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2.2.1. Die Vertreter des Rationalismus
ОглавлениеEs war Renè Descartes, der die Selbstvergewisserung des vernünftigen Subjekts in die berühmten Worte kleidete: cogito ergo sum (ich denke, also bin ich). Stephen Toulmin, der eine eindrückliche Kontextualisierung der Philosophie des Renè Descartes formulierte, situiert den Antrieb für dessen Forschungsprogramm und damit auch einen Antrieb für die Neuzeit im unversöhnlichen Streit um die religiösen Bekenntnisse, der den Dreißigjährigen Krieg auslöste.
482 Frans Hals, Renè Descartes (um 1648); LP
Renè Descartes
Toulmin 1991
1610 erschütterte die Nachricht von der Ermordung des französischen Königs Heinrich IV. von Navarra die Menschen. Er hatte 1598 im Edikt von Nantes den Protestanten in Frankreich eine gleichberechtigte Stellung zugesichert, was zu einem langen Religionsfrieden führte. Durch seine Ermordung sahen die Zeitgenossen die aufkeimende Hoffnung auf eine friedliche Beilegung dieses epochalen Streits in Gefahr. Toulmin geht von einer historischen Schlüsselszene aus, nach der der vierzehnjährige René Descartes am Jesuitenkolleg von La Flèche die Beisetzung des Herzens Heinrichs in einer großen Feier im Juni 1610 miterlebte und bei den jährlichen Gedenkfeiern, den »Henriaden«, daran nachhaltig erinnert wurde.
Die Befürchtungen der Menschen trafen zu und Descartes wurde zu einem mitleidenden Zeitzeugen des Dreißigjährigen Krieges. Im Heer des Herzogs von Bayern lernte er den Kriegsschauplatz mit eigenen Augen kennen, bis er sich schließlich in den Dreißigerjahren in den toleranten Niederlanden niederließ. Diese Erfahrung ist zum Verständnis der Bemühung der neuzeitlichen Philosophen nach sicherem Wissen durchaus hilfreich. »Das ›Streben nach Gewißheit‹ bei den Philosophen des 17. Jahrhunderts war kein bloßes Programm zur Konstruktion abstrakter und zeitloser theoretischer Schemata […] Es war vielmehr eine zeitgebundene Antwort auf eine bestimmte historische Herausforderung – auf das politische, gesellschaftliche und theologische Chaos, das sich im Dreißigjährigen Krieg niederschlug.«
Ebd., 122
Descartes legte sein philosophisches Programm in den Meditationes de prima philosophia vor. Ausgangspunkt war ein tiefes Misstrauen gegenüber der sinnlichen Erfahrung und ein Bruch zwischen der sinnlichen und geistigen Welt (res extensa und res cogitans). Mag sein, dass – wie manche meinen – dieser Bruch auch ein Rettungsversuch der Unsterblichkeit der Seele war, die Descartes sozusagen vom verfallenden Körper absetzen musste. Positiv könnte man diesen ziemlich scharfen Dualismus rekonstruieren mit Blick auf das sinnliche Objekt, dem ein freies geistiges Subjekt gegenüberstand. Descartes machte das Subjekt zum Zentralgestirn der Neuzeit. Die Einsichten in unsere Erfahrung schöpfen wir aus uns selbst, aus einem Reservoir eingeborener Ideen. Descartes stützte sein System allerdings durch eine göttliche Ordnung, die uns die Gewissheit gibt, in den letzten Dingen nicht getäuscht zu werden. An die Stelle des mittelalterlichen Willkürgottes war die Erzählung des berechenbaren Gottes getreten. Es ging um einen Gott, der uns nicht täuscht, auch nicht in der Sicherheit, die Außenwelt erkennen zu können. Täuschte uns Gott darin, wäre er nicht vollkommen. In der an der Mathematik Maß nehmenden Neuzeit war kein Platz mehr für einen Gott der Willkür.
Ein endliches Wesen kann die unendliche Idee Gottes nur denken, wenn Gott selbst ihm diese eingegeben hat. Beim Eintritt in die Neuzeit mit der Hinwendung zum Subjekt bewegen wir uns zumindest teilweise bei Descartes immer noch in einer Struktur, die jener des mittelalterlichen, von Anselm von Canterbury formulierten ontologischen Gottesbeweises ähnlich ist.
Der Vernunft ist es zu verdanken, dass wir angesichts der auf reine Berechenbarkeit und begriffliche Fassbarkeit eingeschränkten Außenwelt nicht in die Irre geleitet werden, wenn man etwas clare et distincte erkenne. Sinnliche Wahrnehmungen, Licht, Farbe, Töne, Geschmack, Wärme, Kälte sind nur verworren und dunkel zu haben. Diese zurückhaltende Einstellung zur Sinnlichkeit hat nicht nur Leibniz geteilt, sie wurde bei Alexander Baumgarten zur Grundlage der Ästhetik als philosophischer Disziplin. Unter Ästhetik wird dabei, ausgehend vom griechischen aisthesis eine (noch dunkle und verworrene) Sinnlichkeit verstanden.
5.2.3.
Bei Descartes liegt eine wesentliche Verschärfung gegenüber der neuplatonischen Tradition vor. Hatte diese die materielle und sinnliche Welt noch als Verdunkelung der eigentlichen angesehen und sie so prinzipiell salvierbar gestaltet, entgeistigt Descartes die Sinnenwelt vollends. Mit ihm ist nicht nur die Subjektivierung deutlich formuliert, sondern auch eine physische Welt, die naturwissenschaftlichen und technischen Zugriffen offen steht. Dies ist eine klare Abkehr von der noch bei Thomas von Aquin vertretenen, aber schon im Nominalismus des Spätmittelalters unter Druck geratenen Vorstellung von Spuren des Rationalen in der (von Gott geschaffenen) empirischen Welt. Damit war auch der Optimismus der Erkennbarkeit des Realen hier aufgegeben. Die platonische Aufforderung, die Natur in die Zahl umzuwandeln, konnte jetzt ohne hemmenden mystischen und sakralen Beigeschmack umgesetzt werden. Mathematik wird zu einer profanen Angelegenheit. Harmonie ist nicht mehr Ausdruck göttlicher Schöpfungsordnung, sondern allenfalls einer durch Rationalität begründeten Regel. »In steigendem Maße wird in der frühen Neuzeit jedoch die Mathematik als Methode aufgefaßt, die weniger feststehende Muster und Regeln überliefert, als daß sie den Weg zu neuen Lösungen bereiten hilft.« Descartes war in der Entmythologisierung des Kosmos weiter gegangen als Spinoza oder Leibniz.
Hoppe 2003, 113
So gesehen bildet dieser Bruch zwischen Vernunftsubjekt und Sinnenwelt eine Voraussetzung für eine Ästhetisierung der Kunst. Dieser Bruch war eine Voraussetzung dafür, um Kunst als Teil der Ontologie zu beenden und sie auf eigene (ästhetische) Beine zu stellen. Wohl noch nicht die Klassik, also jene Seite des Barock, die sich an den Formen der Renaissance orientierte und zumindest unterschwellig die alte Harmonieerzählung bewahrte, wohl aber der Klassizismus, der das Regelwerk an die Stelle einer Ontologie setzte, »beendete« die Kunst im Sinne Hegels.
VIII.5.3.2.3.
Das neuzeitliche Vernunftsubjekt erreichte in Immanuel Kants prinzipieller Verknüpfung von subjektiver Erkenntnis und der Strukturierung von Wirklichkeit die profilierteste Fassung. Dazu verschob Kant die strenge Trennung von Subjekt und Gegenstand auf dessen An-Sich-Sein – in einen Bereich, welcher der Vernunft nicht zugänglich ist. Erst dann wird die Legitimation durch Gott endgültig überflüssig. Erst dann greift die transzendentale Wende, die nicht nur die Wissenschaften bis heute in ihrer Methodik bestimmt, sondern auch die Kunst der Moderne begründete. Dem auf der Leinwand Gestalteten kommt keine Objektivität mehr zu, sondern es ist Ausdruck subjektiver Reflexion.
6.1.
Ausdrückliche Positionen zur Kunst hat Descartes nicht formuliert. In einem Brief an seinen Studienkollegen von La Flèche, den französischen Theologen und Mathematiker Marin Mersenne, hatte er 1630 die Ästhetik als Wissenschaft abgelehnt. Schönheit hielt er für relativ und nicht zu begründen. Trotzdem ist sein Denken, sowohl mit der eingeleiteten Subjektivierung als auch mit der Vernunftphilosophie, kunstphilosophisch interessant. Im Discours de la méthode äußerte sich Descartes negativ über die alten Städte mit ihren krummen und verwinkelten Straßen, gerade so als hätte sie der Zufall und nicht der Wille vernunfbegabter Menschen angelegt. Das ist ein Gedanke, den noch Le Corbusier im 20. Jh. so zu fassen vermochte: »Die gekrümmte Straße ist der Weg der Esel, die gerade Straße ist der Weg des Menschen und der rechte Winkel ist das zum Handeln notwendige und ausreichende Werkzeug.«
Scheer 1997, 43
Descartes 1637, 9
Le Corbusier, zit. nach Kruft 1985, 462; im Orig.
kursiv
IX.2.3.5.
In der Tat wurden die Städte im Barock von Grund auf erneuert und ihnen eine rationale Geometrie eingeschrieben. Auch in der Gartenkunst verwandelte sich der wilde Garten in einen »französischen« more geometrico. Wenn der englische Garten diesen Rationalismus wieder durchbrach, tat er dies aus Gründen, die in das geistesgeschichtliche Feld des Empirismus und der Romantik gehören. Ein weiteres Motiv, das Descartes ausführlich traktierte, war der Mechanismusgedanke. Für ihn ist »die Natur selbst völlig den unsichtbaren mechanischen Prinzipien unterworfen, welche die Automaten steuern. Die Kunst ahmt die Natur nach, Ars imitatrix natura.«
5.2.5.
Hallyn 2001, 262
Ein wichtiger Vermittler des Cartesischen Gedankenguts war Christian Wolff, der 1710 ein Lehrbuch für Mathematik geschrieben hatte, in dem ein Kapitel der Baukunst gewidmet war. Auch diese muss nach Wolff im Sinne des Descartes eine Wissenschaft more geometrico sein. Dementsprechend formulierte sie Wolf mit Erklärungen, Lehrsätzen, Aufgaben, Auflösungen, Beweisen und Zusätzen: »Man hat bißher die Bau-Kunst meistens als ein Handwerck getrieben. Daher ist es auch kommen, daß man sie kaum würdigen wollen unter die mathematischen Wissenschaften mit zusetzen. […] Zu dem Ende habe ich […] sie zugleich auf gewisse Gründe setzen wollen, damit sie einer Wissenschaft ähnlich würde und ein jeder Liebhaber derselben zulänglichen Grund von ihren Regeln in diesem Buch finden möchte.«
Christian Wolff
Wolff 1710, 269
Der Cartesianismus wurde in der europäischen Geistesgeschichte zu einer geradezu mythisch aufgeladenen Position. In der Debatte zwischen Moderne und Postmoderne des 20. Jh.s, die eigentlich eine zwischen Neuzeit und (Post) Moderne war, schob man ihm die Schuld für die Bipolarität und den Dualismus in der Welt sowie der alleinigen Vorherrschaft des Intellekts zu, frei nach dem Wort Gottfried Benns, der Descartes einen »Intellektualverbrecher« nannte. Es gibt aber auch ausdrückliche Verteidiger des großen Rationalisten, die wegen der Befreiung des Subjekts ihr Augenmerk auf Descartes richten. Zu ihnen gehört der Schweizer Lyriker Durs Grünbein. Für ihn ist – ein wenig Kantisch aufgefrischt – Descartes der Entdecker des Ich: »Der Geist spielt fortan mit eigenen Regeln, Intellekt und Imagination stehen einander nicht länger im Weg. […] Ich behaupte, man hat im 17. Jahrhundert, auf Descartes’ Schreibpult gezeichnet, das neue Dreieck schon sehen können, die Figur, die sich aus der Verbindung von Philosophie, Anthropologie und Dichtung ergab.«
Benn 1947, 23
IX.4.0.ff.
Grünbein 2006
Descartes’ Gedankenwelt sickerte also über viele Umwege in das zeitgeistige Bewusstsein. Dazu gehörten auch die Grammatiker und Sprachphilosophen Antoine Arnauld und Claude Lancelot, die im Jansenisten-Kloster Port-Royal-des Champs arbeiteten. Sie verfassten, in einem Netzwerk mit Descartes und Leibniz stehend, 1660 eine Grammatik und 1662 eine Logik, die beide einige Berühmtheit erlangten, in unseren Tagen erneut durch den Sprachphilosophen Noam Chomsky. Im Sinne der Aufklärung der Reformbewegung des Jansenismus wurde Logik als Voraussetzung für jeden Wissensgewinn erachtet. In diesem geistigen Kontext gilt: »Vernunft und Schönheit gehören weit mehr zusammen als Schönheit und Leidenschaft (passion), Phantasie (imagination) und Empfindung (sentiment).«
483 Baruch de Spinoza (Gemälde um 1665); HAB
Reschke Renate in ÄGB 5, 402
Baruch de Spinoza
Der im Amsterdamer Ghetto 1632 geborene Baruch de Spinoza löste sich 1656 in einem dramatischen Akt vom Judentum und brachte sich als Glasschleifer durch. Als Philosoph blieb er dem methodischen Ideal des Descartes verbunden und wollte eine Philosophie more geometrico entwerfen.
Spinoza stand ganz in der Tradition der Kosmotheologie. In seiner Abkehr von jedem Dualismus baute er auf die Gleichsetzung von Gott und Natur (deus sive natura). Gott ist natura naturata und natura naturans, also geschaffen und schaffend gleichzeitig. Gott ist eine Substanz und hat eine unendliche Zahl von Attributen, die gleichsam der Welt entsprechen. Gott entfaltet sich in der Welt in den Cartesischen Kategorien als cogitatio (Denken) und extensio (Ausdehnung). Gott wirkt als immanente Ursache, als Verursachung seiner selbst (causa sui). Spinozas Denken steht unübersehbar in einer platonisch-neuplatonischen und averroistischen Tradition der geist- und formdurchtränkten Materie. Dieser Pantheismus hatte Spinoza die Verfluchung durch die Synagoge eingetragen und seine Distanz zum Judentum beschleunigt.
II.2.3.2.
V.3.3.
Äußerungen zu kunstphilosophischen Fragen sind kaum vorhanden, dennoch war er ein Anreger und mit seinem Konzept einer geistgetragenen und dynamisch bewegten Materie leistete er einen wichtigen Beitrag für den späteren Materialismus. Die Romantik fand in seinem Gedankengebäude eine Unmenge von Anregungen. Goethes Faust war geradezu eine literarische Umsetzung des Spinozismus.
Es war der 1729 in Dessau geborene Moses Mendelssohn, der das Denken Spinozas, namentlich seinen Pantheismus, den Dichtern der Romantik vermittelte. Die pantheistische Naturdeutung war für diese ein zentrales Element. Das hen kai pan und das deus sive natura waren programmatische Losungen in der Romantik. Allerdings blieb diese Programmatik meist im Verborgenen. Denn der Pantheismusvorwurf war eine allzu starke Waffe der Obrigkeit. Mendelssohn schrieb auch Abhandlungen zu Kunstfragen, Briefe über Empfindungen (1755), Über die Hauptgrundsätze der schönen Künste und Wissenschaften (1757) sowie einige kleinere Essays und diverse Briefwechsel, darunter einen umfangreichen mit Lessing über das Trauerspiel. In den Briefen über Empfindungen sieht Mendelssohn die Ursache für eine angenehme Empfindung in der Vollkommenheit und Schönheit von Gegenständen. Hässliche und schreckliche Gegenstände scheiden dabei ebenso aus wie traurige und die sinnliche Lust.
Moses Mendelssohn
Die Vollkommenheit ist eine vernünftige Ordnung einer Mannigfaltigkeit und es bedarf der Vernunft, um diesen Zusammenhang zu analysieren und ihn dann als angenehm zu empfinden. Dazu breitete Mendelssohn eine komplexe, im Rationalismus gängig gewordene und auf scholastische Wurzeln zurückgehende Erkenntnislehre aus. Er unterschied ein oberes vernünftiges von einem unteren sinnlichen Erkenntnisvermögen. Nur das obere Vermögen ermögliche eine klare und zugleich deutliche Erkenntnis, während das untere Vermögen eine klare, aber verworrene Erkenntnis liefere. Schönheit als Einheit im Mannigfaltigen beginnt mit dem unteren, auf Sinnlichkeit ausgerichteten Erkenntnisvermögen. Das entspricht dem gewöhnlichen Zugang zur Schönheit über eine sinnliche Erfahrung. Die sinnliche Erkenntnis liefert klare, aber verworrene Vorstellungen und widersetzt sich jeder Aufhebung in den Begriff. Alexander Baumgarten hat zur gleichen Zeit von dieser Voraussetzung aus seine Ästhetik entwickelt. »Im Gegensatz zur metaphysischen Vollkommenheit beruht Schönheit auf einem Zusammenspiel von objektiven Gegenstandsqualitäten und der für uns als Menschen charakteristischen psychischen Konstitution.« Es ist die Vernunft, die Vollkommenheit und Schönheit immer wieder herstellen muss, also ein demiurgisches Versammeln einer ursprünglich keineswegs vollkommenen Situation.
5.2.3.
Barke Antonia in ÄKPh, 553
Daneben exponiert Mendelssohn auch das Erhabene. Dabei handelt es sich um eine Vollkommenheit, die unsere Auffassungsgabe übersteigt (Über das Erhabene und Naive in den schönen Wissenschaften). Gegenstände jenseits der Überschaubarkeit rufen ein Gemisch aus Bewunderung an der schieren Größe und aus Unlust über die Unfassbarkeit des Gegenstandes hervor. Das Verhältnis von Schönem und Erhabenem löst sich in dem vom unermesslichen Gegenstand hervorgerufenen »süßen Schauer«. Mendelssohn kommt nicht umhin einzuräumen, dass auch hässliche Gegenstände eine angenehme Empfindung hervorrufen können. Das sei eine Folge des Unterschieds von objektivem und subjektivem Aspekt einer Vorstellung.
In den Hauptgrundsätzen setzte er sich im Gefolge der Wahrnehmungslehre Lockes mit der Frage von Einheit und Verschiedenheit der Künste auseinander. Der theoretische Boden dieser Überlegung war die Frage nach dem Sinn der Naturnachahmung. Anders als bei Charles Batteux, der die Gemeinsamkeit der Künste in ihrem Streben nach Naturnachahmung sah, stand für Mendelssohn das Anliegen der Künste im Vordergrund, die Seele zu sittlicher Vervollkommnung zu führen. Der Künstler setzt an die Stelle der unvollkommenen Natur die Kunst. Dies entspricht einer Befreiung aus einem engen Regelwerk. Insofern ist die Schönheit der Kunst ursprünglich und jene der Natur abgeleitet. »Naturschönheit entspringt nämlich der Seele, die die Natur als eine Art Kunst auf Schönheit hin auslegt.« Nicht eine Regel, sondern die Vollkommenheit der Seelenkräfte ermöglicht dem Künstler, das Ideal zu bilden. Dabei baute Mendelssohn bei Kunstwerken in erster Linie auf die Form, welche die schöne Gestalt ausmacht.
5.2.1.
4.2.1.
Gethmann-Siefert 1995, 137
X.1.3.2.3.
Die Einteilung der Künste vor solchem Hintergrund erläutert Mendelssohn mit einer Zeichentheorie, nicht unähnlich jener von Du Bos. Er unterschied natürliche von willkürlichen Zeichen. Die bildenden Künste, Architektur und Tanzkunst setzen (natürliche) Zeichen, die der Natur ähnlich, aber nicht mit ihr identisch sind. Das können Abbildungen ebenso sein wie Gebärden. Die Dichtkunst (Mendelssohn reiht sie unter die belles lettres) mit Sprache und Allegorie geht mit willkürlichen Zeichen um. Sie ist daher freier als die übrigen Künste, die auf das Sinnliche, auf Formen, Farben und Töne, eingeschränkt sind.
VII.5.2.1./X.3.4.
Von Gottfried Wilhelm Leibniz gingen wesentlich mehr und nachhaltigere Impulse für die Kunstphilosophie, insbesondere den Barock, aus als von Descartes oder Spinoza. Der 1646 in Leipzig geborene Diplomat, Jurist, Historiker, Mathematiker, Physiker und Philosoph war ein echter Universalgelehrter. Friedrich der Große soll ihn eine »Akademie für sich« genannt haben. Ähnlich wie bei Descartes ist auch bei Leibniz die Bemühung unübersehbar, eine Kommunikation zwischen Andersdenkenden zu ermöglichen. Seine persönliche Lust an solcher Kommunikation schlug sich in etwa 15.000 Briefen nieder, eine Korrespondenz mit allen führenden Köpfen der Zeit. Leibniz verfolgte die Vision einer auf mathematischen Symbolen beruhenden Universalsprache. Der neuzeitliche Akzent zeigt sich nicht nur in seinem spezifischen Mechanismusgedanken, sondern in der Rechtfertigungslehre Gottes gegenüber den Übeln in der Welt, der sogenannten Theodizee. Über dieses subtile, typisch neuzeitliche Rechtfertigungsunternehmen Gottes vor dem Menschen wurde bereits berichtet. Leibniz hat für die Kunstphilosophie eine große Bedeutung. Mit großer Kelle angetragen, klingt das so: »Neoplatonism is manifest in Leibniz’ philosophy, as expressed by the Baroque, […] The Baroque aesthetic is manifest in the philosophy of Leibniz […].« Etwas bescheidener kann man die Bedeutung an zumindest drei von ihm bearbeiteten Problemfeldern darstellen: (1) in seiner Monadologie, (2) in der Erkenntnislehre und schließlich (3) in der von Gilles Deleuze mehr oder weniger originell rekonstruierten Figur der »Falte«.
Gottfried Wilhelm Leibniz
484 Leibniz, Gemälde von Ch. B. Francke (um 1700); HAUM
2.1.
Hendrix 2003, 103
(ad 1) In der Ontologie setzte Leibniz dem Monismus Spinozas einen Pluralismus gegenüber. Er entwarf die Lehre der Monade als Kraftpunkt oder Informationszentrum. Sie sollte das eigentliche Wesen der Dinge hinter der sichtbaren Wirklichkeit ausdrücken. Monaden haben keine Gestalt. Sie werden nicht erzeugt und sind streng monistisch. Sie tauschen keine Informationen untereinander aus, sondern sind durch eine geheimnisvolle Fernkraft (prästabilierte Harmonie) synchronisiert. Gegenüber der völligen (mathematischen) Naturabstraktion bei Descartes lag hier ein Substanzbegriff vor. Jede Monade hat einen bestimmten endlichen Zustand an Vollkommenheit (Perzeption). Jede Monade ist »auf ihre Weise ein Spiegel des Universums und da das Universum durch eine vollkommene Ordnung geregelt ist, muß es auch in dem Darstellenden eine Ordnung geben, das heißt in den Perzeptionen der Seele und folglich in dem Körper, demgemäß das Universum in ihr dargestellt wird.« Im Grad der Umsetzung des Informationsgehalts, also der Perzeption, in das reflektierte, damit nutzbare Wissen oder Selbstbewusstsein (Apperzeption) unterscheiden sich die einzelnen Monaden voneinander. In der gesamten Fülle besitzt dieses nur die Gottmonade. In jeder Monade liegt demnach grundsätzlich die gesamte Information der Welt verborgen (wenn auch nicht überall explizit) und ist durch ein Urteil, das vorgegebene Erkenntnis in die Ausdrücklichkeit bringt (und nicht wie ein synthetisches Urteil erweiterbar ist), prinzipiell gewinnbar.
Monadologie
Leibniz 1714, 469
Die »fensterlosen Monaden« repräsentieren philosophisch den Prototyp des Individualismus. Man mag darin ein fernes Renaissanceerbe erblicken, das nun zur philosophischen Grundfigur des Liberalismus wurde. Auch hier folgte der Individuierung eine diese entschärfende Metaerzählung: die gerade erwähnte prästabilierte Harmonie. Gott hat alle Monaden wie ein Uhrmacher aufeinander eingestellt und so für Ordnung in der Pluralität gesorgt. Ein vernünftiger Gott hat am Anfang der Zeit die Welt als eine perfekt funktionierende Maschine geschaffen, um die er sich im Weiteren nicht mehr kümmern muss.
Die Monadenlehre bietet eine exzellente philosophische Systematik für das Verständnis des Barock. In der Vorstellung der Monade gleichsam als Spiegel des gesamten Kosmos könnte man ein Modell des barocken Gesamtkunstwerks sehen, in dem jeder Teil für das Ganze steht. Der Systemgedanke bei Leibniz wiederum findet sich in den gewaltigen barocken Anlagen, die in ihren Symmetrieachsen auf die Zentralmonade ausgerichtet sind, beim Schloss Versailles war das der König.
(ad 2) In seiner Erkenntnistheorie legte Leibniz Fundamente, die für Alexander Baumgarten bei der Begründung der Ästhetik eine wichtige Rolle spielten. Leibniz griff – ähnlich wie Mendelssohn – auf scholastische und frühneuzeitliche Ansichten zurück, die zwischen Verstand und Sinnlichkeit keinen radikalen Bruch wie bei Descartes, sondern einen stufenweisen Übergang annahmen. Der Erkenntnisvorgang beginnt bei einem undeutlichen, diffusen Erfahren, bei dem sich Eindrücke nicht genauer unterscheiden lassen (cognitio confusa), geht dann über in eine klare, aber verworrene (cognitio clara et confusa) Perzeption und mündet in die wissenschaftliche Perzeption (cognitio clara et distincta), bei der die Merkmale einer Sache klar unterschieden werden können. Diese in weiten Kreisen des Rationalismus so gehandhabte Erkenntnislehre bildete die Basis einer Aisthesis-Lehre, mit der das philosophische Genre einer Ästhetik bei Alexander Baumgarten begann. Bereits bei Leibniz stützte sich eine ästhetische Erfahrung auf die zweite Stufe: »So vermögen wir Farben, Gerüche, Geschmäcke und andere besondere Sinnesobjekte zwar mit hinlänglicher Klarheit zu erkennen und voneinander zu unterscheiden, doch geschieht dies auf das einfache Zeugnis der Sinne hin, nicht aber durch angebbare Merkmale.«
Erkenntnistheorie
Leibniz 1684, 23
Leibniz rehabilitierte gegenüber einer durch Vernunft und Intuition gewonnenen Wahrheit eine solche auf der Basis sinnlicher Wahrnehmung. Diese für den Rationalismus großzügig scheinende Einstufung einer sinnlichen Erkenntnis ist ein durchaus konsequentes Ergebnis des Rationalismus. Die sinnliche Erkenntnis liefert zwar verworrene (also keine klaren wie die begriffliche Erkenntnis) Vorstellungen, aber es sind wahre Vorstellungen der Welt, ein (getrübter) Spiegel der göttlichen Erkenntnis. Baumgarten wertete die cognitio sensitiva insofern auf, als er ihr eine eigene Berechtigung zusprach.
5.2.3.
(ad 3) Eine eindrucksvolle Arbeit über Leibniz als den Philosophen des Barock stammt von Gilles Deleuze (Die Falte. Leibniz und der Barock; 1988). Für Deleuze ist die Frage nicht, ob der Barock eine Periode vom Konzil von Trient oder vom Beginn der Religionskriege in Frankreich bis zur Vollendung von Versailles oder dem Ende der Politik Colberts 1684 umspannt, es geht ihm überhaupt nicht um eine historische Periode. Barock ist für ihn vielmehr »a prescient way of thinking about space and habitus; as modes of reasoning and of seeing that characterize the modern age, especially point of view; as shimmering waves of vibrations at the very basis of what we call sensation.« Er macht den Barock in der Spielart von Leibniz zu einer universellen Figur bestimmter organischer und fraktal geometrischer Form- und Raumkomplexe. Die Frage stellt sich nach der Generierung dieser beschriebenen Formen. Deleuze lässt sie aus der Linie durch die sogenannte Inflexion herauswachsen: »Die Inflexion ist das wirkliche Atom, der elastische Punkt, ist das, was Klee als das genetische Element der aktiven, spontanen Linie hervorhebt. So bezeugt er seine Affinität mit dem Barock und mit Leibniz, sowie seinen Gegensatz zum Cartesianer Wassily Kandinsky, für den die Winkel hart sind, der Punkt hart ist, durch eine äußere Kraft in Bewegung gebracht.«
die Falte
IX.4.5.6.
Conley 2011, 204
Deleuze 1988, 29
Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist die Beschreibung der »Falte« als lebendiges Wesen der Materie an verschiedenen Stellen bei Leibniz. Der Barock ist nicht die Zeit der geraden Linie, sondern der gekrümmten und geschwungenen. »Für uns ist in der Tat das Kriterium oder der operative Begriff des Barock die Falte, in ihrem ganzen Inhalt und ihrer ganzen Extension: pli selon pli.« Pli selon Pli heißt auch eine Komposition von Pierre Boulez (Uraufführung 1960), die sich auf Sonette von Stéphan Mallarmé bezieht. Ein solches Verweisspiel soll zeigen, dass der barocke Faltenwurf alle Genres durchzieht: »Es gibt also eine barocke Linie, die genau der Falte gemäß verläuft und die Architekten, Maler, Musiker, Dichter und Philosophen vereinen könnte.« Materie kommt derart in eine Nähe zum Leben, sie beginnt sich zu verformen, Falten zu werfen und wird zur Gestalterin der barocken Form. »Die gefaltete Materie ist zugleich eine Zeit-Materie, deren Phänomene als kontinuierliche Entladung zu verstehen sind; sie besitzt Spannkraft, die eine fast muskulöse Konzeption von Materie voraussetzt.« Zugleich tritt die Monadenlehre von Leibniz in den Blick, für Deleuze eine Aushöhlung von Welten, die es auch »in den winzigsten Körpern gibt«.
Ebd., 60
Ebd., 60
Neuwirth 2015, 241
Deleuze 1988, 17
Leibniz konnte seinen Begriff der Falte zurückführen auf Nikolaus von Kues, der die Ein- und Entfaltung der Schöpfung aus Gott beschrieb. In Unendlichkeit und Fortschritt (1694) entwarf er eine Unendlichkeitsdimension, die in jedem materiellen Körper komprimiert auf seine Entfaltung wartet. »Das Neue an Leibniz’ Begriff des Unendlichen ist, dass er es mit einer als organisch bezeichneten Materie und der Annahme der Kraftentfaltung verbindet und es solchermaßen als Prinzip entwickelt, das aus der kleinsten Materieeinheit heraus wuchert und im unendlich Kleinen fortgesetzt neue Unendlichkeiten erzeugt.«
VI.4.2.1.
Ott 2014, 182
Was Deleuze an solchen Stellen auch wahrnimmt, ist die anhebende Lust am Dynamischen, die das 19. Jh. prägen und das Eintrittstor für die Moderne sein wird. »Denn Welle und Woge, Spirale und Wirbel sind ja die stets wiederkehrenden Figuren der Philosophen und Künstler, die seit dem Ausgang des 19. Jahrhunderts die Dynamik und Kreativität des Lebens ästhetisch und kulturkritisch gegen Materialismus und Dekadenz aufboten.«
485 Falte und Dynamik, Stuckdekor, Helblinghaus (um 1730); Innsbruck
Hülk 2012, 176
Die barocke Faltung unterscheidet sich von Faltungen vor dem Barock durch ihre grenzenlose Freisetzung. »Die Falten scheinen ihre Träger zu verlassen, Gewebe, Granit und Wolke, um in einen unendlichen Wettstreit einzutreten, […].« Esgeht also nicht darum, eine Falte zu beenden, sondern sie fortzusetzen. In solcher Fortschreibung von Leibniz bestimmt Deleuze den Barock »als überzeitliche operative Funktion der Faltung und trifft ihn in unterschiedlichen künstlerischen und philosophischen Verfahren an.« Die sozusagen frei flottierende Falte eliminiert unter anderem den Grenzverlauf zwischen Außen- und Innenraum. Dieses Paradigma finde sich wieder bei Le Corbusier und in der dekonstruktivistischen Architektur der Gegenwart.
Deleuze 1988, 61
Ott 2014, 185
IX.2.3.5./IX.5.3.2.
Einen anderen, höchst aktuellen Aspekt macht Mieke Bal fest, indem sie in der Falte das Einbeziehen des Subjekts in die Formung des Gegenstandes sieht. Bal verschiebt die ganze Frage auf die Rezeptionsseite. Das Dynamische offenbare sich im Ereignis des Betrachtens. Barock als Evokation eines Geschehens, in das die Rezipientin verstrickt ist! Als Beispiel eignet sich die Deckenmalerei Pozzos mit mehreren Fluchtpunkten, welche die Betrachterin in einer ständigen Dynamik halten. »Wenn der Gegenstand seinen Status gründlich ändert, dann auch das Subjekt.« Das bringt uns auf die Linie, die im 20. Jh. in der Medienkunst die avancierteste Anwendung findet.
Bal 2001
3.3.
Deleuze 1988, 36
IX.5.2.7./IX.6.2.3.