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DIE HEILSTÄTTE
ОглавлениеDinge, die nichts wert sind, wirft man weg. Ich bin eine Weggeworfene. Eine aus der Welt geworfene Frau, die auf einem Bauernhof in der Nähe von Dresden unter hungernden, verwahrlosten Tieren und dürren leeren Feldern aufgewachsen ist. Eine Weggeworfene, die keinen Platz in dieser Welt hat und seit über zwanzig Jahren in einer Nervenheilanstalt darauf wartet, dass sie der nächste epileptische Anfall mit seinen schrecklichen Bildern endlich genügend krümmt, um aus diesem nutzlosen Dasein zwischen den Welten zu verschwinden.
Ich, Greta Erdsegen, bin wie faulige Erde. Auf meinem Grab wird nie eine Blume stehen – und wenn, dann nur eine unscheinbare, krumme.
Seit Ende des letzten Jahrtausends habe ich in der Heilstätte gelebt. Mein Vater hatte mich einweisen lassen. Ich hätte den krummen Ton, hatte er gesagt. Und dass er sich nicht mehr um mich kümmern könnte. Wenn ich zuckend am Küchenboden unseres Bauernhofes gelegen hatte, dann hatte ich so laut geschrien, dass selbst die Vögel innehielten und sich in der Stille vor mir versteckten.
Seitdem hatte er mich nie besucht. Ich hatte auch sonst von niemandem Besuch. Von wem auch? Ich war allein. Allein mit den vielen anderen, die hier lebten. Ich nannte sie meine Verbündeten, weil sie krank waren wie ich. Die Leitung nannte uns »Wirte«.
Wir lebten hier am Anfang der Sächsischen Weinstraße, umgeben vom warmen Rauschen des Elblandes. Die vielen kleinen Weinberge, die das Barockschloss umgaben, stahlen sich immer wieder in meine Träume und flüsterten mir zu, dass ich in Wahrheit woanders war. In den sanften Hügeln Italiens, in der Toskana oder in Frankreich oder noch weiter weg. Aber ich war in Sachsen.
Das Schloss Seußlitz lag rund vierzig Kilometer nordwestlich von Dresden. Eine sanft hügelige Landschaft aus Weinbergen und Gärten formte den Seußlitzer Grund, ein zart anmutendes Naturschutzgebiet in einem Seitental der Elbe. Ihr würziger Duft drang bis tief in die Weidenwälder vor, die von rotem Efeu umrankt waren. Versteckte Wege durch grüne Blätterdächer kreuzten schmale Rinnen, die in früheren Zeiten Wasser geführt hatten. Seit es die Mühlen in der Gegend nicht mehr gebe, seien diese Bäche verlandet, hatte mir meine Pflegerin Carlotta bei einem unserer ersten Spaziergänge erzählt. Hinter alten Linden versteckten sich idyllische Seen und funkelten in der milden Luft dieses versteckten Kleinods.
Der Schlossgarten selbst hielt sich an einen französischen Stil an der südlichen Seite und einen englischen an der gegenüberliegenden. Schwere Skulpturen umgaben den Park, welche die Jahreszeiten darstellten. An der Südseite erstreckte sich eine fünfzehn Meter hohe Terrasse, die mit Platanen besetzt war. Hohe Figuren aus Sandstein und mächtige Blumentöpfe umgaben die Terrasse, an deren Ende vier Stufen zum Gartenhaus, der Heinrichsburg, führten, die wie auf einer Pyramide über die Anstalt wachte. Dort standen zwölf Figuren, ebenfalls aus Sandstein, Verkörperungen der zwölf Monate. Vom Gartenhaus konnte man einen weiten Blick in das Elbtal werfen. Ich liebte diesen Anblick, da er mir das Gefühl gab, mit der Welt außerhalb der Anstalt verbunden zu sein.
Gegenüber dem Gartenhaus, auf dem kleinen Schlossweinberg, stand ein einstöckiges Winzerhaus. Es trug den Namen Luisenburg. Von dort erstreckte sich der englische Park aus Ginkgobäumen, Zypressen, Ziereichen und Silberahorn und umschloss einen unscheinbaren Teich.
Im Zentrum der Heilstätte lag die Schlosskirche, vor der das Herrenhaus thronte. Zwei Seitenflügel umfassten den Schlosshof. Dahinter befand sich der Kirchhof mit mehreren Grabdenkmälern, die ich von der Dusche aus sehen konnte.
Carlotta war jünger als ich. Ich hatte mich nie getraut, sie zu fragen, aber ich vermutete, dass uns etwa zehn Jahre trennten. Ich war ihre erste Patientin gewesen. Sie war damals noch jung. Vielleicht siebzehn. In ihren dunklen Augen lag noch immer eine Stille, die mich nach all den Jahren nach wie vor wärmte. Sie hatte mir beigebracht, den Vögeln zuzuhören, mit der Hand das Gras zu berühren und zu spüren, wie es wächst. Sie hatte mich aber auch angehalten, mich an die Regeln des Hauses zu gewöhnen, und – wenn mir das nicht gelang – vom Mond erzählt. Und dass man zu ihm singen konnte, damit die Träume einmal wahr würden. Denn der Mond, der würde einen eines Tages auf die andere Seite bringen, hatte sie mir einmal gesagt, und ich stellte mir dann vor, dass wir beide in Italien saßen, irgendwo unter einem warmen Himmel.
Als ich das Gelände zum ersten Mal betreten hatte, rieb ich meine Schuhe vor dem Tor sauber, aus Angst, diese adeligen Gebäude mit meinen schmutzigen Füßen zu verunreinigen. Die Wohntrakte säumten die beiden Seiten vor dem Schloss und waren die eigentlichen Heilstätten. Carlotta wartete damals an der Tür und fragte mich, ob sie mir mit meinem Gepäck helfen sollte. Als ich ihr sagte, dass die blassgelbe Bluse und die Cordhose, die ich am Leib trug, das Einzige waren, was ich besaß, beschloss sie, mich vorher in der Anstalt herumzuführen, um mir den neuen Abschnitt in meinem Leben einfacher zu machen. Carlotta war trotz ihrer jungen Jahre souverän in ihren Handlungen und strahlte schon damals diesen sicheren Stolz aus, der mich sie bald fest in mein Herz schließen ließ.
»Ich zeige Ihnen jetzt Ihr neues Zuhause. Die Formalitäten wie die Übergabe des Schreibens des Amtsrichters können wir auch später erledigen.«
»Ich sehe, Sie sind in guten Händen«, sagte die Leiterin der Heilstätte, als sie mich mit Carlotta auf dem Schlosspark antraf. Sie trug ein langes blaues Kleid mit vielen Schmetterlingen. Ich machte einen kleinen Knicks, da ich irgendwo gelesen hatte, dass man das in diesen Kreisen so machte. Die Leiterin war hübsch und jung, vielleicht Mitte dreißig, und sah aus wie eine wohlhabende Frau, die sich den ganzen Tag um den Garten ihres Hauses am See kümmern konnte.
»Ich leite die Heilstätten und bin mir sicher, dass Sie sich hier wohlfühlen werden. Freilich wird es ein wenig dauern. Ich weiß natürlich auch, was die Menschen im Dorf über die Anstalt sagen. Aber ich kann Ihnen versichern, dass es hier kaum anders ist als in einem anderen Institut. Hier tanzen sogar manche Patienten – wie Frau Marie. Oder Walter: Er trägt immer einen Wollumhang, auch im Sommer, wenn es hier sehr warm ist. Sie dürfen sich nicht wundern, wenn er Ihnen von seiner österreichischen Mutter erzählt und dass er selbst aus Italien kommt und dass sein Großvater im Krieg gegen die Deutschen gekämpft hat. Wenn Sie ihm keine Beachtung schenken, wird er rufen: ›Hilfe, ich brauche Hilfe!‹ Oder Frau Klara: eine reizende Frau. Sie steht immer oben am Gartenhaus. Gleich neben der Tür. Sobald Sie diese aber öffnen, versucht sie, sich vorzudrängen, und beschimpft Sie, wenn Sie ihr nicht den Vortritt lassen. Dennoch ist sie eine reizende Dame. Alle sind reizend. Aggressive Patienten haben wir nur wenige. Das liegt auch an unserem geschulten Personal, das auf jedes einzelne Bedürfnis unserer Gäste eingeht.«
Ich war sofort vom Charme der Leiterin betört, denn sie verstand es, mit ihrer Gestik jedes einzelne Wort so zu betonen, als würde man einem leichten, unterhaltsamen Film folgen. Sie verdrehte die Augen, wenn sie von den Leuten im Dorf sprach, sie ahmte das Lachen einer Comicfigur nach, wenn sie von einem Patienten sprach, der immerfort lachte, und sie bewegte sich im Stechschritt, wenn sie von amtlichen Vorgaben sprach. Kurz: Sie gab mir das Gefühl, nicht krank zu sein, sondern Teil einer anderen Welt, die voller Gesten, verstellter Stimmen und verschiedener Grimassen war. Und wenn der Wind in das lange, wellige brünette Haar der Leiterin fasste, so hatte ich das Gefühl, dass alles halb so schlimm war.
»Hat Carlotta Sie schon herumgeführt? Ja? Hat sie bestimmt. Es ist doch wunderschön hier, nicht? Aber, ich muss Ihnen leider sagen …«
Die Leiterin kam zu mir, suchte mit flinken Augen nach etwaigen Menschen, die sie belauschen könnten, und stellte sich wie eine Vertraute zu mir, bevor sie fortfuhr. »Auch, wenn es von außen nicht so aussieht – wer keinen Schlüssel hat, der kommt hier auch nicht mehr weg. Aber ich bin mir sicher, das verstehen Sie. Wir haben hier schon ein paar … sagen wir, Auffällige.«
Wieder schnitt sie eine Grimasse, lachte und drehte sich wie ein junges Mädchen. »Wir müssen auf euch aufpassen. Sie werden sehen: das Besteck, die Messer – alles weggeschlossen, die Fenster ausbruchsicher. Doppeltes Glas. Wir wollen, dass es uns allen gut geht.«
Als sie bemerkte, dass ich ein wenig unsicher wurde, wechselte sie wieder die Farbe ihrer Stimme, die mit einem Mal sachlicher klang. »Die Heilstätte ist wie ein geschützter Rahmen, ohne den die Patienten sich selbst oder andere gefährden würden. Aber sie brauchen keine Angst zu haben. Die Heilstätte gibt es seit fast zehn Jahren. Seit 1990. Wir haben nach der Wende gleich zugegriffen und dieses wunderbare Stück Land hier gekauft. Und seitdem hat es keine Auffälligkeiten gegeben. Auch wenn alle aus unterschiedlichen Gründen hierhergekommen sind, suchen sie im Grunde alle Hilfe. Heilung. Viele kommen mit einer akuten Psychose, andere wegen einer schweren Depression oder wegen massiven Drogenkonsums. Aber auch Manisch-Depressive oder Menschen mit Schizophrenie und Wahnvorstellungen sind unsere Gäste. Manche finden von selbst zu uns, einige bringt die Polizei, andere werden von ihren Familien hier eingewiesen.«
Die Leiterin warf ihre Haare zurück, klatschte in die Hände und salutierte vor Carlotta, die mit ihrem höflichen Lächeln den Ausführungen ihrer Vorgesetzten gefolgt war. »So, aber jetzt: Genug geredet! Carlotta, übernehmen Sie!« Dann verabschiedete sich die Leiterin mit einem »Ciaoiiii« und ging mit fröhlichem Hüftschwung zurück in das Herrenhaus.
»Sie ist sehr … nett«, sagte ich und sah zu Carlotta und dachte in diesem Moment, dass vielleicht alles gut werden würde.
»Dann wollen wir mal«, sagte Carlotta und hakte sich bei mir ein. »Ich will, dass Sie sich hier wohlfühlen. Für mich ist es auch das erste Mal, aber ich denke, wir beide machen das. Ich bin vom Konzept der Heilstätten überzeugt. Es macht uns am Ende alle zu kompetenteren Menschen.«
Ich lächelte Carlotta an oder versuchte es zumindest. Ich hatte außerhalb der Heilstätten noch nie so viel Aufmerksamkeit und Wärme erfahren.
»Ich weiß, dass Sie unter Wahnvorstellungen leiden, die von einer Epilepsie ausgelöst werden, aber ich werde Ihnen helfen und immer für Sie da sein, wenn Sie sich durch etwas bedroht fühlen.«
Ich nickte und sah mich vorsichtig in der neuen Umgebung um.
»Wollen wir einen kurzen Spaziergang machen, bevor wir zurück aufs Zimmer gehen? Wir werden in der nächsten Zeit viele Spaziergänge unternehmen. Aber davon erzähle ich Ihnen später. Oder ›Mensch ärgere Dich nicht‹ spielen. Oder gemeinsam mit den anderen unsere Mahlzeiten einnehmen. Wir haben hier Regeln, die auf drei Säulen aufbauen. Dem Lernen, dem Sehen und dem Siegen. Was es damit auf sich hat, erkläre ich Ihnen später. Aber zuerst zeige ich Ihnen noch alles.«
»Greta. Ich bin Greta.«
»Ich weiß nicht, ob das gut ist, wenn Wirtinnen und wir … Ich meine …«
»Wirtinnen?«
»Carlotta«, rief sie ihren Vornamen aus. »Aber diese Vertraulichkeit bleibt unser Geheimnis«, sagte sie dann und spitzte dabei ihre Lippen, ohne mir zu sagen, warum sie mich eine »Wirtin« genannt hatte.
Ich entschied mich für den angebotenen Spaziergang, und Carlotta begann zu erzählen. Im Jahre 1205 habe an dieser Stelle bereits ein Wasserschloss existiert, das aber um 1265 in ein Jagdschloss umgebaut worden sei, dort seien pompöse Feste gefeiert worden. 1268 habe der damalige Schlossherr seine Residenz und siebzehn weitere Dörfer dem Klarissenorden gestiftet. Mitte des 16. Jahrhunderts sei das Kloster wieder verkauft und zu einem Schloss umgebaut worden. Im Jahre 1722 folgte der nächste Ausbau, wobei das Schloss seinen barocken Charme erhalten habe. Danach habe das Schloss mehrfach die Besitzer gewechselt und sei im Jahre 1945 in ein Feierabendheim umgewandelt worden.
1990, fünfundvierzig Jahre später, hätten die Senioren dann allerdings ausziehen müssen, da auf private Initiative dort eine Nervenheilanstalt errichtet worden sei. Offiziell sei es noch weiter ein Altersheim gewesen, und es seien sogar Feste wie ein Hochzeitsmarkt veranstaltet worden. Nach und nach seien die Alten und die Feste verschwunden, gleichzeitig wurde die Heilstätte zu einem festen Bestandteil der Gegend. Darüber sprechen wolle jedoch niemand.
Vom einstigen Klarissenkloster sei außer der Westwand des Schlosses, an der sich noch ein gotisches Maßwerkfenster befand, nichts mehr erhalten. Und vom Verbleib der einstigen siebzehn Dörfer, die an den Klarissenorden übertragen worden waren, sei auch nichts mehr bekannt.
»Dies war immer schon ein besonderer Ort«, sagte Carlotta. Sie blieb vor der alten Mauer des Schlosses stehen und sah auf das große Fenster, das darin eingelassen war. Es zeigte eine Art Blume, die aus geometrischen Figuren geformt war, die geschickte Steinmetze in filigraner Handarbeit in den Stein geschlagen hatten.
»Hier war das Kloster. Diese Wand ist das Einzige, was noch übrig ist. Wenn die Sonne im Frühjahr tief über der Elbe steht, hat man den Eindruck, noch die alten Fresken erkennen zu können. Ich liebe diesen Ort. Er hat mich magisch angezogen. Gleich vom ersten Moment an. Durch dieses Fenster dort haben schon vor vielen hundert Jahren die Nonnen in den Himmel geschaut. Was haben sie gedacht? Was hat sie bedrückt? Hat sie der Blick durch dieses Fenster geheilt?«
Ich suchte auf der Fassade nach alten Fresken, fand aber außer Schatten und Rissen nichts. Carlotta sprach weiter und erzählte, dass sich unter den Schreien der Falken, die hoch über den Hügeln durch die Winde gezogen waren, auch das Klarissenkloster mit dem Wahnsinn befasst hatte. Es hatte sogar historische Berühmtheit erlangt. Denn es hieß, dass die letzte Babenbergerin, Gertrud von Babenberg, im Jahre 1288 hier am Wahnsinn gestorben sei. Carlotta erzählte mir, dass die Babenbergerin in der größten Schlacht des Mittelalters in Dürnkrut im heutigen Niederösterreich gegen die Habsburger gekämpft hatte. Allein. Gegen die größten Armeen der Welt. Ihr Schicksal war stark mit dem Schicksal Österreichs verknüpft gewesen. Durch ihren Tod seien die Habsburger an die Macht gelangt, deren Herrschaft siebenhundert Jahre angehalten habe und nur durch die Wirren des Ersten Weltkriegs fortgespült worden sei.
Vor meiner Ankunft hatte ich noch nie von dieser geheimnisvollen Babenbergerin gehört. Sie war aber anscheinend das genaue Gegenteil von mir gewesen. Sie war eine Monarchin gewesen, stark, selbstbewusst und mutig. Ich hingegen war eine Bäuerin, unnütz, schwach und feige. Und doch verband uns an diesem Ort etwas – der Wahnsinn –, dachte ich und starrte auf die steinerne Blume, die ich auf dem Fenster immer deutlicher erkannte.
»Diese Babenbergerin. Woran hat sie gelitten? Weiß man das?«, fragte ich Carlotta, die wie ich auf die Blume aus Stein blickte.
»Es soll hier ein Archiv geben. Wenn es Sie – dich – interessiert, kann ich sicher einiges über diese Zeit in Erfahrung bringen. Doch soweit ich weiß, hat die Babenbergerin geglaubt, dass sie die Welt in den Abgrund reißen würde …«
Ich erstarrte. Die Welt in den Abgrund reißen?
»Ich weiß nicht viel darüber. Die Leiterin hat mir bei meinem Bewerbungsgespräch davon erzählt. Ich weiß nicht mehr genau, wie sie es genannt hat … Sie hatte eine eigene Form der Epilepsie, den ›krummen Ton‹ oder so ähnlich … Mehr weiß ich leider nicht.«
»Den krummen Ton?«, fragte ich Carlotta, und mit einem Mal fühlte es sich an, als würde ich meine Zunge in Hafer tauchen.
Als Carlotta mich ansah, spürte ich, dass sie innerlich auf Distanz zu mir ging.
»Hatte sie auch die Bilder von Medora im Kopf? Diese Stimme, die ihr immer und immer wieder sagte, sie habe die große Krankheit in die Welt gebracht?«, fragte ich so leise, so zitternd, so unhörbar, dass Carlotta mich unmöglich verstehen konnte.
»Wir sollten jetzt zurückgehen. Dann verrate ich dir noch mehr über unseren Tagesablauf. Über das Sehen und Lernen. Über das Siegen will unsere Leiterin heute Abend selbst einige Worte verlieren. Sie passt das Siegen immer an. Verfeinert es. Du hast Glück: Sie wird uns heute eine neue, verbesserte Therapie vorstellen«, sagte Carlotta und fuhr sich mit der Hand durch die Haare, als wollte sie sie hochstecken.
»Wir alle besitzen Fähigkeiten, die uns stark machen.« Wir hatten uns damals vor der Westwand der Schlosskirche versammelt und folgten den Worten der Leiterin. Ich fühlte mich wie eine neu einberufene Soldatin, als wäre ich auserwählt gewesen, in einen Kampf zu ziehen. Wenn ich mich allerdings umsah und in all die verwirrten, leeren, verlorenen Gesichter der Menschen blickte, die vor der Leiterin standen, wusste ich, dass wir keine Soldaten waren.
»Selbstbewusstsein braucht Stärke. Selbstbewusstsein muss Schwäche akzeptieren sowie Stärke erkennen und aufbauen. Jeder von uns hat eine Stärke. Und ich meine damit keine im Geiste. Auch keine der Seele. Dafür ist das Sehen da – und das Lernen. Ich meine den Körper. Das Siegen soll diese Stärke in unserem Körper finden und zur Geltung bringen.«
»Nur in einem gesunden Körper wohnt ein gesunder Geist!«, rief Walter plötzlich, der Mann mit der Wolldecke, und unterbrach damit die Leiterin. Sie klatschte darauf in die Hände, beugte sich übertrieben nach hinten und ging fröhlich, fast hüpfend zu Walter, der sich sogleich für seine vorlauten Worte schämte und seinen Kopf zurückzog.
»Was ist Ihre Stärke?«, fragte ihn die Leiterin.
»Meine Mutter. Sie ist aus Österreich. Ich bin eigentlich aus Italien …«
»Und Ihr Großvater hat gegen uns Deutsche gekämpft?«
Die Leiterin fasste Walters Hand und führte sie zu ihrem Mund. Dann deutete sie einen Handkuss an und machte einen Knicks vor dem Mann.
»Und dafür bedanke ich mich, dass uns Ihr Großvater von der Tyrannei befreit hat. Das war seine Stärke. Was ist Ihre?«
Ein Raunen ging durch die Reihen vor der Mauer. Und ich spürte, wie jeder in sich kramte und sich dieselbe Frage stellte wie Walter, der leise begann, nach Hilfe zu rufen.
»Ich liebe den Tanz!«, rief Marie und trat mit einer sanften Bewegung nach vorn.
»Den Tanz«, sagte die Leiterin und klatschte in die Hände und sprang in einem Dreiviertelrhythmus zur schüchternen Frau mit den langen grauen Haaren.
»Es gibt eine Kampfkunst, in welcher der Körper den Fluss der Bewegungen nachahmt. Wie bei einem Tanz. Tanzen wie eine Kriegerin: Ist das Ihre Stärke, Frau Marie?«
Frau Marie stand wie erstarrt vor der Leiterin und nickte, und ich sah, wie eine Träne über ihre Wange floss.
»Das Schießen. Ich habe als Kind mit einem Bogen geschossen«, rief plötzlich Walter und trat wieder aus der Reihe.
»Ihre Stärke ist also, den Fokus auf das Wesentliche zu lenken. Sie treffen den Stein, der alles ins Rollen bringt und die stärkste Armee unter sich begräbt.«
»Wie mein Großvater, ja, das ist meine Stärke.«
»Und Sie, Greta? Die anderen sind schon viel länger hier und konnten sich schon an alles gewöhnen. Deshalb fällt es ihnen auch leichter, ihre Stärken zu nennen. Aber dennoch, auch wenn es Ihr erster Tag ist: Was ist Ihre Stärke, die Sie über all Ihre Schwächen hinweghebt?«
Ich bin wertlos. Eine Weggeworfene. Eine Krumme. Ich habe keine Stärke.
»Ich werde darüber nachdenken«, sagte ich leise und blickte zu Boden. Meine Schuhe waren voller Erde. Es war mir nicht gelungen, sie vollständig zu reinigen.
»Sie sehen zu Boden, auf den Schmutz Ihrer Füße. Vielleicht sollten Sie lieber nach oben blicken. Als Sie dort gelegen haben, tief unten in diesem Erdloch Ihrer Kindheit und Jugend: Was war dort oben, was Ihnen Kraft gegeben hat?«
Ich schloss die Augen. Das Erdloch. Natürlich. Sie kannte meine Geschichte. Sie wusste alles. Ich konnte nichts vor ihr verbergen.
»Ein Falke. Er war oben. Er hat auf mich aufgepasst.«
»Falken sind Jäger. Sie stehen dort oben und fallen auf die Erde, so schnell wie kein anderes Tier auf dieser Welt. Sie sind Ihre Stärke. Die Falken, die Verbindung zu Ihnen. Ihre Waffen. Trainieren Sie sie.«
Falken. Ich dachte an früher. An meine langen, immer wiederkehrenden Blicke in den Himmel. Die Falken über mir: Sie hatten über mich gewacht. Hatten mir Halt gegeben. Und jetzt? Ich hob den Kopf und sah in den Abendhimmel. Es roch nach feuchtem Herbstlaub. Ich glaubte, über mir einen Falken entdeckt zu haben. Er flog auf den Schlossturm. Ein Weibchen. Es versorgte in einem verborgenen Nest seine Jungen. Mein Blick fiel tiefer, auf die Westwand, die Steinblume, die verschwundenen Fresken. Meine Vertrauten und ich warfen durch das Licht des Schlosshofes Schatten auf die alte Wand.
Dann sah ich sie. Ihren Schatten. Aber sie war kleiner. Bewegte sich anders als die Leute in der Heilstätte. Mein Körper begann zu zittern. Es war sie. Sie war wieder hier. Medora. Ich erkannte sie an ihren kleinen Schritten. Das Bild aus meinem Kopf: Es war wieder hier, und ich hörte sie sprechen. Sie sprach in ihrer Sprache. Der Sprache des Mittelalters.
Du wirst die große Krankheit bringen wie sie. Du wirst es nicht aufhalten können – so, wie sie einst die Pest nicht aufhalten konnte.
Ich fuhr herum. Die Leiterin hatte mir die Hand auf die Schulter gelegt.
»Die Pest? Mit wem sprechen Sie? Ist sie da? Ihre Halluzination?«
Ich schüttelte den Kopf, suchte den Boden.
»Der Schriftsteller Albert Camus sagte einst: ›Die einzige Art, gegen die Pest zu kämpfen, ist die Ehrlichkeit.‹ Denken Sie darüber nach!«
Meine Welt begann, sich zu drehen. Der Falke verließ den Turm. Ich fand Carlottas Hand. Sie war warm.
»Es wird langsam Zeit für das Bett.«
»Es ist meine Schuld.«
»Das ist es nicht.«
»Doch. Das ist es. Das war es immer.«