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4. April, 17:15 Uhr

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Er hatte sich schon vor ewigen Zeiten vorgenommen, seinen jährlichen Friedhofsbesuch auf Allerseelen zu verlegen, ohne diesen Plan je zu verwirklichen. Dabei hätte Allerseelen viele Vorteile gehabt. Erstens das Wetter. Ein nasskalter Novembertag passte einfach besser zu einem Gräberbesuch als ein früher Frühlingsabend im April. Er hatte auf dem Friedhof an einem besonders warmen Tag sogar schon einmal einen Allergieanfall erlebt – wegen der vielen Pflanzen und Gräser, die hier wuchsen. Bevor er hierherkam, hatte er immer geglaubt, dass es auf einem Friedhof nur Schnittblumen gab. Jetzt wusste er es besser. Pollenallergie war eine der lästigen Leiden, die ihn seit seiner Kindheit begleiteten.

Zum anderen wäre er als Friedhofsbesucher an einem Allerseelentag nie aufgefallen. Nicht dass er sich deswegen große Sorgen machen musste. Warum sollte ein Mann nicht an einem Grab trauern dürfen? Oder zumindest so tun. Er hatte stets genau darauf geachtet, die vielen Frauen, die ihm meistens mit einer Gießkanne in der Linken und einer Forke in der Rechten entgegenkamen, im Unklaren darüber zu lassen, welches Grab Ziel seiner Visite war. Es war ihm erst im Laufe der Jahre bewusst geworden, dass Friedhofsbesuch und Grabpflege eine reine Frauensache war. Er war also selbst auf dem Friedhof ein Außenseiter. Von der Wiege bis zur Bahre. Um ein Haar hätte er geschmunzelt.

Das Verheimlichen seines Ziels fiel ihm leicht. Fast ein Kinderspiel. Da er nie wirklich trauerte, konnte er sich vor dem Grab darauf konzentrieren, die Umgebung zu beobachten. Sobald jemand in seine Nähe kam, wurde aus der Salzsäule, die vor einem Grab stand und in tiefe Trauer versunken schien, ein langsam dahin schlendernder Flaneur mit einem Faible für Friedhofsatmosphäre. Er hatte einmal davon gelesen, dass ein solches Faible ein Hinweis auf einen nekrophilen Charakter war. Dabei hatte er tatsächlich schmunzeln müssen. Er hatte sich einmal beim Schmunzeln vor dem Spiegel beobachtet. Er war allerdings nicht selbstverliebt genug, um sich dabei sympathisch vorzukommen.

Jetzt war niemand zu sehen. Seit acht Jahren beherbergte das Nachbargrab zur Linken einen Kommerzialrat Ing. Romeo Nowak, wie man auf dem Grabstein lesen konnte. Dafür waren dort weder ein Geburts- noch ein Sterbedatum zu finden. Alles bestand aus grauem Marmor. Ausgestattet mit zwei pompösen Bronzeleuchtern links und rechts.

Hinter dem Grabstein befand sich eine dichte Hecke aus Buchsbaum. Wahrscheinlich, um es gegen die bröckelnde Friedhofsmauer optisch abzuschirmen. Alles stank hier nach Geld. Heute musste er sich einmal mehr fragen, wie Eltern mit dem Namen Nowak nur so grausam sein konnten, ihren Sohn Romeo zu nennen. Schon von Geburt an mit einer Belastung geboren. Damit kannte er sich aus. Interessant, dass der Vorname auf dem Grabstein ausgeschrieben war. Es hätte immerhin auch R. Nowak gereicht. Vielleicht war dieser Herr sogar stolz auf seinen Vornamen gewesen. So wie auf seine Titel. War wahrscheinlich zu seinen Lebzeiten ein unguter Zeitgenosse gewesen.

Auf der anderen Seite des einzigen Grabes, das ihn hier wirklich interessierte, gab es eines, das auf ihn wie ein Kontrastprogramm zur letzten Ruhestätte des Kommerzialrats wirkte. Die einzige Gemeinsamkeit der zwei Gräber waren die Titel. Die Leute wollten nicht ohne Titel in die Grube fallen.

Der Grabstein bestand seiner Einschätzung nach aus Granit. Er war sehr schmalbrüstig und schon ziemlich verwittert, was kein Wunder war, da er seit fast siebzig Jahren an dieser Stelle stehen musste. Johann Töpfl. Amtsoberoffizial i.R. 8. VI. 1879 – 17. IX. 1951. Die goldfarbene Schrift war bereits teilweise abgeblättert, und das Grab selbst war mit Steinen verschiedenster Art eingefasst, die alle recht locker in der Erde steckten. Es sah fast aus wie ein Grab für arme Leute. In der Mitte lauter Vergissmeinnicht, die sogar er erkannte, obwohl er sich für Blumen überhaupt nicht interessierte. Das Erdreich war feucht, so als ob es erst kürzlich gegossen worden wäre. Wahrscheinlich von einer Tochter, die ihrem Vater wohl bald Gesellschaft leisten würde.

Jedenfalls war ihm klar, dass er sich von diesem Apriltermin nie würde trennen können. 5. April. Der Geburtstag seines Peinigers. Heute musste er mit dem Vorabend vorliebnehmen. Trotz größter Bemühungen hatte er seine morgige Dienstreise nicht verschieben können. Doch das war gar nicht so schlimm. Seine Mutter hatte ihm, als er bereits längst von zuhause weg war, auch immer am Vorabend telefonisch zu seinem Geburtstag gratuliert. Sie wollte sicher sein, wie sie ihm einmal erklärt hatte, die erste Gratulantin zu sein. Ihr Grab besuchte er seltener als dieses hier. Er hatte wenig Grund, ihr und seinem Vater dankbar zu sein. In die guten Gene, die er von den Eltern mitbekommen hatte, hatten sich zu viele schlechte gemischt. Deshalb war er sein ganzes Leben lang ängstlich und feig gewesen und unsportlich dazu. Jedenfalls würde er heute die Manie seiner Mama übernehmen und schon am Vorabend des Geburtstags gratulieren. Oder zumindest an das Geburtstagskind denken.

Seine Migräne war seit heute früh noch lästiger als sonst. Sie hatte eigenartigerweise bis jetzt nicht nachgelassen. Das war kein gutes Zeichen. Kommendes Ungemach hatte sich bei ihm immer mit einer besonders heftigen Attacke über seinem rechten Auge angekündigt. Schon seit Mittag war er dabei gewesen, sich den Kopf zu zerbrechen, aus welcher Ecke das Unheil wohl diesmal kommen konnte. Seine Überlegungen waren ohne greifbares Resultat geblieben.

Auch jetzt dachte er angestrengt nach. Dabei hätte er fast die alte Frau übersehen, die nur mehr dreißig Meter von ihm entfernt war und sich mit einer randvollen graugrünen Gießkanne abmühte. Er hatte nicht den Eindruck, dass sie ihm auch nur die geringste Beachtung schenkte. Trotz allem höchste Zeit, die Maske des interessierten Flaneurs aufzusetzen.

Dürnsteiner Würfelspiel

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