Читать книгу Frau ohne Welt. Teil 3: Der Krieg gegen die Zukunft - Bernhard Lassahn - Страница 6
Die Schrecken der Flut und die Schrecken der Ebbe
ОглавлениеIm Jahr 1977 erlebte die Sexwelle einen spektakulären Höhepunkt. Man hatte schon vorher leichte Wellenschläge spüren können: Es gab Sex-Kinos und kleinere Rotlichtviertel in Bahnhofsnähe, zumeist in Städten, in denen Soldaten stationiert waren, doch nun hatte sich ein heftiger Sturm zusammengebraut. Die Sexwelle, die über Deutschland hereinbrach, war nicht nur eine harmlos Modewelle, es war eine Monsterwelle, die bleibende Schäden hinterließ.
Es hatte einen gewissen Anlauf gebraucht: Schweden und Dänemark waren mit der Freigabe von Pornographie und einem liberalen Umgang mit Homosexualität vorausgegangen. Das hatte in den skandinavischen Ländern zu einer Mode von Schweden-Witzen geführt. 1969 hatte in Kopenhagen die erste Sexmesse stattgefunden, bei der die Besucher von splitternackten Hostessen begrüßt wurden; erste Sexshops wurden in Kopenhagen und direkt an der Grenze zu Deutschland eröffnet. Nicht weit von der Landesgrenze hatte sich auf deutscher Seite der Beate-Uhse-Versand niedergelassen; die Sexwelle kam mit einer steifen Brise aus dem kühlen Norden.
Post aus Flensburg konnte nun zweierlei Bedeutung haben: Verkehrssünder erhielten Mahnungen vom Kraftfahrt-Bundesamt, Sünder des Geschlechtsverkehrs kleine Päckchen vom diskreten Beate Uhse Versand – wenn wir die Kunden des Versandhauses als Sünder der besonderen Art ansehen wollen: als Geschlechtsverkehrssünder, was sicher einige ihrer Ehepartner so empfunden haben. Vielleicht sogar die Kunden selber. Neugier, Unbehagen, Schuldgefühle und Lust gingen direkt ineinander über. Für manche lag allein schon der Besuch in einem Sexshop im Grenzbereich zum Seitensprung und wurde als moralische Verfehlung, zumindest als Versagen angesehen.
Die Sexwelle erreichte auch die literarische Welt. Bei einem Rundgang auf der Buchmesse konnte man in dem Jahr – aus heutiger Sicht unvorstellbar – riesige Nacktfotos sehen, als hätte man sich auf eine Sexmesse verirrt. Etwa zehn Jahre zuvor – also im Jahr 1969 – war die entscheidende Wende in der Rechtsprechung vorausgegangen: Der Bundesgerichtshof sah nach eigenem Bekunden seine Aufgabe nicht länger darin, einen moralischen Standard durchzusetzen, vielmehr wollte er sich darauf beschränken, die Gemeinschaft vor Störungen zu schützen. Eine ganze Reihe von Delikten wurden seitdem abgeschafft: zum Beispiel der Ehebruch – der galt bis dahin als Delikt –, die Unzucht mit Tieren, die einfache Homosexualität, die Erschleichung des Beischlafs und die Kuppelei. In der Diskussion um den Roman Die Memoiren der Fanny Hill wurde exemplarisch eine Unterscheidung zwischen weicher und harter Pornografie vorgenommen. Das Buch war bereits 1906 erschienen und stand seither auf dem Index. Nachdem 1964 eine »Luxusausgabe« ediert und wiederum indiziert wurde, klagte der Verleger: Anno 1969 hielt das Gericht fest, dass weiche Pornografie weder für Erwachsene noch für Jugendliche schädliche Folgen hat.
Schon ab 1970 konnte daraufhin eine Serie von Schulmädchen-Reporten anlaufen – stümperhafte Episodenfilme im Stil einer Scheinauthentizität, die sich auf wahre Erlebnisse bezogen und dennoch verlogen waren. Rückblickend sieht der Filmproduzent Wolf C. Hartwig darin die »Geschäftsidee seines Lebens«. Die ohne Aufwand mit unbekannten Schauspielern gedrehten Pseudo-Dokumentationen hatten weltweit insgesamt über 100 Millionen Zuschauer erreicht. Es folgte eine ganze Reihe solcher Filme, Hausfrauen-Report, Lehrmädchen-Report, Tanzstunden-Report, Krankenschwestern-Report – Provinzpossen im Vergleich zu dem, was gleichzeitig in Amerika passierte.
Es gab nicht nur eine, es gab mehrere Sexwellen: Eine aus dem Norden, eine weitere kam über den großen Teich geschwappt. Im Januar 1972 war zuerst in New York, wenig später in anderen Städten, ein Film in die Kinos gekommen, der, wie es heißt, die Nation spaltete wie sonst nur der Vietnamkrieg: Deep Throat, ein von einer Handvoll unbeholfener Halbamateuren heruntergekurbelter Porno, der in wenigen Jahren über 600 Millionen Dollar eingespielt haben soll und damit einer der profitabelsten Filme aller Zeiten ist. Was dermaßen viel Geld einspielt, gilt etwas im Kapitalismus. Das schmuddelige Genre, das bis dahin ein tristes Dasein in Hinterzimmern fristete, war damit auf der großen gesellschaftlichen Bühne angekommen. In den Schlangen vor den Kinos sah man verheiratete Pärchen und Damen in eleganter Abendgarderobe. Noch gab es leichten Gegenwind, der Hauptdarsteller Harry Reems musste für einige Zeit ins Gefängnis, doch mit dem großen kommerziellen Erfolg war der Porno salonfähig geworden und war nicht länger eine unbedeutende Randerscheinung. Er hatte gesamtgesellschaftliche Bedeutung erlangt. Wer sich zu Deep Throat äußerte, urteilte nicht nur über einen Film, sondern gleich über die sittliche Zukunft Amerikas. Seit dem Film Panzerkreuzer Potemkin, so wird in Darstellungen zur Kinogeschichte behauptet, hatte kein anderer Film so eine Wirkung erzielt. Hatte Panzerkreuzer Potemkin seine Bedeutung für die kommunistische Weltbewegung und der Film Birth of a Nation für das Selbstverständnis der Vereinigten Staaten nach dem Bürgerkrieg, so hatte Deep Throat seine Bedeutung für die nun heraufdämmernde Zeit, die im Zeichen der Überbewertung von Sexualität stehen würde: Sex war plötzlich allgegenwärtig.
Mit Deep Throat war zumindest in den USA der Vorstoß in den Mainstream geschafft. Bald schlossen sich Kultfilme an wie Der letzte Tango von Paris, die auch bis Tübingen vordrangen. Vorher hatte noch das generelle Verbot für Pornografie fallen müssen – und es war gefallen. Zuerst 1968 in Dänemark, was die erwähnte Sexmesse ermöglicht hatte. In Deutschland fiel das Verbot erst 1975. Vorausgegangen war das 4. Gesetz zur Reform des Strafrechts, das eine weitere Liberalisierung mit sich brachte und im Sinne der Reformen von 1969 sich jeder moralisierenden Wertung von sexuellen Tätigkeiten entzog. Das zeigte sich bereits an der Neufassung der Überschriften: »Verbrechen und Vergehen wider die Sittlichkeit«, wie es bis dato hieß, wurde durch »Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung« ersetzt. Der Begriff »unzüchtige Handlung« wurde komplett gestrichen. Es war genau diese Unterscheidung zwischen »Unmoral« und »Sozialschädlichkeit«, die den Wertewandel widerspiegelte: Bestraft werden sollte ein Verhalten nur, wenn es die Interessen anderer oder die der Gemeinschaft verletzte, nicht aber, wenn es unmoralisch war.
Inzwischen hat sich der Wind gedreht. Vierzig Jahre Hochwasser haben die Verhältnisse komplett verändert. Nun wird wieder gewertet. Die Moral hat sich zurückgemeldet, tritt gnadenlos als Hypermoral auf und hat eine Zensur eingeführt, die strenger und umfassender ist als alles, was wir bisher kannten. Die Memoiren der Fanny Hill stehen – zumindest in einigen Universitäten in Kanada – wieder auf dem Index, diesmal weil sie von einigen Studenten als »unerträglich heteronormativ« empfunden werden. Es gibt neue Varianten von sexuellem Fehlverhalten und von »sexistischer Gewalt«. Selbst wenn sie im Mikrobereich liegen, drohen drakonische Strafen. Kleinste Verfehlungen reichen aus, um ein Lebenswerk zu zerstören, auch wenn sie schon lange zurückliegen, bisher nicht als solche angesehen wurden, nicht bewiesen werden können und auch keinen erkennbaren Schaden angerichtet haben – wie der Fall Hunt zeigt:
So wurde gemeldet, der Nobelpreisträger Timothy Hunt, ein Molekularbiologe, habe bei einer Konferenz in Südkorea eine Bemerkung gemacht, die Empörung und betretenes Schweigen ausgelöst hätte: »Lassen Sie mich über meine Probleme mit Mädchen sprechen. Drei Dinge passieren, wenn sie im Labor sind: Du verliebst dich in sie, sie verlieben sich in dich und wenn du sie kritisierst, weinen sie.« Es gab einen gigantischen Sturm der Entrüstung. Hunt musste die Konsequenzen ziehen und von seiner Position als Honorarprofessor zurücktreten – wegen eines »sexistischen Kommentars«, wie die Presse meldete. Auch die britische Forschungsgesellschaft Royal Society distanzierte sich von ihm.
Er trat nicht zurück, er wurde getreten. Er fiel tief, seine Karriere war auf einen Schlag beendet. Als der damalige Londoner Bürgermeister Boris Johnson sich schützend vor ihn stellen wolle und den »unerbittlichen Moloch politische Korrektheit« anprangerte, geriet er selbst in die Schusslinie, es hieß, er mache sich »schuldig im Sinne des Antidiskriminierungsgesetzes«. Hunt hatte tatsächlich gesagt, dass Frauen weinen, wenn man sie kritisiert, er hatte allerdings auch – wie absichtlich nicht gemeldet wurde – ergänzt: »Spaß beiseite, ich bin beeindruckt von der wirtschaftlichen Entwicklung Koreas. Und Wissenschaftlerinnen spielten dabei zweifellos eine wichtige Rolle. Wissenschaft braucht Frauen.« Applaus! Gelächter! Die ersten Meldungen waren von der Journalistin Connie St Louis bewusst verfälscht worden. Sie wollte ihn fertig machen. Der Kampf gegen Sexismus ist grausam und verlogen, Schuldbeweise sind nicht nötig, es werden vorzugsweise Unschuldige gerichtet – beinah wäre der Kampf erfolgreich gewesen: Sir Richard Timothy Hunt stand kurz davor, sich das Leben zu nehmen.