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2.1. Zur Legitimitätsfrage der Neuzeit

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Ich schlage vor, die Neuzeit als jene europäische Epoche zu sehen, die sich aus der alten Haut mediterraner und orientalischer Kultur herausschälte und sich in einer erstaunlichen Dynamik im globalen Wettbewerb den Spitzenplatz eroberte. Während die großen alten Kulturen im Orient und im Osmanischen Reich Patina ansetzten und durch machtpolitische oder religiöse Verengungen, durch Reformunfähigkeit und Moratorien bei Wissenschaften und Kommunikationstechnologien den Anschluss verloren, war Europa erstmals auf sich gestellt und hat diese Chance – immer auch gepaart mit schrecklichen Katastrophen, Rückschritten und Sackgassen – genützt. Man mag die ästhetische Konsequenz bewundern, mit der 1515 Sultan Selim I. die Druckerpresse im Osmanischen Reich verbot, um die Kunst der Kalligraphie und die Verehrung der Schreibfeder zu bewahren, aber solches Tun erstickte jeden Fortschritt. Niall Ferguson machte in einer neueren eindrucksvollen Geschichtsbetrachtung den Erfolg Europas an mehreren Kenngrößen fest: (1) am Wettbewerb zwischen den Staaten und den Individuen, (2) an der sich von ideologischen und machtpolitischen Schranken befreienden und am Experiment sich orientierenden Wissenschaft, (3) am Grundrecht auf Eigentum und (4) an der Vielfalt ästhetischer Darstellungen.

Ferguson 2011

Europa hat also das ihm aus dem Orient gereichte Material höchst produktiv und kreativ aufgenommen, daran weiter gearbeitet und sich seit dem 17. Jh. zur globalen Leitkultur entwickelt. Rückblickend wirft auch das ein Licht auf die Renaissance als jene Epoche, in der dieser Umwandlungsprozess der orientalischen zur europäischen Kultur höchst erfolgreich angegangen wurde. Die Beziehung zur eigenen Herkunft aus dem Orient und der Antike war bislang gewissermaßen ein »Arbeitsverhältnis«. Dieses wurde jetzt durch eines der Verehrung abgelöst. Nur so ist der normierte Klassizismus zu verstehen. Hatten die Renaissancekünstler bei ihren Recherchen in Rom die antike Tradition gleichsam mit dem Maßband für sich fruchtbar gemacht, war die Grand Tour zu einer Museumstour für Liebhaber der antiken und orientalischen Kulturen geworden. Gemessen an der lebendigen Kommunikation »auf Augenhöhe« in der Renaissance verklärte die Neuzeit die antike und orientalische Welt nostalgisch und romantisch, suchte in ihr in unsicherer Zeit einen zeitlos gültigen Stabilitätsanker.

4.2.3.

Man könnte an dieser Stelle eine Flut von geschichtsphilosophischen Betrachtungen zu diesem Thema auflisten. Vor allem im geschichtsbewussten 19. Jh. wurde über die »Individualität« des Zeitalters räsonniert und als »leitende Ideen« und »herrschende Tendenzen« (Leopold von Ranke) für die Neuzeit stets die Überführung von Monarchien zur Volkssouveränität und die Entwicklung der Wissenschaften ausgemacht. Im Grunde haben sich diese Kennzeichen von Ranke über Ernst Troeltsch bis zur heutigen Historikerzunft nicht wesentlich verändert. Sie wurden allenfalls ergänzt durch die komplexe Säkularisierungsthese, die in einer zugespitzten Form in der Fortschrittsidee eine verweltlichte (also säkularisierte) Heilsgeschichte erkennen will. Dagegen hat etwa Hans Blumenberg die autonome Selbstbehauptung des vernünftigen Subjekts ins Treffen geführt und nicht akzeptieren wollen, dass die Erklärung der modernen Welt wiederum auf einer christlichen Idee beruhen sollte. Max Weber wird mit dem Begriff der Rationalisierung in Verbindung gebracht. Mit diesem Begriff lässt sich nach Weber die gesamte moderne Welt beschreiben. Was als Emanzipation begann, habe zu einem anonymen System der Vernetzung geführt, die den Menschen in ein »stählernes Gehäuse« eingesperrt und Rationalität geradezu dogmatisch gemacht habe. Horkheimer, Adorno, Jürgen Habermas und andere sprachen von instrumenteller Vernunft und von einem offenen Projekt der Moderne. Darauf näher einzugehen, ist hier nicht der Ort, zumal sich diese Fragen noch drängender im 19. und 20. Jh. stellen und dort nochmals reflektiert werden sollen. Es sei an dieser Stelle nur auf eine spezielle Problemstellung der beginnenden Neuzeit verwiesen, die von Kontinuität und Diskontinuität in der Legitimation der Neuzeit handelt und dabei die Kunst miteinbezieht. Sie thematisiert damit ein Interesse, das dieser Arbeit zugrunde liegt.

Säkularisierung und Rationalisierung

IX.4.1.

Gemeint ist der geschichtsphilosophische Legitimationsdiskurs der Neuzeit aus der Schule des Historikers Joachim Ritter. Dass dabei manchmal die Anmutung transportiert wurde, die Neuzeit sei geschichtslos, ihre Zukunft sei ohne Beziehung zur Herkunft, wird hier nur als Hinweis auf Brüche in der Kontinuität gewertet, nicht als autonome Selbstlegitimation einer völlig neuen Zeit. Interessanter und kreativer scheint der Ansatz der Kompensation zu sein. Inwieweit bei Joachim Ritter, der nach üblichen philosophischen Klassifizierungsschemata in die Linie des Rechtshegelianismus eingeordnet wird, diese Kompensationsthese – sie meint im Wesentlichen eine Kompensation der Säkularisierung durch die Mächte der Tradition – angesichts der heute differenzierten Sicht auf die Säkularisierung noch haltbar ist, soll hier nicht diskutiert werden. Dies zu entscheiden, hängt nicht zuletzt vom verwandten Säkularisierungsbegriff ab. Vielmehr soll auf den aktualisierten und geschärften Ansatz bei Hans Blumenberg und vor allem Odo Marquard verwiesen werden.

Legitimations-diskurs der Neuzeit

Ritter 1965, 62

Blumenberg stellte in seinen Büchern Die Legitimität der Neuzeit und Die Genesis der kopernikanischen Welt die Neuzeit als gelungene Überwindung der spätantiken Gnosis dar, gepaart mit der Rehabilitierung der Neugier und gespeist aus dem Selbstbehauptungswillen des Subjekts, der für ihn das Zentralgestirn der Neuzeit ist. Die Gnosis mit ihrem strengen Dualismus war demnach eine weltvernichtende Ideologie. Sie negativierte die Diesseitswelt und den in ihr verhafteten Menschen. Schon das Christentum – als geschichtliche Periode: das Mittelalter – war durch den in die Welt gekommenen und die Welt erlösenden Gott ein erster Überwindungsversuch der Gnosis. Diesen Versuch sieht Odo Marquard an der Konzeption dieses Gottes als bloßem Willkürgott gescheitert. Das Übel der Welt konnte nach solchem Denken nicht in der Welt, sondern nur durch die Überwindung der Welt behoben werden. Was wir als kunstphilosophisch faszinierenden Impuls der Anagogie kennen gelernt haben, wird, in dieser Weise geschichtsphilosophisch gewendet, ein vormodernes Abwertungsszenario der Welt. Damit musste das Mittelalter an der Überwindung der Gnosis zwangsläufig scheitern. Dem Christentum gelang es nicht überzeugend, das Postulat einer negativen Welt und die dagegen verordnete Weltflucht zu beheben.

IV.4.2.

Anders die Neuzeit! Odo Marquard traktiert hier vor allem den Theodizeegedanken des Leibniz. Die Überlegung, dass der Schöpfergott angesichts der Übel in der Welt rehabilitiert und verteidigt werden musste, zeigt, wie umstürzend sich das Weltbild verändert hatte. Denn: Mit Leibniz muss sich Gott für das Böse in der Welt rechtfertigen, und zwar vor dem Menschen! Das Unglück war ein Unglück in einer an sich guten Welt. Es musste also nicht mehr mit der Welt, sondern in der Welt relativiert werden. Damit ist das Übel in der Welt, als Teil von ihr, gerechtfertigt, ja es wird zur Möglichkeitsbedingung des optimum. Wenn Leibniz von der besten aller möglichen Welten sprach, sei das keine »Jubelmeldung«, sondern eine »haltbare Verteidigungsstellung« gewesen. In dieser Mechanik der Theodizee, der Karriere des Negativen, der »Entübelung der Übel«, sieht Marquard auch für die Ästhetik relevante Entwicklungen, nämlich die Positivierung des Hässlichen. Die Kunst der Moderne rehabilitiert das Hässliche, Destruktive und moralisch Verwerfliche: »Neben die Ästhetik des Schönen tritt zunehmend die Ästhetik des Nichtschönen: des Erhabenen, des Sentimentalischen, des Interessanten, Schockanten, Romantischen, des Symbolischen und Abstrakten, des Häßlichen, des Dionysischen, des Fragmentarischen, Gebrochenen und des Bruchs sowie des Nichtidentischen und Negativen; […].« Geschichtsphilosophisch konsequent führt Marquard den Gedanken fort. Wenn in der klassischen Theodizee das Unglück relativiert wird als Mittel zum Zweck des Glücks, heiligt der Zweck das Mittel. Das aber, diese Schöpfung als »Kunst des Bestmöglichen« wäre dann – so Marquard – ein Vorbild für viele geschichtsphilosophische Konzepte von Philosophen, die zur Gewinnung des höchsten Glücks das Unglück für viele Menschen rechtfertigen: »das Optimalglück als Zweck heiligt das Unglück als Mittel.« Diese verhängnisvolle Folgerung wirft nicht nur ein schlechtes Licht auf die Güte des Schöpfergottes, es scheint auch ein Scheitern des Theodizeeprojekts von Leibniz anzudeuten.

Marquard 1995, 48

Ebd., 51/16

Gelingen kann die Theodizee aus dieser Konsequenz nur, wenn Gott vom Schöpfungsprinzip entlastet wird, ihm also sein Nichtsein erlaubt, ja »nahegelegt« wird – zur Rettung seiner Güte. »Aber indem nun geschichtsphilosophisch – die Menschen zum Schöpfer werden, indem sie – als absolutes Ich, als Weltgeist, als revolutionäre Avantgarde – ihre geschichtliche Welt selber machen, werden nun die Menschen zum Täter der Teleologisierung des Unglücks.« Die Konsequenzen sind, dass sich Menschen selbst ihre Sündenböcke suchen, denen sie die Schuld am Unglück in der Welt auflasten.

Ebd., 18; ähnl.: Marquard 1989, 75ff

Die These Marquards hat ihre Stärke nicht nur in der wohl zutreffenden Analyse des Paradigmenwechsels zwischen Mittelalter und Neuzeit in der Gottesfrage. Sie schärft gleichzeitig den Blick auf die großen philosophischen Schulen der Neuzeit, namentlich den Idealismus und dessen totalitäre Rezeptionsgeschichte. Davon sind nicht nur geschichtsphilosophische Systemansprüche betroffen, sondern auch die Kunst. Marquard legte seinen Finger auf manche Bewegungen der modernen Kunst, die in ihren künstlerischen und ästhetischen Ansprüchen eine sehr politische Botschaft transportieren. Das ist sozusagen eine neue Funktion einer scheinbar leer (= ästhetisch) und interesselos gewordenen Kunst. Denn die Entzauberung der Schöpfung hatte bei Hegel zum erklärten »Ende der Kunst« geführt und das hatte – paradox – zugleich den Beginn der Ästhetik zur Folge. Abseits von den eben erwähnten neuen Funktionalisierungen, bietet die Ästhetisierung der Kunst für Marquard eine Neuformulierung von Ritters Kompensationsthese: »Zur Entzauberung der Wirklichkeit gehört als Kompensation die Entwicklung der Subjektivität als Stätte einer ausgleichenden – der ästhetischen – Faszination.«

VIII.5.3.2.3.

Marquard 1989, 79

Nietzsche stimmte 1886 in der Vorrede der Geburt der Tragödie ähnliche Töne an und folgte Richard Wagner, nach dem die eigentlich metaphysische Tätigkeit des Menschen »die Kunst – und nicht die Moral« sei. Konrad Paul Liessmann spitzt diesen gängigen Nietzsche-Topos auf die Bemerkung zu, dass eine »ästhetische Anthropodizee« an die Stelle der ethischen Theodizee getreten sei. Die Rechtfertigung des Menschen angesichts der Grausamkeit des Daseins, könne nur mehr ästhetisch gelingen, wenn denn alle anderen Sinnerzählungen, insbesondere die religiöse und die moralische, abhanden gekommen sind.

Nietzsche 1872, 17

Liessmann 1993, 80

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