Читать книгу Tannenfall. Das andere Licht - Bernhard Hofer - Страница 11
EIN KRUMMER TON
Оглавление»Es sollte blau sein. Hellblau«, sagte ich zur Verkäuferin, die mit mürrischer Miene Kleider von dem Ständer hob, auf dem »Reduziert um 70 %« stand.
»Das ist alles, was wir haben. Wenn Sie etwas anprobieren wollen: Dort hinten sind die Umkleiden.«
Die Verkäuferin legte mir die Kleider in die Arme und kehrte wieder zu ihrer Zigarettenpause vor dem Laden zurück. Das Geschäft war menschenleer, und in den Regalen lag Staub. Ich suchte in meinen Armen nach einem passenden Kleid, fand aber nichts. Weiter hinten im Laden sah ich einen Modeprospekt. Darauf war eine junge Frau in einem hellblauen Kleid zu sehen, das mit weißen Spitzen versehen war.
Carlotta hatte mir einmal beim Sehen erzählt, dass an einem Wallfahrtsort die Statue der Muttergottes mit einem hellblauen Kleid der wartenden Prozession präsentiert worden war. Vater war evangelisch gewesen. Er hatte nichts von der Jungfrau Maria gehalten. Aber ich dachte, dass er vielleicht am Ende seines Lebens seinen Frieden mit ihr gemacht hätte. Und so hatte ich beschlossen, als Zeichen der Versöhnung in einem hellblauen Kleid zu seiner Beerdigung zu gehen. In Wahrheit erinnerte es mich an das Kleid unserer Leiterin.
Als die Ladenbesitzerin, eine unsportliche Frau Mitte vierzig mit kurzen, stumpfen Haaren und einem schlecht aufgetragenen rosa Lippenstift, zurück in den Laden kam, zeigte ich auf den Modeprospekt.
»Darauf gibt es aber keine siebzig Prozent Rabatt«, sagte sie mürrisch und ging so dicht an mir vorbei, dass ich den kalten Rauch auf ihrem roten Strickpullover riechen konnte.
»Sind Sie nicht die Kleine vom alten Erdsegen?«, fragte sie und stellte den Karton, den sie vom Lager geholt hatte, auf den Verkaufstresen am hinteren Ende des Ladens.
Ich nickte vorsichtig und senkte meinen Blick, wo er unbeholfen über den hellbraunen Linoleumboden umhersprang.
»Er war lange nicht mehr in der Kirche, hat mir mein Vater gesagt. Er soll mal wiederkommen. Sonst betet ja niemand mehr für uns, hat mein Vater gesagt. Wie geht es ihm denn? Lebt er noch draußen auf dem Hof?«
»Er ist gestorben.«
Betretenes Schweigen, dann sagte die Verkäuferin mit neu angekurbelter Stimme: »Das tut mir aber leid.« Ton und Blick trieften vor falschem Mitleid. »Wann denn? Ich habe gar nichts gehört.«
»Vor fünf Tagen. Heute ist das Begräbnis.« Ich schluckte und wagte, kurz hochzusehen. Hitze stieg mir in die Wangen, und ich hoffte, dass ich bald wieder den Laden verlassen konnte, zusammen mit dem blauen Kleid.
Die Verkäuferin blickte zwischen dem hellblauen Stoff, der aus dem Karton blitzte, und mir hin und her. Ich wusste, dass sie mich fragen wollte, wozu ich das Kleid brauchte, aber sie schwieg.
»Wie gesagt: Siebzig Prozent kann ich Ihnen nicht geben, aber sagen wir dreißig? Weil wir uns kennen. Ich drücke ein Auge zu.«
Ich zog meinen Mund auseinander, versuchte zu lächeln und machte eine Art Knicks, wie es Vater von mir immer verlangt hatte, wenn mir jemand etwas Gutes getan hatte. Dann trat ich an den Tresen, kramte aus meiner Hose aus hellbraunem Cord ein paar Münzen hervor und schob sie zur Verkäuferin. Sie sah mich an und musterte mich von oben bis unten. Ich zog meine hellgelbe, zerknitterte Bluse nach unten und wischte meine alten dunkelroten Schuhe an der Wade sauber.
»Mehr habe ich leider nicht«, sagte ich und bemerkte, wie meine Stimme zitterte.
»Weil du ein armes Ding bist«, sagte die Verkäuferin und schob die Münzen zu mir.
Ich bedankte mich mit einem schnellen Nicken und verließ den Laden, ohne das Kleid anzuprobieren.
Der Friedhof lag fünfundzwanzig Kilometer südlich von Heyda, links neben dem großen Laubbaum, der wie ein trauriges Denkmal auf den weiten Feldern stand. Hinter dem Baum fiel die Ebene ein wenig ab und mündete noch weiter hinten in einen lichten Wald. Dahinter konnte man die Windräder erkennen und die Türme des Industriegebietes.
Mein Vater hatte zu Lebzeiten darum gebeten, im Friedewald bestattet zu werden. Der Hain war der Rest eines zusammenhängenden Urwaldkomplexes, der sich in frühen Tagen von Seußlitz bis weit in das Elbsandsteingebirge erstreckt hatte. Inzwischen war der Friedewald ein Bestattungswald, wo zwischen Buchen und Eichen Menschen ihre letzte Ruhestätte fanden.
Ich kam zu spät. Das Urnenbegräbnis war bereits im Gange. Eine kleine Gruppe hatte sich um einen Geistlichen versammelt, der aus einem handlichen Buch vorlas. Überall hingen große Schilder aus Holz, die auf die einzelnen Ruhestätten hinwiesen. Ich näherte mich langsam der Gruppe und versuchte, nicht auf einen Zweig zu treten. Doch schon bei einem meiner nächsten Schritte lenkte das laute Knacken eines brechenden Astes alle Aufmerksamkeit auf mich, und ich starrte mit einem Mal in viele fragende Gesichter.
»Nicht die!«, sagte eine Frau, die gut genährt und mit dickem silbernen Schmuck behangen unter einem Trachtenhut zu mir hersah.
Schnell mischten sich ein paar Zischlaute unter die Trauernden. Sie waren nicht mehr als ein Grüppchen von zehn bis fünfzehn Menschen. Aber die ältere Frau ließ nicht locker. Ich kannte sie. Sie war die Mutter meines verstorbenen Mannes, Dimitri, des leiblichen Vaters meiner armen Kinder.
»Sie ist der Teufel. Bringt sie weg von hier!«, schrie die alte Frau und sah mich mit giftigen Blicken an. »Du gehörst hier nicht her.«
Ich erinnerte mich an die Bestattung meines Mannes. Er war nach kurzer, schwerer Krankheit gestorben. Zuerst war, quasi über Nacht, der Husten gekommen. Dann das Fieber und am Ende hatte er nach Atem gerungen. Eine besonders seltene Form von COPD, hatten die Ärzte gesagt.
Seine Mutter hatte das anders gesehen und mich für den Tod ihres Sohnes verantwortlich gemacht. »Du hast etwas Kaltes, etwas Dunkles an dir, vor dem alles Leben flieht. Du bist das Krumme in dieser Welt. Du bist das Schmutzige. Du gehörst nicht zu uns. Durch dich ist diese verfluchte Krankheit zu ihm gekommen!«, hatte sie mich immer wieder angebrüllt und war vor dem Baum ihres Sohnes zusammengebrochen. Dann hatte sie sich einen Ast gesucht, der in ihren Augen das Krumme in mir verkörperte, und versucht, mich damit zu schlagen. Und ich hatte es zugelassen. Ich hatte mich nicht gerührt, sondern nur still geweint, als der Ast über meinem blutigen Schädel zerbrochen war.
Als die Alte jetzt wieder nach einem Ast in ihrer Nähe suchte, nickte ich und floh aus dem Wald. Wieder versuchte ich, die Beisetzung so leise wie möglich zu verlassen. Ich beschloss, zu dem großen einsamen Baum zu gehen, wo früher mein Erdloch gewesen war. Von dort konnte man den Wald in der Entfernung sehen, und von dort wollte ich mit meinem hellblauen Kleid Abschied von meinem Vater nehmen. Meinem tyrannischen, brutalen Vater.
Ich suchte das Erdloch, das früher neben dem Baum gelegen hatte. Es war so groß gewesen, dass ich mich der Länge nach hineinlegen konnte, und so tief, dass mich niemand von der Straße aus gesehen hatte, wenn ich auf allen vieren gekauert hatte. Als ich den Platz gefunden hatte, begann ich, mit den Händen Erde aus der Wiese zu heben. Ich hörte erst damit auf, als ich ein kleines, knöcheltiefes Loch geschaufelt hatte. Ich fasste an den Stoff des blauen Kleides und setzte mich in die feuchte Kuhle. Dann wandte ich mich in Richtung des Waldes, wo mein Vater nun seine letzte Ruhe fand.
Ich suchte nach der Trauer in mir, aber ich fand sie nicht. Ich dachte an die vielen Wochen, die ich hier zugebracht hatte, um die Vergebung meiner Sünden zu erbitten. Als mein Mann gestorben war, hatte es sogar einen ganzen Monat gedauert. Mein Vater hatte beim Baum gewartet und mich mit dem Gürtel geschlagen, wenn ich auch nur einen Augenblick abgelassen hatte, Gott um die Vergebung meiner Sünden anzuflehen. Nur alle zwei Tage durfte ich aus einer Holzschale trinken. Das Essen hatte er mir ganz verboten. Ich magerte in der Zeit der Buße so sehr ab, dass wir anschließend ins Krankenhaus fahren mussten, wo mein Vater den Ärzten von einer Bulimie erzählte, die ich nie gehabt hatte.
Jetzt war er tot, und ich saß mit einem hellblauen Trauerkleid in dem Erdloch, das er für mich auserkoren hatte. Es begann zu regnen. Als ich nach oben blickte, verschwand der letzte Rest Himmel im dunstigen Grau. Über mir stand ein Falke. Es gab hier viele Falken.
Ich hatte den Wagen nicht gehört. Er hatte oben hinter den zwei Bäumen gehalten. Von dort konnte man das Erdloch ins Visier nehmen und mich beobachten. Ich war mir sicher, dass auch mein Vater oft dort gestanden hatte.
»Greta? Bist du es?«, rief eine junge Stimme durch den Regen.
Ich sah hoch und erkannte Anja.
Sie war mit mir in die Schule gegangen, und ich hätte gesagt, dass sie die einzige Freundin war, die ich je gehabt hatte. Anja war hübsch, hatte hellbraunes, gelocktes Haar und eine reine Haut. Sie hatte diese offenen Augen, in die sich Männer immer verliebten. Anja war mittlerweile mit einem aus dem Industrieviertel verheiratet. Sie hatte zwei Kinder und war immer noch sehr hübsch. Sie hatte mir einmal geschrieben und sich mit mir treffen wollen. Ich konnte mich nicht erinnern, warum ich damals nicht geantwortet hatte.
Anja war allein. Sie sperrte den Wagen ab und kam von der Straße zu mir. Sie reichte mir die Hand und half mir, aus dem kleinen Loch aufzustehen. Ich dachte an damals, als ich von den Mädchen in der Schule von einem kleinen Felsen hinter dem Friedewald gestoßen worden war. Anja hatte sich damals vor die wütenden Mädchen gestellt, die auf mich einschlagen wollten wie auf ein tolles Wild, das zähnefletschend auf dem Boden lag. Mit meinen schmutzigen Händen fasste ich nach Anjas Hand. Wie damals.
»Was machst du hier?«
Ich senkte meinen Blick und sagte: »Nur Luft schnappen.«
»Dein Vater wird heute beerdigt. Und sie lassen dich nicht zu ihm. Habe ich recht?«
Ich nickte.
»Komm. Ich bringe dich … nach Hause.«
Der Hof war alt. Der ständige Wind hatte an den Fassaden seine Spuren hinterlassen. Das zweistöckige Holzgebäude sah aus wie eine heruntergekommene Südstaatenvilla aus dem 19. Jahrhundert. An die durchbrochenen Zäune und die zerschlagenen Fensterscheiben hatte ich mich längst gewöhnt. Sie waren mir vertraut.
Anja stellte ihren Wagen vor der Eingangstür ab und ließ mich aussteigen.
»Ich … äh … danke dir! Ich würde dich gerne hineinbitten, damit wir einen Kaffee trinken oder so … aber ich befürchte, dass …«
»Schon gut, Greta.«
Ich wartete, bis Anja wieder den Wagen startete. »Warum gehst du nicht weg?«, fragte sie. »Ich kann dir helfen.«
»Ich bin Ende vierzig. Wo soll ich hin?«
»Es ist doch nie zu spät, irgendwo neu anzufangen.«
»Ach, das sind doch nur leere Worte.«
»Aber was willst du denn hier tun? Jetzt, wo dein Vater tot ist.«
Ich sah Anja an. Sie wusste nicht, wo ich die letzten zwanzig Jahre meines Lebens verbracht hatte. Ich spürte ihr Mitleid von damals.
»Ich kann doch nichts mit diesen Händen anfangen«, sagte ich und zeigte ihr meine schmutzigen Finger.
»Aber du bist doch klug. Geh doch in die Stadt, dann wird sich schon etwas ergeben! Hier bleiben kannst du nicht. Wovon willst du denn leben?«
»Ich kann mit ihnen nichts anfangen«, wiederholte ich meine Worte und blickte auf meine Hände. »Mein Kopf ist meist auch ganz schwer. Und ich weiß nicht, ob das, was ich darin sehe, immer wahr ist …«
Ich spürte die Träne, die über meine Wange lief. Wie gerne wäre ich in Anjas Auto gestiegen und fröhlich geworden.
»Weiß du was? Komm erst mal zu dir! Ich besuche dich am Wochenende, dann reden wir. Und ich bringe Kaffee mit. Ich muss jetzt leider los. Mein Mann und ich haben einen wichtigen Termin, und ich muss vorher noch zum Friseur. Aber ich komme, versprochen.«
Ich nickte und lachte dazu – und wusste, dass ich Anja nie wiedersehen würde.
Ich wartete, bis ihr Wagen verschwunden war, dann trat ich ins Haus. Vater hatte die Tür nie abgesperrt. Er hatte geglaubt, dass man das Böse nicht einfach aussperren konnte, indem man einen Schlüssel in einem Schloss dreht.
Modrige Luft und der Gestank von Müll empfingen mich. Ich ging durch einen dunklen Flur nach rechts und setzte mich an den Tisch, wo sonst mein Vater gesessen hatte. Ich nahm seine Körperhaltung ein. Nach vorne gebückt, den Kopf gesenkt, mit dem Blick nach unten, wo die gefalteten Hände lagen. Ich saß so lange in dieser Position und wartete, bis die Nacht kam. Dabei versuchte ich, Abschied von ihm zu nehmen. Ihn irgendwie zu verstehen.
Nach dem frühen Tod meiner Mutter hatte mein Vater mich immer in die Kirche mitgenommen, wo ich mit kerzengeradem Rücken neben ihm sitzen musste. Ich durfte meinen Blick nicht von dem großen Kreuz hinter dem Altar nehmen. Sobald ich es doch tat oder meine Augen vor lauter Müdigkeit zufielen, stieß er mir mit dem Fuß in die Wade. Und zwar so, dass es niemand bemerkte. In der Schule wurde ich dafür gehänselt. Dass ich mit meiner roten, gewalkten Jacke und meinen schmutzigen Händen immer still neben meinem Vater saß. Ich war das schmutzige Mädchen, das aussah wie ein blonder Junge und Angst hatte zu sprechen, da es den Gürtel seines Vaters fürchtete.
Vater gab mir damals die Schuld am Tod meiner Mutter. Eine fleißige Bäuerin mit kleinen, wachen Augen und ordentlichen Bewegungen. Ich erinnerte mich noch an die Zeit, als unter ihren Händen der Hof erblüht war. Überall hatten Blumen gestanden, und es hatte geduftet und in allen Farben geleuchtet. Sie hatte ein besonders Geschick gehabt, Dinge in Position zu rücken und Wärme an Orte zu bringen, an denen sonst die Kälte gewohnt hätte. Früher hatten wir Pferde gehabt, und viele Leute waren von Dresden gekommen, um zu reiten. Und wir besaßen Kühe und sogar Falken, die von den Kindern, die ich ganz selten mit nach Hause brachte, mit großen, ängstlichen, aber neugierigen Augen bestaunt wurden.
Auch meine Mutter war sehr plötzlich gestorben. Zuerst war es nur ein Verdacht in seinem Herzen gewesen, dass ich die Schuld an ihrem Tod trug, aber je tiefer er in seinem Glauben nach Trost suchte, desto mehr gelangte er zu der Überzeugung, dass nur der Teufel ihm seine Frau hatte nehmen können. Der Teufel – seine Tochter.
Bei meinem ersten Anfall hatte ich gehört, wie er mit einem hohen Pfeifen den Gürtel aus seiner Hose zog, um ihn mir mit voller Wucht in mein verzerrtes Gesicht zu schlagen. Als sich mein Körper zum ersten Mal verkrampft hatte, hatte ich noch gedacht, dass es die verborgene Trauer um meine tote Mutter wäre. Doch der Arzt, ein alter Trunkenbold aus Heyda, wurde Zeuge, wie das zuckende Bündel Mensch auf dem Küchenboden mit verkrampften Zügen herumbrüllte, und nannte meinem Vater den Namen meiner Krankheit: Epilepsie.
Die eindeutige Diagnose konnte meinen Vater jedoch nicht umstimmen. Für ihn war ich ein krummer Mensch gewesen, der von dunklen Mächten besessen war. Und wann immer der Geschmack von Hafer meinen Mund berührte und ich deshalb wusste, dass die Krämpfe bald wieder nach meinen Armen und Beinen fassen würden, machte ich mich gleichzeitig darauf gefasst, dass er mich an den Haaren nach draußen zerren, mich schlagen und in das Erdloch ziehen würde, das er für mich ausgehoben hatte. Ich sollte darin Buße tun. So lange, bis das Krumme aus mir verschwunden wäre und ich nicht mehr den Tod über die Menschen brächte.
Ich war acht Jahre alt, als meine Mutter starb und das Krumme kam. Nachdem das Zittern in meinen Gliedern verschwunden war, schob sich das schwitzende Gesicht des Dorfarztes vor meine Augen, bevor seine Hand mein rechtes Lid nach oben zog. Der Arzt roch nach warmem Alkohol und dem süßen Rauch einer Pfeife. Auf seiner geschwollenen roten Nase stand ein dickes, langes schwarzes Haar senkrecht empor.
»Fallsucht«, sagte er und sah zu meinem Vater, der mit verschränkten Armen aus dem Fenster blickte. Ich sah an seinem Kiefer, dass er seine Backenzähne aneinanderrieb. Er wiederholte immer wieder die Worte des Arztes. Fallsucht. Epilepsie. Aber für ihn waren es nur Worte, denn insgeheim war ich für ihn von diesem Zeitpunkt an nur noch »die Krumme«.
Nach meinem ersten Anfall brachte mich der Arzt in mein Bett und befahl mir, vorerst Ruhe zu finden. Obwohl ich ihn abstoßend fand, fasste ich nach seiner Hand, da ich Angst vor dem hatte, was passieren würde, wenn er uns verließ. Angst vor meinem Vater.
Kaum war der Dorfarzt weg, kam mein Vater zu mir ins Zimmer und befahl mir, aufzustehen und mit nach draußen zu gehen. Er hatte eine Schaufel in der Hand. Ich hatte Angst, ihn zu fragen, wohin wir gingen. Meine Beine schmerzten von den Krämpfen. Ich hatte solche Angst, dass das Krampfen und Krallen und Schreien in mir wiederkommen würde. Aber der Schatten hinter mir trieb mich weiter nach draußen. In den Regen. Über den schmutzigen Weg zu den zwei Bäumen, von denen der größere mit dichtem Laub im Schwarz der Nacht auf mich wartete.
Mein Vater befahl mir, mich an den Baum zu stellen und ruhig zu sein, bis er mit der Arbeit fertig war. Ich gehorchte und stellte mich mit dem Rücken zum Baum. Lange noch spürte ich die raue Rinde auf meiner Haut. Ich zitterte am ganzen Leib, und der Regen lief mir über das Gesicht und fraß meine Tränen.
»Du hast den krummen Ton«, sagte er immer wieder und fluchte. »Du bist schuld, dass die große Krankheit uns findet. Sie wird uns am Ende alle töten.« Wütend stieß er die Schaufel in die Erde. Tiefer und tiefer. Bis endlich das Erdloch ausgehoben war. Mein Vater war ein großer Mann, doch hätte ihn jemand mit der Schaufel von hinten auf den Kopf geschlagen und wäre er in das Loch gefallen, dann wäre er darin verschwunden, und man hätte ihn nicht mehr gesehen. Aber da war niemand, der ihn schlug. Da war niemand außer dem Regen. Und mir.
Als Achtjährige stieg ich zum ersten Mal in das Erdloch. Die Erde unter meinen Füßen war nass, weich und klebrig. Ich spürte kleine Wurzeln zwischen meinen Zehen. Dann befahl er mir, mich hinzulegen. Mit dem Kopf nach unten. Ich kniete mich hin und schob den Oberkörper so lange nach vorne, bis mein Gesicht die kalte Erde berührte. Der Geruch der Erde berührte meine Lippen. Ich schloss die Augen und fror. Ich hörte meinen Vater, wie er begann, mich zu verfluchen, wie er immer wieder sagte, dass ich den krummen Ton hätte und dass ich so lange in der Erde bleiben müsste, bis das Krumme aus mir verschwunden wäre. Aus krummen Wurzeln wüchsen krumme Bäume.
Und dann begann er mit den Psalmen. Mit den Gebeten. Ich musste sie wiederholen. Jedes einzelne. Es waren wirre Worte. Zornige Worte. Ich versuchte, jedes einzelne von mir zu stoßen, nur eines nicht. Poenitentia. Es drang in mich ein wie ein heißer Dolch. Poenitentia. Immer wieder. Poenitentia. Ich musste das Wort immer wieder sagen. Als ich zum ersten Mal in meinem Erdloch lag, musste ich das Wort so lange wiederholen, bis die Sonne den Himmel verfärbte. Dann erlaubte mir mein Vater, aufzustehen und mit ihm zurück ins Haus zu gehen. Mein Kleid war schmutzig und roch nach Urin, da ich mich im Loch hatte erleichtern müssen.
Zu Hause angekommen, strich mir mein Vater über die Wange und erlaubte mir, mich auszuruhen. Denn das Krumme sei nun fort, und die Menschen in meinem Umfeld würden aufhören zu sterben. Doch mein Vater hatte sich geirrt. Das Krumme kehrte zurück. Diesmal war der Anfall stärker, und ich blutete sogar an der Zunge, da ich sie beinahe abgebissen hatte. Wieder trieb mich mein Vater in die Dunkelheit und zwang mich in das Erdloch. Er stand hinter mir, und ich begann erneut, zu beten und um Buße zu bitten: »Poenitentia.« Immer wieder. Ich blieb die ganze Nacht und den ganzen nächsten Tag im Loch und rührte mich nicht, sondern wiederholte nur immer wieder dieses eine Wort. Ich hatte Hunger und Durst, und ich kniff die Beine zusammen, bis ich es nicht mehr aushielt und das angestaute Wasser einfach laufen ließ.
Manchmal, wenn Menschen mit Traktoren vorbeifuhren und sich wunderten, was mein Vater vor dem Loch trieb, sagte er, dass er auf der Jagd nach Wühlmäusen sei, Mäusen, die an den Wurzeln nagten. An den krummen Wurzeln.
Seit meinem ersten Anfall betete mein Vater jeden Tag in seinem kleinen Zimmer über der steilen Treppe, die von der Küche in den ersten Stock unseres Hofes führte, dass das Krumme in mir verschwinden möge. Aber es verschwand nicht. Es begleitete mich mein ganzes Leben. Zu Hause, in der Schule, draußen auf dem Feld, wenn ich meinem Vater half. Das Krumme war immer da. Und mit ihm meine Buße. Poenitentia.
Als mein Vater erkannte, dass er nicht mit Geld umgehen konnte und die Reiter aus der Stadt ausblieben, schmiedete er einen Plan. Er wollte mich mit einem Bauern verheiraten, der einer Kolchose nach sowjetischem Vorbild vorstand und dem ich bereits als Kind gut gefallen hatte.
Ich war sechzehn Jahre alt, als ich Dimitri heiratete. Im Grunde war die Ehe illegal, da ich das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet hatte. Aber damals wusste ich es nicht, und niemand hatte es mir verraten. Warum auch? Ich war wertlos, und das Gesetz kümmerte sich nicht um mich.
Dimitri war unendlich groß und dick und kam ursprünglich aus Georgien. Er hatte immer nasse Lippen, und der untere Knopf seines hellgrünen Hemdes war ständig offen. Mein Vater erzählte Dimitri nie von unserem Geheimnis. Und in dieser Zeit, als ich Dimitris Frau war, verschwand auch das Krumme aus meinem Leben. Ich wusste nicht, warum, denn Dimitri war kein guter Mann. Er zwang mich zu meinen ehelichen Pflichten und verbot mir unter Androhung von Prügel das Sprechen in der Öffentlichkeit.
Doch dann kam die Wende. Und mit der neuen Freiheit kam das Krumme in mir zurück und brachte Dimitri den Tod. Und meinen beiden Kindern, die er mit Gewalt in mir gezeugt hatte. Zuerst kam der Husten, dann das Fieber, bald darauf atmete er immer schwerer und bald gar nicht mehr.
Ich war achtzehn Jahre alt, als mich mein Vater wieder in das Erdloch stieß. Diesmal hatte er es noch tiefer gegraben und Scherben hineingeworfen, damit das Krumme endlich und für immer verschwinden würde. »Poenitentia. Poenitentia …«, schrie er wie besessen.
Ich lag oft tagelang draußen in der Kälte. Ohne einen Tropfen Wasser, ohne einen einzigen Bissen zu essen. Und auch wenn mein Vater nicht wie ein Schatten hinter mir stand, wagte ich nicht, mich zu erheben, denn das Krumme würde mich wieder niederreißen und zurückstoßen in die Erde.
Seither waren fast dreißig lange Jahre vergangen. Jahre der Einsamkeit, der Buße, des Kummers, der Armut. Ich hatte mich selbst in ein kleines Verlies gesperrt und neben meinem Vater ein spärliches Leben geführt. Ich wusste nicht, wie oft ich in dem Erdloch gewesen war. Und wie viele Tage hintereinander. Ich wusste von dieser Zeit nur noch, dass mein Vater Musik gehört hatte, während ich geschrien und gebrüllt hatte. Wagner. »Tannhäuser«. Vielleicht hatte er so wie ich das Krumme akzeptiert und sich auch in seine Welt zurückgezogen, wo wir beide nur auf den Tod warteten. So wie Mutter, so wie Dimitri, so wie meine Kinder, die ich so sehr geliebt hätte, wären sie nicht auf brutale und abscheuliche Weise eingepflanzt worden. Vielleicht konnte er es auch nicht mehr ertragen und hatte mich deshalb in die Heilstätte geschickt.
Nun war mein Vater tot. Ich stand auf und blickte aus dem Fenster. Es war Nacht geworden. Ich dachte an Anja. Ich sollte einfach weggehen. Ein neues Leben beginnen. Vielleicht hatte sie recht, dachte ich und sah mich in meinem alten Zuhause um.
Ich stieg nach oben über die alten Treppen und öffnete das Zimmer meines Vaters. Es war klein, gedrungen und voller Bilder von Heiligen. An den Wänden hingen unzählige Kreuze, und auf einer kleinen Anrichte stand neben dem alten Plattenspieler ein Bild von der Jungfrau Maria in einem hellblauen Kleid. Ich trat näher und nahm das Bild in beide Hände. Die Muttergottes hatte eine gewisse Ähnlichkeit mit mir. Ich stellte das Bild zurück. Mein Blick fiel auf eine Schallplattenhülle – »Tannhäuser«. Dirigiert von Herbert von Karajan.
Ich zog die alte Platte heraus und legte sie auf den Teller. Die Nadel knisterte, und bald ertönten die ersten Hörner. Mein Vater hatte die Lautsprecher in voller Lautstärke aufgedreht. Als die ersten Streicher die Hörner ablösten, ergriff mich eine erhabene Gewissheit, die mir verriet, dass es Zeit war, dem allen ein Ende zu setzen. Ich nahm die Plattenhülle und drehte sie in meinen Händen. Dabei fiel mir auf, dass mein Vater eine Stelle mit einem schwarzen Stift markiert hatte. Er hatte die Worte »Sängerstreit auf der Wartburg« eingekreist. Und darunter hatte er mit kleinen Blockbuchstaben geschrieben: »Verfluchte Babenbergerin! Sie hat den krummen Ton hierhergebracht. Meine Greta wird daran zerbrechen.«
Ich trat zurück und hörte ein dumpfes Schlagen, das von unten heraufdrang. Ich runzelte die Stirn und schob die Plattenhülle zurück an ihren alten Platz. Verfluchte Babenbergerin. Ein Schauer lief über meinen Rücken. Hatte er sie auch gekannt? War es kein Zufall gewesen, dass mein Vater immer wieder »Tannhäuser« gespielt hatte, wenn das Krumme in mir nach außen getreten war? Und als ich dann die Hörner und die Streicher in der Erhabenheit des Tannhäusers wie Wasserfälle vom Himmel laufen hörte, schlug plötzlich wieder jemand gegen die Eingangstür.
Unter den tosenden Klängen Wagners schlich ich nach unten. Ein schmächtiger Priester mit schütterem Haar stand vor mir und hielt eine kleine blaue Schatulle in der Hand. Sie zeigte ein Bild des italienischen Malers Giotto. Tränen liefen über meine Wange, als mir der kleine Mann das Kästchen entgegenstreckte.
»Verzeihen Sie die späte Störung! Ich wollte Sie nicht ängstigen. Ich habe Sie bei der Bestattung nur kurz gesehen. Ich war ein Freund Ihres Vaters. Er unterstützte unsere Kirche auch in der schweren Zeit vor der Wende. Er hat mich gebeten, Ihnen dies im Falle seines Ablebens zu überreichen.«
Während der Priester mir die Dose in die Hand drückte, spürte ich, dass hinter ihm ein Wind in den alten Hof drang. Meine Hände zitterten, und ich fuhr mit dem Zeigefinger sanft über die blau verzierten Blumen. Als ich den Deckel nach oben klappte, fand ich einen Brief darin. Ich nahm ihn und faltete ihn auf. Meinen Besucher nahm ich kaum noch wahr, stattdessen begann ich zu lesen. Schon bald zitterte ich am ganzen Körper.
Der kleine Priester schien zu spüren, dass dieser Brief von immenser Bedeutung für mich war. Vielleicht spürte er sogar, dass er nicht nur mein Leben verändern würde, sondern alles. Jedenfalls sagte er in einem fürsorglichen Ton, den mir gegenüber noch niemand angeschlagen hatte: »Ihr Vater war im Unrecht, als er Sie bezichtigte, für den Tod anderer Menschen verantwortlich zu sein. Es war nicht Ihre Schuld. Es war eine Krankheit, die sie alle geholt hat. Ihre Mutter, Ihren Gemahl … Ihre beiden Kinder. Es war eine Krankheit. Eine große Krankheit. Ihr Vater glaubte, dass etwas Teuflisches in Ihnen wohnt, das diese Krankheit herbeiruft. Ich weiß, das entschuldigt nicht, was er Ihnen angetan hat, aber es soll Ihnen helfen, ihn zu verstehen. Und ihm zu verzeihen, dass er Sie nach dem Tod Ihres Mannes und Ihrer Kinder schließlich in die Nervenheilanstalt ins Kloster gebracht hat. Viele hier glauben, dass Sie all die Jahre hier waren, auf dem Hof, bei ihm. Aber ich weiß, wo Sie waren. Zwanzig Jahre ist es her … das ist eine lange Zeit. Es tut mir so leid …«
Ich nickte, dann las ich den Brief fertig. Anschließend starrte ich den Priester an. Fraglos fühlte er sich unbehaglich.
»Ich muss gehen«, sagte ich zu ihm. »Ihr Auto! Können Sie mir Ihr Auto leihen?«
»Ich verstehe nicht …«
»Ich bringe es Ihnen wieder zurück, aber ich muss dringend weg.«
Der kleine Mann sah zu Boden und nickte. Er kramte in der Tasche seiner Hose und legte mir den Wagenschlüssel und etwas Geld in die Hände.
»Drücken Sie, wenn Sie losfahren, die Kilometerzahl immer auf null! Ich weiß, es ist töricht, aber es soll Glück bringen.«
Ich schwieg und nickte.
»Und Sie bringen mir den Wagen wieder, ja? Stellen Sie ihn dann einfach bei der Kirche ab, wenn Sie –«
Als der Priester die Tränen in meinen Augen sah, wusste er, dass es besser war, mich jetzt allein zu lassen. Er nickte noch einmal und verabschiedete sich. »Ich werde zu Fuß gehen. Ein Spaziergang in der Nacht ist gut für die Gesundheit«, sagte er und trat zurück in die Dunkelheit.
Ich dachte an Carlotta. Sie hatte mich mit ihrem Wagen nach Heyda gebracht. Wir beide waren in den letzten zwanzig Jahren einer Routine gefolgt, die mich hätte heilen sollen. Doch ich war nicht geheilt. Vom ersten Moment an, als ich wieder in die schmutzigen Fußstapfen meines alten Lebens getreten war, wusste ich, dass ich nicht geheilt war. Ich war eine Krumme, wertlos und schmutzig, und ich brachte die große Krankheit. Alles war wie immer. All das Lernen, das Sehen und Siegen. Wertlos.
Doch der Inhalt des Briefes, der auf weichem, welligem Papier mit zittriger Hand geschrieben war, stellte alles auf den Kopf. Ich wusste, dass ich in einer Stunde wieder in Heyda sein sollte, wo mich Carlotta am Straßenrand aufsammeln und zurück auf meine Terrasse bringen würde. Und anschließend würde ich dort auf den Sonnenaufgang warten, um die nächtlichen Bilder in meinem Kopf verschwinden zu lassen. Aber ich konnte nicht zurück. Jetzt nicht. Ich würde morgen oder vielleicht den Tag darauf wieder in der Heilstätte sein. Ich würde mir eine Geschichte ausdenken, die erklärte, warum ich die Routine verlassen und dabei auf das mir entgegengebrachte Vertrauen gebaut hatte. Ich könnte sagen, dass ich mir Sorgen gemacht hatte um die Leiterin der Anstalt, weil ich sicher war, sie am Straßenrand gesehen und husten gehört zu haben. Dass ich dann aber doch zu dem Schluss gelangt war, dass ich mich geirrt haben musste. Und dass ich mich dann in meiner Verwirrung verfahren hatte. Oder ich könnte sagen, ich hätte Klara gesehen. Im Rückspiegel. Oder Medora …
Ich wusste nicht, ob der Priester an den beiden Bäumen vorbeikam, durch die man mein Erdloch sehen konnte. Ich wusste auch nicht, ob er den Falken sah, der im Dunkeln auf mich wartete. Aber ich war mir sicher, dass er den Schein des Feuers sehen würde, das mein altes Zuhause für immer in Asche verwandeln sollte. Und unter der Ouvertüre des »Tannhäuser« startete ich den Wagen und verließ den Hof meiner falschen Eltern.