen Traum. Er schwebte auf einer rosa Wolke durch das Weltall. In der Hand hielt er einen riesigen Dirigentenstab. Und mit dem dirigierte er die Sterne, die tanzten, so wie er ihnen den Takt angab. Am nächsten Morgen fühlte er sich aber keineswegs mehr großartig, denn er hatte die schlimmsten Befürchtungen, was ihm mit Frau Redlich bevorstände. Gottseidank hatte sie sich jedoch krankgemeldet; hoffentlich blieb sie möglichst lange krank.

Kollege Alf trug demonstrativ einen neuen Pullover. Natürlich "Lacoste". Er kleidete sich überhaupt nur vom feinsten. Am liebsten "Boss". Das passte am besten zu seinem Boss-Feeling. Denn obwohl er der weitaus jüngste in der Abteilung war, meinte er, ihm stände es gut an, Gruppenführer zu sein. Woher der dieses Selbstbewusstsein nahm?! Dabei konnte er sich die teure Kleidung nur leisten, weil er eine gut betuchte Freundin besaß. Stefan selbst kleidete sich zwar nicht schlecht, hatte aber bisher auch keinen besonderen Wert auf edle Klamotten gelegt, kaufte auch. schon mal Billigware. Das lag wohl am Einfluss seiner Mutter, die ihm immer eingetrichtert hatte, alles bzw. an allem zu sparen. "Spare in der Zeit, so hast Du in der Not", das klang ihm noch immer in den Ohren.

"Toller Pullover", sagte er zu Alf, weil der offensichtlich darauf wartete.

Alf lächelte selbstgefällig: "Ja, Lacoste, 130 Euro. Übrigens, welche Marke ist eigentlich dein Pullover? Auch Lacoste oder etwa Bogner?"

Wie es das Unglück wollte, trug Stefan gerade heute einen Pullover, den er in einem Ramschladen auf dem Wühltisch für 4,99 Euro einem gehbehinderten Rentner weggeschnappt hatte. Dieses "Markenfabrikat" besaß den schönen Namen "Billig". "Äh, der ist von 'Billy', einer neuen, noch wenig bekannten Firma, die aber stark im Kommen ist."

Alf schüttelte missbilligend den Kopf. "Kenn' ich nicht", meinte er, und seine Miene verkündete, dass es ihn auch nicht drängte, diese Marke namens "Billy" näher kennenzulernen. "Du trägst doch sicher auch nur 100% Wolle oder Baumwolle?"

"Natürlich", antwortete Stefan, und hoffte inständig, dass das Schild "100% Polyacryl" nicht aus dem Nacken herausragte.

Um weiteren unangenehmen Nachfragen über seine Kleidung zu entgehen, verschanzte er sich hinter mehreren Ordnern und blätterte angestrengt in einer Akte. In Wirklichkeit dachte er aber über das Gespräch mit Alf nach: Klar, der übertreibt es; aber unwichtig ist es nicht, sich gut anzuziehen. Sagt doch schon das Sprichwort: "Kleider machen Leute". Und selbst der Positivexperte Montag hat zugegeben, dass das Positive Denken nicht immer allein ausreiche, sondern durch äußere Maßnahmen wie "positive Kleidung" ergänzt werden müsse. Doch was macht Kleidung positiv? Sicher, gute Qualität, aber außerdem helle Farben und freundliche Muster. Als ganz besonders positiv gilt die Farbe rosa. Soll ich mir etwa einen rosa Anzug kaufen? Das würde bestimmt zu Mißverständnissen führen.

Er verschob weitere Überlegungen auf später und begann, wirklich zu arbeiten. Heute waren einige besonders schwierige Versicherungsfälle zu klären. Und er wollte endlich einmal wieder am Feierabend "tischrein" sein, alle Akten vom Schreibtisch weggearbeitet haben.

Nach der Arbeit ging er zum Einkaufen. Zunächst fragte er sich zu einer Nobelboutique durch, die ihm Alf genannt hatte. Aber als er die Preise im Schaufenster sah, kehrte er sofort wieder um. Außerdem hätte er sich mit seinem "Billy"-Pullover ohnehin nicht in so einen Laden gewagt. Er konnte sich die hochnäsige, leicht angewiderte Miene des Verkäufers nur allzu lebhaft vorstellen. In solchen Boutiquen begegnete man oft der puren Arroganz. Am liebsten wäre er ins nahe Kaufhaus gegangen und hätte sich dort erst einmal auf dem "Schnäppchen-Markt" umgesehen.

Aber er widerstand der Versuchung. Heute galt "quality first". So betrat er ein normales Herrenbekleidungsgeschäft. Eine junge, schlanke Verkäuferin trat auf ihn zu: "Suchen Sie etwas Bestimmtes?" Erst als Stefan diese Frage hörte, wurde ihm klar: Er hatte sich noch gar nicht überlegt, was er kaufen wollte. "Vielleicht ein Hemd oder eine Hose oder einen Pullover oder ein Sakko", überlegte er jetzt laut. Die Verkäuferin guckte etwas ratlos. "Sollen wir mal mit einem Sakko anfangen?" "Ja, warum eigentlich nicht."

Sie führte ihn in die zweite Etage, wo eine imponierende Vielzahl von Jacketts seiner harrte. "Es kommt aber nur eine helle Farbe und ein freundliches Muster in Frage", sagte Stefan schnell, "eben positiv, wenn Sie verstehen, was ich meine." "Ich denke schon", nuschelte die Verkäuferin etwas irritiert. Sie war wirklich sehr schlank und sehr jung. 'Tragen Sie eine 20er-Größe?" "Ich trage doch keine Bauchgröße", entrüstete sich Stefan und zog seinen Bauch, nein seinen Bauchansatz, ruckartig ein. "Mir passen die schlanken Größen, 94 oder 98." Das war allerdings eine aus der Empörung geborene Notlüge. Sicherlich, früher einmal hatte er wirklich diese Größen getragen, aber das war schon mindestens 1 Jahr her, ehrlich gesagt war es schon fast 10 Jahre her.

In diesem Moment kam als rettender Engel ein erfahrener Verkäufer hinzu und bewahrte Stefan vor der erneuten Kränkung, ein sicher zu enges 94er-Sakko anprobieren zu müssen. "Fräulein Sander ist ganz neu bei uns; sie kennt sich noch nicht so gut aus." Stefan war kein Unmensch. Er war bereit, Fräulein Sander ihre jugendliche Unerfahrenheit zugute zu halten, und vielleicht machte sie auch ihre eigene Überschlankheit befangen. Der Verkäufer übernahm jetzt die Beratung, während die junge Dünne - sie war wirklich zu dünn - achselzuckend abtrat. "Ich schlage vor, Sie probieren mal ein 52er Jackett", steuerte er diplomatisch einen Kompromiss an. "52, das ist Normalgröße." Er betonte das "normal" und ließ durch den Tonfall erkennen, dass es das Beste war, wenn einem Normalgrößen passten.

Wirklich, die Jacke saß. Sie hatte auch eine positive Ausstrahlung - helleres Blau mit einem bunten Karomuster. Ja, die Sache war o.k., aber er gefiel sich nicht. Er war zwar nicht dick, aber er wollte einfach schlanker werden, wieder richtig schlank. Und er fühlte sich ganz zuversichtlich, das mit Hilfe des Positiven Denkens zu schaffen. Was sollte er jetzt also ein Sakko in Größe 52 kaufen, das ihm schon bald wieder zu weit wäre? "Ich komme in Kürze wieder und kaufe dann das gleiche Sakko in 94", verabschiedete er sich von dem erstaunten Verkäufer.

GENAU INS GLÜCK - Oder knapp daneben

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