Читать книгу Tannenfall. Das andere Licht - Bernhard Hofer - Страница 10

DIE KRANKHEIT, SIE ERHEBT SICH

Оглавление

Es war ein viel zu warmer Oktobermorgen. Nebel hing zwischen den wuchtigen Eichen vor meiner Terrasse. Ein Schwarm früher Gänse zog über den feuchten Himmel. Ich war wie jeden Tag sehr zeitig aufgestanden, jetzt saß ich mit meiner hellgrauen Wolldecke auf einem weißen Klappstuhl und wartete auf den Sonnenaufgang. Ich sah auf meine zitternden Hände. Sie waren alt geworden. Meine Gedanken und Erinnerungen hatten meinen Körper verändert. Sie hatten ihn zu einer zitternden Hülle gemacht, unter der ein wütender Sturm tobte, der nicht zur Ruhe kam und mich mit seinen strengen Böen immer wieder auf dem Boden krümmte.

Der entschlossene Flügelschlag eines Falken erschreckte mich. Ich folgte ihm mit meinen Blicken, wie er über den französischen Park hinauf zum Gartenhaus flog. Ich hielt den Atem an. Stand dort oben jemand? Eine Pflegerin mit ihrer Patientin? Um diese Uhrzeit? In den vielen Jahren, in denen ich hier lebte, begann das Sehen nie in den Morgenstunden. Die Amsel wagte sich mit drei leisen Tönen aus der Stille, und ich blies die Luft aus meiner Lunge. Doch! Dort oben steht jemand. Es war sie. Ich war mir sicher.

Ich erhob mich und ging zum Terrassengeländer aus mattem, geschwungenem Schmiedeeisen. Vorsichtig beugte ich mich vor und trat dabei auf die wackelige Steinplatte. Ich biss die Lippen zusammen, da ich nicht wollte, dass jemand meine Neugier entlarvte. Ich sah zu dem zweistöckigen Gebäude, das oberhalb von vier Stufenterrassen lag. Die Reste des Nachtnebels zogen darüber hinweg. Es war tatsächlich sie. Ich erkannte sie an ihrem luftigen, faltigen Rock mit den großen Schmetterlingen und Vögeln und ihren Stöckelschuhen aus blauem Leder mit Blumenmuster und einer kleinen roten Rose an der Schnalle. Sie hatte sie getragen, als ich sie zum ersten Mal getroffen und sie sich mir persönlich vorgestellt hatte.

Ich wollte ihr zurufen und ihr mit einem ausgestreckten Arm zuwinken. Aber ich hatte Angst, dass mich eine der Pflegerinnen sehen konnte, wie ich wie eine Verrückte mit meinem blassen Arm hin- und herwedelte. Das Gefühl in meinem Magen riet mir, dass ich sehr leise sein, mich wieder zurück auf meinen Stuhl setzen und warten sollte. Warten auf den Aufgang der Sonne. Wie jeden Tag. Jahr für Jahr.

Ich setzte mich auf meinen Platz zurück und faltete meine Hände. Doch meine Neugier kitzelte mich, also streckte ich, so gut ich konnte, den Hals durch das Terrassengeländer in Richtung des Gartenhauses. Sie musste wie alle anderen über den Pfad im Wald gelaufen sein, um zum Haus zu gelangen. Wäre sie über den sauber geschnittenen Park gekommen, hätte ich sie bemerkt.

Von hier sahen die Stufenterrassen aus wie eine Pyramide, auf deren Gipfel sie jetzt stand. Leiser Wind griff vom Wald her nach ihrem Rock und ließ die Schmetterlinge auf ihm tanzen. Eine Schwere verengte meine Brust, als ich erkannte, dass sie mit jemandem sprach. Sie schien wütend zu sein und fuchtelte mit ihren Armen. Ich streckte meinen Hals noch weiter vor, um zu erkennen, mit wem sie im Streit lag. Ich erkannte den Schatten einer Person, die sich über die Wand des Gartenhauses legte. Es war ein Mann. Ein großer, vielleicht alter Mann.

Ich hielt den Atem an. Konnte ich etwas hören? Ja: ihre Stimme. Sie war lauter. Und tatsächlich die eines Mannes. Sie schrie, und er – mir stockte der Atem – stieß sie mit einem Mal so kräftig von sich, dass sie auf den Rücken fiel. Ich wollte ihr schon zu Hilfe eilen, aber bevor ich mich’s versah, stand sie wieder auf den Beinen, und der Mann schien verschwunden zu sein. Während sie mit einer Hand ihr Kleid säuberte, bemerkte ich, wie sie darum kämpfte, ihre Fassung zurückzugewinnen. Und da: Sah sie zu mir? Hatte sie mich entdeckt?

Ich zog den Kopf zurück und richtete meinen Blick wieder brav zu Boden. Es tat mir leid, ich hatte sie nicht beobachten wollen. Ich dachte, ich wollte …

Schritte. Sie kam vom Hügel herunter. Auf mich zu. Vorsichtig schielte ich nach vorn. Konnte ich jetzt noch zurück in mein Zimmer? Sie würde es bemerken, sie würde den Schatten auf der Terrasse sehen. Nein, ich musste sitzen bleiben und auf die Sonne warten. Wie jeden Tag. Jahr für Jahr. Ich schloss die Augen. Ihre Schritte. Ihr Atem. Ihr Husten. Sie hustete? Ich riss die Augen auf. Mein Herz schlug wie wild. War sie krank?

»Du hast sie gesehen?«, fragte Carlotta und zog die Wolldecke über meine Schulter, damit mich der heimtückische Oktoberwind nicht erkälten würde.

Ich schwieg und blickte ertappt zu Boden. Ich hatte Angst davor, Menschen in die Augen zu sehen. Ich blickte immer auf den Mund, wie er sich bewegte, aber in die Augen zu sehen, wagte ich nicht. Ich wollte weder in mein Gegenüber eindringen noch ihr oder ihm das Gefühl geben, von mir angestarrt zu werden wie von einer Schlange, die jeden Moment angreifen konnte.

»Weißt du, ob es ihr gut geht?«

»Wieso soll es ihr nicht gut gehen?«

Sollte ich Carlotta erzählen, dass ich sie husten gehört hatte? Oder von dem Streit?

»Unsere Leiterin ist eine starke Frau. Wir müssen uns nicht um sie sorgen.«

»Aber wenn sie morgen nicht mehr kommt, was soll dann aus uns werden?«, fragte ich Carlotta und ertappte mich dabei, dass ich kurz meinen Blick hob, als wollte ich nach ihr greifen wie eine Ertrinkende.

»Sieh dir unsere Falken an! Wir verhauben sie, damit sie glauben, es wäre Nacht. Unsere Falkner tauchen sie in eine dunkle Umgebung. Da Falken Taggreifvögel sind, gehen sie nicht auf die Jagd, solange sie die Haube tragen. Sie sind ruhig. Wie wir. Und unsere Leiterin ist wie die Haube. Wenn sie plötzlich weg wäre, müssten wir alle auf die Jagd gehen. Denn plötzlich würde der Tag anbrechen. Doch dazu wird es nie kommen. Aber du weißt das doch alles besser als ich.«

»Auf uns allein gestellt? Lässt du mich allein?« Ich suchte nach ihrer Hand.

»Hab keine Angst, ich denke, das war auch kein gutes Beispiel.«

Ich spürte, dass Carlotta lächelte, und meine Schultern gaben sich genussvoll ihren knetenden Fingern hin.

»Ich könnte das nicht. Allein zurechtkommen. Ich bin nicht mutig«, sagte ich und klang dabei wie ein schüchternes Kind, das mit fast fünfzig Jahren immer noch zur Schule ging.

»Aber wenn sie nicht wiederkommt: Wer übernimmt dann die Leitung?«

Ich fuhr zu meiner Pflegerin herum und suchte in ihren dunklen Augen nach Schutz. Dabei fiel mir auf, dass sie ihre schwarzen Haare diesmal nicht hochgesteckt hatte, weshalb sie ihr ins Gesicht hingen. Vermutlich war auch sie früher aufgewacht, vermutlich hatte auch sie gespürt, dass etwas anders war.

»Mach dir keine Sorgen! Sie ist gesund, und alles ist gut.«

Ich blickte zum Gartenhaus. Es war verlassen. Nur der Waldwind schlich noch um das alte Gemäuer. Mit zugeschnürtem Hals drehte ich mich zu Carlotta und fasste ihren Oberarm. »Und du versprichst mir, dass sie nicht krank ist und … Hast du den Mann da oben auch gesehen? Er hat sie gestoßen. Ich dachte für einen Moment, dass er sie …«

Ich legte mir die Hand vor den Mund, da ich das Beobachtete für mich behalten wollte.

Carlotta strich über meinen Kopf. »Alles ist gut. Es ist jetzt Zeit für deine Dusche und das Lernen.«

Ich sah empor zum Falken, der wie ein Bote vom Gartenhaus wieder zu uns herüberflog. Er hatte keine Haube auf. Er war keiner von uns.

»Sie hatte dasselbe Kleid an wie vor zwanzig Jahren. Ich bin mir sicher, es war dasselbe. Ich habe es an den Schmetterlingen erkannt. Sie hat es wieder angezogen, als hätte sie etwas Großes vor.«

»Du musst dich jetzt fertig machen für das Lernen. Wir können später noch darüber reden.«

Wir gingen zurück auf mein Zimmer. Ich hatte das Glück, einen direkten Zugang zur Terrasse zu haben. Carlotta schloss hinter mir die Tür und sah beim Eintreten die losen Zeitungsblätter auf dem Boden. Sie hob sie auf und warf einen kurzen Blick auf das, was dort geschrieben stand.

… Es ist wie eine große, stille Krankheit, bei der man zusehen kann, wie die Tiere qualvoll um die letzten Atemzüge kämpfen, als wäre deren Zahl begrenzt …

Ich bemerkte die Falte auf ihrer Stirn. Aber sie schüttelte nur kurz den Kopf und strich mit Zeigefinger und Daumen kräftig über den Falz, bevor sie die Zeitung zu den anderen auf den Stapel legte. Er reichte bis zur Decke.

»Wir müssen hier mal Ordnung machen«, sagte Carlotta und blickte auf die anderen Türme aus alten, staubigen Zeitschriften, vergilbten Büchern und zerknitterten Manuskripten. Vor dem quadratischen Fenster, das wie eine Schießscharte in die alten Mauern geschlagen worden war, stand mein kleiner Schreibtisch aus gehärtetem Eichenholz. Ich hatte mir immer vorgenommen, ihn aufzuräumen, aber die Abschriften hielten mich die ganze Nacht wach, weshalb ich einfach keine Zeit dafür fand.

Ich hatte die Erlaubnis erhalten, meine Bilder neben dem Fenster anzubringen. Ich brauchte sie. Für meine Arbeit. Manche waren gerahmt, manche hatte ich aus Zeitschriften ausgeschnitten, manche herausgerissen, manche hatte ich selbst gezeichnet. Ich kannte jedes einzelne. Sie hatten sich in den vielen Jahren in mein Gedächtnis gebrannt. Ich hatte sie nie gezählt, aber es waren sicher hundert. Vielleicht zweihundert. Vielleicht mehr. Die meisten zeigten sie, die alte Babenbergerin. Manche Bilder hatte ich mit einem Stift markiert, hatte im dunklen Hintergrund Gesichter umkreist, die ich darin erkennen wollte. Unter manche hatte ich Notizen geschrieben. Und wenn der Platz nicht gereicht hatte, hatte ich weitergeschrieben bis auf die Wand. Aber ich besaß auch andere Bilder. Bilder von Rittern, von Königen. Sie lagen in den Schubladen.

Wenn Carlotta mich beobachtete, wie ich die Geschichte der alten Babenbergerin niederschrieb, verglich sie mich mit einem Mönch, der gebückt und weltvergessen im kalten Schatten seiner Klostermauern kauerte und mit seinem Griffel akribische schwarze Linien in ein aus Schafsleder gegerbtes Pergament kratzte. Mein Blick fiel auf ein Bild, das ich aus einem alten Geschichtsbuch hatte kopieren lassen. Es zeigte den Onkel der alten Babenbergerin, Herzog Friedrich II. von Österreich aus dem 13. Jahrhundert. Er hatte sich auf seiner Burg in Wien mit ausgestopften Tieren umgeben. Sie waren in dem schattigen bemalten Hintergrund des Bildes kaum zu erkennen. Aber ich sah sie. Ich sah sie alle. Auch die Hirsche hinter dem Schatten. Sie waren weiß. Daran hatte ich keine Zweifel.

»Ist alles gut?« Carlotta stellte sich hinter mich und strich mit dem Handrücken über meine Wange. Ich nickte und suchte zitternd ihren Blick. Sie sah müde aus. So wie ich.

»Jetzt noch duschen und dann geht’s zum Frühstück, ja? Du musst weniger arbeiten. Du brauchst den Schlaf.«

»Ich muss noch schreiben«, sagte ich, löste mich von den Bildern und begann, meine bis an den Rand vollgeschriebenen Blätter zu ordnen.

»Es ist gut, wenn es dir hilft. Aber du musst achtgeben, dass du dich darin nicht verlierst.«

»Qui scribere nescit, nullum putat esse laborem. Tres digiti scribunt. Duo oculi vident. Una lingua loquitur. Totum corpus laborat. Wer nicht schreiben kann, denkt, das sei keine Arbeit. Drei Finger schreiben. Zwei Augen sehen. Eine Zunge spricht. Der ganze Körper arbeitet.«

Ich hatte in der Zeit, in der ich mich mit dem Leben der Gertrud von Babenberg beschäftigte, ein wenig Latein gelernt, um die Geheimnisse besser deuten zu können. Aber bisher war mein Wissen vergeblich.

»Ich mache mir Sorgen um dich. Medora, ist sie da?«

Ich kippte den Kopf zur Seite. Blickte zu Boden. Ich fühlte mich unwohl, wenn ich über sie sprach. Sie war der Beweis, dass ich verrückt war, dass mit mir etwas nicht stimmte, dass ich nach all den Jahren noch immer die Krumme war.

»War sie gestern da?«

Ich nickte.

»Willst du beim Sehen darüber reden? Willst du mir erzählen, was du gesehen hast?«

»Ich war weit weg, auf Bergen, mit ihr und anderen. Wir haben gegen Wölfe gekämpft, und da waren Menschen, so viele, ein dunkles Volk, es füllte die Täler und sah zu uns herauf …« Eine Träne lief über meine Wange.

»Wer waren die anderen?«

»Ich weiß es nicht«, flüsterte ich.

Carlotta stand auf und ging ans Fenster. In der doppelten Verglasung spiegelte sich ihr Gesicht. Das bruchfeste Glas war sicherer als die Gitterstäbe von früher.

»Ich glaube, sie kommt. Die große Krankheit. Ich habe sie geholt. Die Gipfel, die Hirsche und Wölfe, diese vielen Menschen und dann diese Brände überall.«

»Das alles geschieht nur in deinem Kopf. Da sind diese schrecklichen Brände, ja, aber es gibt keine große Krankheit.«

»Es beginnt immer gleich. Zuerst Husten. Dann das Blut. Und mit dem Fieber kommt die Atemnot. Als hätte jemand die Zahl der Luftzüge begrenzt«, flüsterte ich, als wollte ich Carlotta damit überzeugen. Aber es gelang mir nicht. Ebenso wenig wie all die Jahre zuvor.

»Es ist meine Schuld.«

»Das ist es nicht.«

»Doch. Das ist es. Das war es immer.«

»Wenn du uns mit der großen Krankheit anstecken könntest, dann müssten wir doch auch längst krank sein, oder?«, sagte Carlotta und verfiel dann in Schweigen. Mit einem lauten Klacken der alten Türklinke öffnete sie das kleine Bad und legte ein weißes Frotteehandtuch auf einen Hocker aus schwarzem Rattan. Sie strich mit der flachen Hand über die Oberfläche des Handtuches und platzierte eine kleine blaue Seife in Form einer Blume darauf, bevor sie das Wasser aus der Dusche ließ. Ich liebte das warme Rauschen. Den Duft der Seife. Die Brause war in die Decke eingelassen, damit ich mich nicht daran erhängen konnte.

Ich wickelte mich aus meiner grauen Decke und ging ins Bad. Während ich mich auszog, suchte ich im Badezimmerspiegel nach Carlotta. Sie verschwand immer mehr im Dampf des warmen Wassers, aber ich konnte noch erkennen, wie sie die Zeitung, die sie vom Boden gehoben und zusammengefaltet hatte, in die Hand nahm und sie dann achtlos hinwarf, bevor sie die Wolldecke auf mein Stahlrohrbett legte.

Als die Wasserfäden über meinen Kopf fielen, sah ich wieder durch das kleine Fenster nach draußen. Die aufgehende Sonne legte die Grabstätten der Anstalt in ein feurig rotes Licht. Ich schloss die Augen. Das Wasser prickelte auf meiner Kopfhaut und floss durch meine Gedanken.

Womöglich war niemand krank. Auch nicht unsere Leiterin. Hätte doch nur jemand gesehen, was ich gesehen hatte: den Streit mit dem Mann und das Husten! Sie hatte gehustet, da war ich mir sicher.

Frau Klara, natürlich! Sie hätte sehen müssen, was dort oben im Gartenhaus passiert war. Sie hätte den Mann, der mit der Leiterin gestritten hatte, sehen müssen. Ich setzte mich an meinen Tisch und säuberte an der rot-weiß karierten Tischdecke meine Hände, bevor ich die Gabel und das Messer aus Plastik in die Hände nahm, um das Spiegelei, das auf dem Teller lag, in zwei Teile zu schneiden.

Herr Walter saß mir gegenüber und starrte mich erwartungsvoll an. »Meine Mutter, weißt du, die kommt aus Österreich. Ich bin eigentlich aus Italien. Mein Großvater hat dort gekämpft. Gegen die Deutschen.« Dann blickte er sich verstohlen um, als hätte er Angst, dass ihm bei den Worten »die Deutschen« Konsequenzen drohten.

»Hast du Klara gesehen?«

»Klara. Sie hat auch jemanden in Österreich.«

Ich sah auf den Platz neben Walter. Er war leer. Die Frau, die jeden Tag oben beim Gartenhaus an der Tür stand, fehlte.

»Sie fühlt sich nicht gut«, sagte Marie und sah mich mit einem breiten Lächeln an.

»Bitte um Ruhe. Bereitet euch auf das Lernen vor!«, rief einer der Aufseher. Er hatte die Arme auf dem Rücken gekreuzt und ging zwischen den Tischen auf und ab. Im Speisesaal fanden hundert Menschen Platz. Doch auch wenn alle hier waren, war es meist so still, dass man gehört hätte, wenn ein Plastikmesser zu Boden fiel. Carlotta stand mit ihrer gelben Dienstkleidung hinter mir. Sie berührte meinen Rücken, um mich aufzufordern, meine Unterhaltung einzustellen oder zumindest leiser zu reden. Ich nickte kaum sichtbar und suchte mit meinen Blicken nach Marie, die neben mir mit dem Eigelb Kreise malte.

»Was hat sie? Klara. Ist sie krank? Hat sie Husten?«

Carlottas Finger bohrte sich immer tiefer in meinen Rücken. Wieder nickte ich und blickte zu den Ärzten, die an der Eingangstür des Speisesaals miteinander sprachen. Sie wirkten aufgeregter als sonst. Etwas war anders. Bestimmt machten sie sich Sorgen um die Leiterin. Sie wussten etwas.

Die Uhr schlug. Acht Uhr. Zeit für das Lernen. Alle Patienten standen gleichzeitig auf, und die Pfleger, die hinter ihnen standen, legten einem unsichtbaren Zeichen folgend ihre rechte Hand auf die Schulter ihrer Wirte.

Wir waren ihre Wirte und sie unsere Diener, denn nach der Überzeugung der Leiterin der Heilstätte musste das gewöhnliche Bild des Kranken, der von einem Pfleger betreut wurde, gedreht werden. Da unsere Welt verdreht war, müsste man sie nur wieder zurechtrücken, um wieder den Normalzustand herzustellen. Also sollten nicht die Kranken von den Gesunden lernen, wie man die Klarheit in seinen Gedanken wiederherstellte, sondern die Gesunden sollten von den Kranken lernen, wie diese dachten. Dadurch entstand ein gemeinsames Verständnis, das vom Bild des Kranken bestimmt wurde und nicht von dem der gesunden Menschen. Dabei war es wichtig, dass in der Zeit des Lernens nicht gesprochen wurde. Es ging darum, die Klarheit zurück in das Denken zu bringen. Erst wenn diese Klarheit bestand, konnte man mit der eigentlichen Behandlung beginnen. Carlotta hatte mir das damals so erklärt, dass das Lernen ähnlich war wie Meditieren. Nur dass man dabei nicht allein auf dem Boden saß, sondern gemeinsam mit den anderen Wirten. Dahinter standen unsere Diener und versuchten, ebenfalls in absoluter Stille in unsere Welt vorzudringen.

In einer langen, schweigenden Schlange gingen wir zur Schlosskirche, wo wir uns in zehn Zehnerreihen auf unsere Kissen vor dem Altar knieten. Ich erinnerte mich noch an das erste Mal, als ich die Anwesenheit Gottes in der Kirche so stark gespürt hatte, dass ich mich übergeben musste. Mein Verhältnis zu Gott war seit meiner Kindheit und Jugend gestört, und ich hatte Mühe, das Kreuz anzusehen. Ich wusste noch, dass ich die Nächte durchgeweint hatte, und glaubte, auch geschrien zu haben. Dann aber, als eines Tages alle Kreuze entfernt worden waren, war es besser geworden. Ich hatte gespürt, dass nicht nur ich erleichtert gewesen war, dass Gott diesen Raum verlassen hatte. Mit einem Mal waren auch die Gesichter der anderen Wirte weicher.

»Zuerst stirbt Gott, dann stirbt der Mensch.« Es war die verspielte Stimme der Leiterin, die damals plötzlich hinter mir aufgetaucht war und mir liebevoll diese Worte ins Ohr geflüstert hatte. »Jetzt ist alles gut. Er beobachtet dich nicht mehr. Niemand beobachtet dich jetzt noch. Du kannst loslassen.« Dann hatte sie mir über die Wange gestrichen, und ich – daran erinnerte ich mich noch immer genau – hatte sie dankbar angelächelt.

Das Lernen dauerte stets von zehn bis zwölf Uhr. In diesen zwei Stunden leerten wir unsere Köpfe und versanken in einer stillen Welt. Hinter uns legten unsere Diener die Hände auf unsere Schultern und glichen ihren Atem an unseren an. War es in den ersten Monaten schwer gewesen, Stille zu finden, da immer wieder ein vereinzeltes Lachen oder Kreischen oder sogar ein Erbrechen unsere Andacht gestört hatte, so war es mit der Zeit immer besser gelungen. Ich war überrascht gewesen, wie einfach mir das Lernen fiel. Vielleicht lag es daran, dass ich Stille gewohnt war. Immerhin hatte ich Stunden, Tage und Wochen in der Stille eines Erdloches zugebracht.

Nach dem Lernen gingen wir zurück in den Speisesaal, wo wir nach einem festgelegten Speiseplan wieder schweig- und achtsam unsere Teller leer aßen. Ich liebte den Donnerstag, denn dann gab es immer Erbsensuppe mit Thunfisch. Wieder war Klaras Platz leer.

Um dreizehn Uhr begann das Sehen. Oder wie Carlotta es nannte: das Umherwandern. Es gab so viele wunderbare Wege am Seußlitzer Grund. Die Wege führten durch die Wälder, aus denen Schatten rieselten und Wasser flüsterte. Oder sie schlichen über satte Felder mit weitem Blick und hinauf zu kleinen Hügeln, die nach Wein rochen und geschützt waren mit Dächern aus Blättern. Hätte man diese Wege von oben gesehen, vom Himmel, von dort, wo der Mond in der Nacht auf alles herabschaute, dann hätte man ein verspieltes Labyrinth gesehen, das sich im Seußlitzer Grund verbarg wie ein Geheimnis. Und auch wenn es seltsam klang, dachte ich, dass sich in diesen vielen Jahren des Umherwanderns die Wege verändert hatten. Wie eine verschlungene Welt, die immer mehr Weg gebar.

»Umherwandern heißt sehen. Achtsam wahrnehmen. Die Sprache ist beim Flanieren eine andere. Ebenso wie unsere Gedanken. Und unser Atem. Heilung ist ohne das Sehen nicht denkbar«, hatte mir Carlotta erzählt, als wir zum ersten Mal oben auf dem Gartenhaus gestanden und über das ganze Land gesehen hatten wie ein heimlicher Herrscher über seine Ländereien, die im Gold der Sonne funkelten.

Ich hatte immer das Gefühl, dass Carlotta mit dem Sehen einen anderen Plan verfolgte. Als hätte sie mich beobachtet, wenn ich in die Ferne blickte oder in die Wälder. Als hätte sie erwartet, dass die Bilder in meinem Kopf sich hier auf den Wegen zeigten und sie daraus einen tiefen Blick in meine wahre Seele erhielt. Aber ich wollte das nicht. Niemand durfte in meine Seele blicken. Es gab dort nach dem Tod meiner beiden Kinder auch nichts mehr zu sehen. Carlotta war all die Jahre immer so behutsam gewesen. Sie hatte sich wie ein sanfter Frühlingswind an den Ort meiner größten Wunde herangetastet und mir von dem Duft des Grases und den Gesängen der Bienen erzählt, bevor sie mit einer winzigen Frage, oft nur einem Wort oder einer Geste, ein Seil in meine Dunkelheit geworfen hatte.

»Diese wunderbare Welt der Natur: wie alles funktioniert, ineinanderpasst! Das Schöne, das Zauberhafte, das sich immer wieder neu Erschaffende, das Leben … das Sterben.«

Das Sterben.

Es beginnt immer gleich. Zuerst Husten. Dann das Blut. Und mit dem Fieber kommt die Atemnot. Als hätte jemand die Zahl der Luftzüge begrenzt.

»Du bist nicht schuld. Sie waren krank«, hatte Carlotta einmal gesagt.

Und ich hatte geschwiegen. Ich war schuld. Es war meine Schuld. Ich hatte ihnen die Krankheit gebracht, ich hatte der Welt die Krankheit gebracht, die große Krankheit.

In der Ferne schlugen Glocken. Es war sechzehn Uhr.

»Zuerst stirbt Gott, dann stirbt der Mensch«, antwortete ich meiner Dienerin, die mit der Hand eine Mücke aus ihrem Gesicht wedelte.

»Warum sagst du das?«

»Sie hat das gesagt, als sie die Kreuze entfernen ließ«, sagte ich und ging zurück zum Schloss, da nach dem Abendessen das Siegen auf uns wartete.

Ich weiß nicht, woher das Geschrei kam, aber als ich mit Carlotta den Hof betrat, stand Walter mit gezücktem Bogen vor seinem Diener. Der Pfeil war mit einer stumpfen Spitze ausgestattet und sah aus, als hätte man ihn in einem Spielwarenladen erstanden. Doch für Walter war dieser Bogen eine tödliche Waffe, die er auf seinen Diener richtete. Der stand mit erhobenen Händen vor ihm.

»Ich will sofort zu ihr!«, schrie Walter.

Carlotta fasste von hinten meine Hand und flüsterte mir ins Ohr: »Seine Mutter ist gestorben.«

»Und warum lassen sie ihn dann nicht zu ihr?«

»Das geht nur in Ausnahmefällen.«

Walter spannte den Spielzeugbogen so weit, dass das dünne Holz durchzubrechen drohte.

»Wo ist sie? Die Leiterin. Ich habe sie doch heute hier gesehen. Sie würde es mir erlauben. Lasst mich gehen!«

Sie ist krank, Walter. Auch Klara ist krank. Wir alle werden bald krank sein.

»Senken Sie Ihre Waffe, Wirt Walter!«, sagte eine strenge Frauenstimme aus einem der vielen Lautsprecher, die überall in der Heilstätte auf uns gerichtet waren.

»Wo ist sie?«

Walters Diener griff langsam nach hinten und holte einen echten Bogen hervor. Er hatte über die Jahre immer mit seinem Patienten das Bogenschießen trainiert. Nun spannte er den Bogen, und mit dem scharfen Zerren der Sehne schlich eine schreckliche Stille über die Heilstätte. Der Diener zielte mit seinem Pfeil direkt auf den Kopf von Walter, der ihm gegenüberstand mit seiner kleinen Spielzeugwaffe.

»Hört auf!«, schrie ich plötzlich und erschrak vor meinen eigenen Worten.

Walter nutzte die Verwirrung und schoss seinen stumpfen Pfeil gegen die Brust seines Pflegers, der an der gelben Dienstkleidung abprallte wie ein geworfenes Stöckchen.

Doch plötzlich löste sich die Spannung. Aus Walters Hand fiel der Brief, der alles ausgelöst hatte. Er bückte sich heulend, hob den Umschlag wieder auf und streckte ihn seinem Diener entgegen. Dieser senkte seinen Bogen und nahm den Brief.

»Woher hast du den?«, fragte er Walter, der wieder begann, nach Hilfe zu rufen.

»Du hast ihn gestohlen! Du weißt, dass Stehlen hier streng geahndet wird. Jetzt gib den Brief seinem rechtmäßigen Eigentümer zurück!«

»Meine Mutter ist tot«, sagte Walter immer und immer wieder. Erst als sein Diener den Bogen erneut spannte und auf seinen Kopf zielte, lenkte Walter ein. Er drehte sich um und kam zu mir.

Ein Schauer lief durch meinen Körper.

Ein Brief. Für mich. Nach zwanzig Jahren.

Meine Hände zitterten.

»Mein Beileid«, sagte Carlotta mit leiser Stimme.

Mein Beileid. Der Tod war zurückgekehrt.

Ich presste die Augen zusammen. Ich spürte den Brief in meiner Hand.

»Ich habe Angst …«

»Es ist dein Vater. Du musst dich verabschieden. Auch nach allem, was geschehen ist. Oder gerade deswegen.«

»Aber es ist doch verboten.«

»Es gibt Ausnahmen, wie du weißt.«

»Aber ich bringe den Tod …«

»Das tust du nicht. Wir alle sind gesund. Ich begleite dich und passe auf dich auf, ja?«

»Und sie? Medora? Glaubst du, dass sie auch mitkommt?«, fragte ich meine Dienerin, so leise ich konnte, damit mich die anderen nicht hörten.

Carlotta nickte und nahm meine Hand. »Ich passe auf dich auf, ich verspreche es dir«, sagte sie zu mir und blickte in den Himmel, wo der Mond über uns stand.

»Sing zum Mond. Du kennst unser Lied. Solange er da ist, werde ich auf dich aufpassen.«

Sing zum Mond.

Ich legte meinen Kopf ebenfalls in den Nacken und blickte in den schwarzen, mit Sternen übersäten Abendhimmel. Und während auf dem Turm ein Falke flatternd seinen letzten Flug auf einem knarrenden Balken beendete, entschloss ich mich, meinen Vater noch einmal zu sehen.

Tannenfall. Das andere Licht

Подняться наверх