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1. Historische Vorbemerkungen

Bernhard Richter

Als Einführung in die Kapitel des vorliegenden Buches erscheint es sinnvoll, die einzelnen Fragen, die im Rahmen der Betrachtung des Themenkomplexes »Stimme« erwachsen können, aus dem historischen Kontext heraus zu entwickeln. Es ist dabei nicht das Anliegen des Autors, eine möglichst umfassende und detaillierte historische Übersicht vorzulegen, hierzu sei der Leser auf die Darstellungen von Peter-Michael Fischer (Fischer 1998) sowie Hans von Leden (Leden 2005a) verwiesen. Vielmehr werden im folgenden Abschnitt einige historische »Meilensteine« in der Erforschung des Phänomens Stimme dargestellt, welche für das Verständnis des vorliegenden Buches von Bedeutung sind.

Eine klare Definition, was unter den Begriffen Stimme und Stimmphysiologie – oder auch Stimmgesundheit – zu verstehen sei, ist nicht trivial, da sich eine Vielzahl von wissenschaftlichen, pädagogischen und therapeutischen Disziplinen mit der Stimme beschäftigt und somit eine Betrachtung aus sehr verschiedenen Blickwinkeln möglich ist. Aus diesem Grund kommen Stimmexperten aus unterschiedlichen Gebieten wie der Anatomie, der Physiologie, der Stimmheilkunde, der Stimmtherapie, der Gesangspädagogik, der Gesangsbühnenpraxis, der Akustik, der Phonetik, der Musikwissenschaft, der Kommunikationswissenschaft, der Psychosomatik und Psychologie, der Sprechwissenschaft sowie der Kulturwissenschaft – um nur einige grundlegende Fächer zu nennen – zu Wort. Entsprechend breit gefächert ist auch die historische Entwicklung in den unterschiedlichen Traditionen.

Altertum

Während im Altertum in den Zeiten von Hippokrates (460–377 v.Chr.) und Aristoteles (384–322 v.Chr.) über Bau- und Funktionsweise der Stimme nur sehr unklare Vorstellungen bestanden, entwickelte der vornehmlich in Rom wirkende griechische Arzt und Forscher Galen (131–201 n.Chr.) anhand seiner Untersuchungen an Tieren grundlegende Beschreibungen des Kehlkopfgerüstes und einiger seiner Muskeln (Feldmann 2001). Auf ihn gehen die Bezeichnung »Glottis« für den Spalt zwischen den Stimmlippen und auch die Entdeckung der Stimmlippennerven zurück.

Im Kontrast zu diesen nur basalen physiologischen Kenntnissen bestand im Altertum ein reiches Wissen über die Stimmpraxis – vornehmlich der Sprecherstimme im Theater und bei öffentlichen Reden (Göttert 1998). Die Rhetorik und ihre Vermittlung hatten einen hohen Stellenwert. Die Sprech- und Formulierungskunst berühmter Redner und Rhetoriker wie z.B. Demosthenes (384–322 v.Chr.) und Cicero (106–43 v. Chr.) und ihre teilweise erhaltenen Schriften (bspw. Cicero 2007) gelten auch heute noch als legendär.

Renaissance

Erste Zeichnungen, welche den Bau des Kehlkopfes mit seinen wichtigsten Strukturen erstaunlich korrekt und detailliert abbildeten, fertigte das Renaissance-Genie Leonardo da Vinci (1452–1519) im Rahmen seiner systematischen anatomischen Studien an, ohne jedoch die Funktionsweise der einzelnen Elemente zu verstehen (von Leden 2005a) (Abb. 1). In der Folge verfeinerten insbesondere die italienischen Anatomen Vesalius (1514–1564), Fallopio (1523–1563) sowie Eustachius (1520–1574) die Kenntnisse über die Knorpel, Muskeln und Nerven des Kehlkopfes erheblich, ohne jedoch zu gesicherten Kenntnissen über die Stimmproduktion zu gelangen. Weitere Anatomen des 16. und 17. Jahrhunderts wie Fabricius (1537–1619) und Casserius (1561–1616) stellten Überlegungen zur Entstehung der Stimme im Kehlkopf an, erkannten jedoch den präzisen Mechanismus der Tonentstehung noch nicht.


Abb. 1: Anatomische Zeichnung des Kehlkopfes von Leonardo da Vinci

18./19. Jahrhundert

Anfang des 18. Jahrhunderts vermutete der französische Arzt und Professor an der Medizinischen Fakultät der Universität Paris Denis Dodart (1634–1707), dass die Tonproduktion im Kehlkopf analog der Entstehung der Pfeiftöne an den Lippen des Mundes zu erklären sei (Dodart 1700).

Den Durchbruch im Verständnis der Kehlkopfphysiologie brachten die Experimente seines Landsmannes und Professorenkollegen Antoine Ferrein (1693–1769) im Jahre 1741. Ferrein führte seine Versuche vornehmlich an Hundekehlköpfen durch, er besaß aber als ehemaliger Marinearzt auch umfangreiche Erfahrung in der Sektion von verstorbenen Menschen. Er beschrieb den Kehlkopf als ein sonst in der Musik nicht vorkommendes einzigartiges Instrument, welches die Eigenschaften eines Saiten- mit denen eines Blasinstruments in sich vereinigt (Ferrein 1741); er formulierte:

»[…] ich möchte […] ein neues Instrument vorstellen, welches den Anatomen und Musikern gleichermaßen unbekannt ist. Es gibt Saiteninstrumente, wie beispielsweise die Geige, das Cembalo; es gibt andere Instrumente, die Blasinstrumente, wie die Flöte oder Orgel, aber man kennt bisher keine Instrumente, die gleichzeitig Saiten- und Blasinstrumente sind, so wie das Instrument, welches ich im Inneren des menschlichen Körpers gefunden habe«.1

Als schwingende – und damit tonerzeugende – Elemente erkannte Ferrein richtigerweise die Stimmlippen, die er als »cordes vocales« bezeichnete. Betrachtet man den Definitionsversuch von Ferrein aus etymologischer Sicht, so bildet sich interessanterweise bis zum heutigen Tage in der Terminologie der Stimmlippen in verschiedenen Sprachen die gewisse Unschärfe ab, die Ferrein schon hellsichtig mit seinem Bild »Blas- und Saiteninstrument in einem« beschrieben hatte. Im Englischen steht neben der direkten Übersetzung des Begriffs von Ferrein, also vocal chords (auch: cords), auch der häufig verwendete Begriff vocal folds, also Stimmfalten. Im Deutschen wird – in Anlehnung an Ferreins Begriff – zwar nicht von »Stimmsaiten« gesprochen, häufig jedoch der Begriff Stimmbänder verwendet; es existiert aber auch als eigenständiger Begriff die Bezeichnung Stimmlippen. Im Italienischen und Spanischen wird der Begriff von Ferrein in direkter Übersetzung übernommen (ital. corda vocale; span. cuerda vocal).

Die Untersuchungen von Ferrein wurden erst etwa hundert Jahre später – ab 1837 – durch Johannes Peter Müller (1801–1858) und seinen Mitarbeitern in Berlin wieder aufgegriffen und an menschlichen Leichenkehlköpfen wissenschaftlich so exakt wie damals möglich nachvollzogen (Müller 1840). In experimentellen Versuchsaufbauten konnten hierbei erstmalig verschiedene Registerkonditionen – vornehmlich Modal- und Falsettregister (vgl. Kap. 6, S. 132 ff.) – simuliert werden.

Im 18. Jahrhundert wuchs das Interesse an den Funktionen des Körpers im Allgemeinen und an der Stimme im Besonderen. So erregte Ende des 18. Jahrhunderts Wolfgang von Kempelen (1734–1804) mit seiner »Sprechmaschine« große Aufmerksamkeit (Felderer 2004). E.T.A. Hoffmann (1776–1822) verarbeitete diese Thematik des »Menschen als Maschine« im Jahr 1816 literarisch in seiner Novelle Der Sandmann und schuf die Figur der Olympia, die von Jacques Offenbach (1819–1880) wiederum kongenial in dessen Oper Les Contes D’HOFFMANN im Jahr 1881 an der Pariser Opéra comique musikalisch auf die Bühne gebracht wurde.

Aus diesem gesellschaftlichen Umfeld resultierten auch im Bereich der Stimmphysiologie neue Entwicklungen. So war ein weiterer wichtiger Meilenstein die erste Beobachtung der Kehlkopffunktion bei der Phonation am lebenden Menschen. Wer tatsächlich hierbei historisch der erste war, ist nicht mehr mit letzter Sicherheit festzustellen (Feldmann 2002). Es ist jedoch bekannt, dass es 1854 dem spanischen Gesangslehrer Manuel Garcia d. J. (1805–1906) gelang, seinen eigenen Kehlkopf mittels eines Spiegels zu untersuchen. Seine Ergebnisse legte er im März 1855 der Royal Society in London schriftlich vor und machte sie somit der Öffentlichkeit zugänglich (Garcia 1855). Wegen seiner bahnbrechenden Untersuchungen und seines Pioniergeistes wurde Garcia von Franz Haböck (1868–1922) auch als »Kolumbus der Stimme« bezeichnet (Haböck 1927). Garcia war über seine Entdeckung der Laryngoskopie hinaus ein wissenschaftlich sehr gebildeter Gesangslehrer, der sich mit der mechanischen Entstehung der Register eingehend auseinandersetzte, wovon seine Veröffentlichungen – die man auch heute noch mit Gewinn lesen kann – ein eindrucksvolles Zeugnis ablegen (Garcia 1847 a/b; 1855). Auch andere prominente Gesangslehrer der Zeit versuchten ihre Methode nach wissenschaftlichen Kriterien zu beschreiben. So verfasste beispielsweise Christian Gottfried Nehrlich (1802–1868), Direktor des Konservatoriums für Gesang zu Berlin, mehrere gesangswissenschaftliche Bücher, unter anderem 1853 eine Publikation mit dem vielsagenden Titel »Die Gesangkunst, physiologisch, psychologisch, ästhetisch und pädagogisch dargestellt. Anleitung zur vollendeten Ausbildung im Gesange, sowie zur Behandlung und Erhaltung des Stimmorgans und zur Wiederbelebung einer verloren geglaubten Stimme. Mit Berücksichtigung der Theorien der größten italienischen und deutschen Gesangmeister und nach eigenen Erfahrungen systematisch bearbeitet und durch eine rationelle Basis zur Wissenschaft erhoben« (Nehrlich 1853). In diesem Werk formulierte er bereits in der Vorrede seinen Anspruch an eine rationale Wissenschaft und leitet hiervon Implikationen für die Gesangspädagogik ab:

»Wenn Alles, was auf Gesetzen beruht, sich durch Nachweisung dieser Gesetze rationell begründen lässt, so kann die Gesangskunst keine Ausnahme machen; denn sie beruht eben so, wie jede andere Kunst, auf gewissen ewig geltenden Gesetzen, mit deren Ergründung man das, was darauf ruht, in seine volle Gewalt bekommt.« (Nehrlich 1853, S. IV)

Wer sich so weit vorwagt, bleibt nicht unbemerkt – Haböck bezeichnet Nehrlich ob seines allumfassenden Wissensdurstes auch als »Faust unter den Gesangslehrern« (Haböck 1927). Nehrlich blieb zudem nicht unwidersprochen. So formulierte Gustav Nauenburg im Jahr 1841 für die von Robert Schumann herausgegebene Neue Zeitschrift für Musik in seinem Beitrag »Revision der herkömmlichen Gesanglehre« folgende grundlegende Kritik an der Wissenschaftsgläubigkeit von Nehrling:

»Die Theorie der Gesangkunst ist zur Zeit noch unvollkommen, weil die Kenntniß des Instruments, d. h. die Kenntniß des menschlichen Stimmorganismus mangelhaft genannt werden muss. Sind wir auch mit Hülfe der Anatomie im Besitze einer detaillierten Stimm-Organen-Lehre, so muß doch die, für die Gesangkunst weit wichtigere Functionen-Lehre mangelhaft und ungenügend genannt werden.« (Nauenburg 1841)

Die auf Garcias Epoche folgenden Jahrzehnte waren geschichtlich von zahlreichen bahnbrechenden technischen Erfindungen und Entdeckungen auf unterschiedlichen Wissensgebieten gekennzeichnet, die in rascher Folge die Untersuchungsmöglichkeiten der stimmphysiologischen Forschungen verbesserten, auch wenn die einzelnen Verfahren zum Teil nicht in Hinblick auf eine Anwendung in diesem Forschungsfeld entwickelt wurden.

So begann Mitte bis Ende des 19. Jahrhunderts eine breite technische Anwendung der unter dem Begriff Elektrotechnik zusammenfassbaren Verfahren, nachdem in vielen kleinen Einzelschritten die Gesetzmäßigkeiten der Elektrizität erkannt worden waren (Sjobbema 1999). Im heutigen wissenschaftlichen und medizinischen Alltag ist Elektrizität im Sinne von elektrischer Energie unentbehrlich (Eckert 2011), ohne sie wäre auch die moderne Stimmforschung mit ihren Verfahren zur Visualisierung und akustischen Analyse nicht denkbar (vgl. Kap. 3, S. 62 ff.).

Auch in der Akustik erfolgten ab Mitte des 19. Jahrhunderts wegweisende Endeckungen u. a. durch die grundlegenden Arbeiten des herausragenden Physiologen und Physikers Hermann von Helmholtz (1821–1894), die den gesamten Wissenschaftszweig revolutionierten (Helmholtz 1863). Sehr bedeutsam war in diesem Bereich auch die rasante Entwicklung der Tonübertragung und -aufzeichnung durch die Erfindung des Telefons, des Grammofons sowie die Entwicklung der Mikrofone und der gesamten Aufnahmetechnik. Die überragende Bedeutung dieser Erfindungen für jegliche »Schallkunst« wird auch dadurch unterstrichen, dass Alexander Graham Bell (1847–1922), einer der wichtigsten Persönlichkeiten in diesem Gebiet, die Ehre zu Teil wurde, dass nach ihm die Maßeinheit Dezibel benannt wurde.

Die Entdeckung der nach ihm benannten Strahlen durch Wilhelm Conrad Röntgen (1845–1923) im Jahr 1895 ermöglichte erstmals Einblicke in den unversehrten Organismus z. B. eines Sängers während des Singens. Radiologische Untersuchungen unter Verwendung von Röntgenstrahlen wurden in stimmphysiologischen Untersuchungen in einem Zeitraum von über 50 Jahren häufig eingesetzt, z.B. von Richard Luchsinger (1900–1993) schon 1949 und von Tom und Mitarbeitern noch 2001 in tomografischen Untersuchungen des Kehlkopfes (Luchsinger 1949; Tom et al. 2001). Mittlerweile ist das Verfahren wegen der möglichen Nebenwirkungen durch die ionisierenden Strahlen in physiologischen Untersuchungen bei Sängern weitgehend von der Magnetresonanztomografie (MRT) (vgl. Kap. 4, S. 74 f.) abgelöst worden (Story et al. 1996).

In das Jahr 1895 fallen ebenfalls die ersten öffentlichen Filmaufführungen durch die Brüder Max und Emil Skladanowsky in Berlin sowie Auguste und Louis Lumière in Paris. Die Verbindung von Ton und Bild, in ersten Anfängen ca. dreißig Jahre später im sogenannten Tonfilm realisiert, ermöglichte in der Folge die Entwicklung von sehr wertvollen Visualisierungsverfahren für die Stimmforschung und hierbei insbesondere die Dokumentation und Nachvollziehbarkeit von Bewegungsabläufen bei der Stimmproduktion.

Sigmund Freud (1856–1939) gelang um die Wende zum 20. Jahrhundert mit seiner Beschreibung innerpsychischer Vorgänge und der Begründung der Psychoanalyse eine ähnlich revolutionäre Entdeckung wie den bisher erwähnten, eher technisch ausgerichteten Forschungspionieren (Gay 1989). Freuds Schriften haben in analoger Weise wie die technischen Errungenschaften einen nachhaltigen Einfluss auf unser heutiges Leben und Wissenschaftsverständnis – auch im Hinblick auf die Gesangskunst (vgl. Kap. 8, S. 161 ff.). Hinsichtlich stimmlicher Äußerungen formulierte er 1917 in seinen Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse allgemein:

»Worte waren ursprünglich Zauber, und das Wort hat noch heute viel von seiner alten Zauberkraft bewahrt. […] Worte rufen Affekte hervor und sind das allgemeine Mittel zur Beeinflussung der Menschen untereinander.« (Freud 1917, S. 10)

Schon Charles Darwin (1809–1882) behauptete in seiner 1872 erschienen Schrift »The expression of the emotions in man and animals«:

»[…] dass die Voreltern des Menschen wahrscheinlich musikalische Töne hervorbrachten, bevor sie das Vermögen der artikulierten Sprache erlangt hatten; und dass demzufolge, wenn die Stimme unter irgendeiner heftigen Erregung gebraucht wird, dieselbe vermöge des Prinzips der Assoziation einen musikalischen Charakter anzunehmen strebt.«2

Diese »musikalischen Elemente« der Sprache werden auch als Prosodie (von griech. prosodía, »Zugesang, Nebengesang«) bezeichnet (Meyer-Kalkus 2001). In Anlehnung an die Musikpraxis schrieb Friedrich Nietzsche über den Begriff Prosodie spezifischer:

»Das Verständlichste an der Sprache ist nicht das Wort selber, sondern Ton, Stärke, Modulation, Tempo mit denen eine Reihe von Wörtern gesprochen wird – kurz, die Musik hinter den Worten, die Leidenschaft hinter dieser Musik, die Person hinter dieser Leidenschaft: alles das also, was nicht geschrieben werden kann.« (Nietzsche 1980, S. 89)

Garcia und seine direkten Nachfolger konnten nur die groben Bewegungen der Stimmlippen beobachten, da die Frequenzen der Stimmlippenschwingungen beim Singen und Sprechen für die Zeitauflösung des menschlichen Auges zu hoch sind: Sie liegen deutlich oberhalb der Flimmerverschmelzungsfrequenz des menschlichen Sehens von etwa 50 Hz. Die Schwingungen liegen in der mittleren Sprechstimmlage des Mannes bei ca. 100–150 Hz, bei Frauen etwa eine Oktave höher bei ca. 200–250 Hz. In der Singstimme ist der Frequenzbereich, den die menschliche Stimme erreichen kann, sehr breit (vgl. Kap. 3, S. 64). Dies spiegelt sich entsprechend in der Gesangsliteratur wider. So schrieb beispielsweise W. A. Mozart (1756–1791) sowohl eine der tiefsten Basspartien – Osmin in der ENTFÜHRUNG AUS DEM SERAIL – als auch eine der höchsten Sopranpartien – Königin der Nacht in der ZAUBERFLÖTE – der Opernliteratur. Wenn der Kammerton beim eingestrichenen a auf 440 Hz festgelegt ist, dann ist der tiefste Ton des Osmin ein großes D = 73 Hz, der höchste Ton der Königin der Nacht ein dreigestrichenes f = 1397 Hz. Wenn also schon die Frequenz dieses tiefen Tones »zu schnell« für das menschliche Auge ist, dann benötigt man zur Visualisierung der Stimmproduktion im Kehlkopf unbedingt eine Technologie zur verlangsamten Darstellung der Schwingungsabläufe.

Exkurs: Stroboskopie

Die technische Möglichkeit zur verlangsamten Darstellung der Schwingungsabläufe liefert die Stroboskopie, welche damit für die weitere Entwicklung der Stimmforschung einen eminent wichtigen Meilenstein darstellt. Obschon sie bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts erfunden worden war (vgl. Kap. 3, S. 71 ff.), wurde sie erst im Jahr 1878 durch Max Joseph Oertel (1835–1897) als Laryngostroboskopie eingesetzt (Oertel 1878). In einzelnen stimmphysiologischen Untersuchungen wandte insbesondere Albert Musehold (1854–1919) die Stroboskopie an, deren Bildmaterial aus heutiger Sicht verblüffend gut ist (Musehold 1897). In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde die Technologie zunehmend in wissenschaftlichen Untersuchungen eingesetzt (Luchsinger u. Dubois 1950). Jedoch hielt die Methode erst nach den technischen Verbesserungen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts Einzug in die allgemeine stimmärztliche Routine. Wichtige Arbeiten wurden hierzu von Elimar Schönhärl (1916–1989) und Volker Barth (1943–2011) geleistet (Schönhärl 1960; Barth 1977). Letzterem gelang es, die Stroboskopie in die Lupenlaryngoskopie zu integrieren und damit nicht nur eine verlangsamte, sondern auch eine optisch vergrößerte Darstellung der Stimmlippen zu erreichen. Auch heute, am Beginn des 21. Jahrhunderts, ist eine computergestützte Stroboskopie in digitaler Aufnahmetechnik aus der angewandten Laryngologie nicht wegzudenken (Dejonckere et al. 2001). Sie hat jedoch den Nachteil, dass sie bisher eine Methode ist, die keine objektiven Messwerte liefert (vgl. Kap. 3, S. 72). Die Beurteilung der in der Stroboskopie erhobenen Befunde erfolgt bisher nicht standardisiert und ist in erheblichem Maße von der Erfahrung des Untersuchers abhängig.

Mit neueren technischen Verfahren wie der Hochgeschwindigkeitsglottografie (vgl. Kap. 3, S. 72) können hier in der Zukunft sicherlich Verbesserungen in der Quantifizierbarkeit und der untersucherunabhängigen Objektivierung der Stimmlippenschwingungen erzielt werden (Richter et al. 2005; Deliyski u. Hillmann 2010).

20. Jahrhundert

Diese technischen Entwicklungen des 19. Jahrhunderts ebneten im 20. Jahrhundert den Weg für das für Sänger sehr bedeutsame Forschungsgebiet der Stimmklanganalyse, wie sie u. a. von Willmer T. Bartholomew (1903–1994), Fritz Winckel (1907–2000), Gunnar Fant (1919–2009) und Johan Sundberg im Rahmen der Untersuchungen der Formanten (vgl. Kap. 4, S. 82ff.) entwickelt wurde (Bartholomew 1934; Winckel 1952; Fant 1960; Sundberg 1970). Insbesondere von Sundberg konnte herausgearbeitet werden, dass der Höreindruck der Stimmqualität eines Sängers wesentlich vom sogenannten »Sängerformanten« abhängt (Sundberg 1995; Berndtsson u. Sundberg 1995) (vgl. Kap. 4, S. 86f.).

Durch die rasante Entwicklung der technischen Möglichkeiten in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts – insbesondere durch die Entwicklung der Computertechnologie – wurde es möglich, eine Vielzahl von Parametern in die Stimmanalyse einzubeziehen. In Anlehnung an eine Aufstellung von Michaelis werden als physikalische Methoden zur Beurteilung der Stimmgüte neben den akustischen Analysen aktuell vornehmlich aerodynamische und elektroglottografische Verfahren eingesetzt (Michaelis 1999) (vgl. Kap. 3, S. 76).

Im Zusammenhang mit der Erforschung der Akustik der Stimme ist – seit den wegweisenden Arbeiten von Helmholtz – auch der Einfluss des Vokaltraktes als wichtiges Forschungsthema der Stimmphysiologie bei Gesangspädagogen wie Wissenschaftlern etabliert worden. Bereits im Jahr 1902 stellte die Sängerin und Gesangspädagogin Lilli Lehmann (1848–1929) die auch heute noch häufig zitierten Bereiche der Vibrationsempfindungen in Brust und Kopf in Abhängigkeit von der Tonhöhe in Schemazeichnungen dar (Lehmann 1902) (Abb. 2).


Abb. 2: Vibrationsempfinden in Brust und Kopf in Abhängigkeit verschiedener Tonhöhen (aus Lehmann 1902)

Obschon seit Garcia bedeutende Fortschritte im wissenschaftsbasierten Verständnis von Bau und auch Funktion der Stimme erzielt werden konnten, war zum Teil ein »Lagerdenken« – »Stimmkunst als Geheimnis« versus »Stimmkunst als Wissenschaft« – auch im 20. Jahrhundert zu beobachten – letzte Reste hiervon sind sogar noch heute vorhanden.

Die Stimmwissenschaft konnte jedoch immer weitere Erkenntnisse zusammentragen. So interessierte sich Woldemar Tonndorf (1887–1957) 1925 für die Wechselbeziehungen zwischen dem Kehlkopf und dem Vokaltrakt, ohne jedoch über die nötigen technischen Voraussetzungen für exakte Messungen zu verfügen (Tonndorf 1925). Seit die dynamische MRT als Methode zur Untersuchung des Vokaltraktes eingeführt wurde (vgl. Kap. 3, S. 74), steht eine Messmethodik zur Verfügung, die detaillierte Untersuchungen des Vokaltraktes und des Larynx im Zusammenhang mit akustischen Analysen ermöglicht (vgl. Echternach 2010).

Bereits Ende des 19. Jahrhunderts entwickelte der aus Berlin stammende und in Straßburg als Professor tätige Physiologe Julius Richard Ewald (1855– 1921) eine myoelastische Theorie der Stimmlippenschwingungen (Ewald 1898), die von Tonndorf unter Anwendung des schon seit dem 18. Jahrhundert bekannten Bernoulli-Effekts erklärt wurde (Tonndorf 1925). Janwillem van den Berg (1920–1985) griff diese Gedanken auf und entwickelte sie zur Myoelastisch-aerodynamischen Theorie weiter (van den Berg 1958), die im Wesentlichen bis heute Gültigkeit hat (Titze 2006) (vgl. Kap. 2, S. 54).

Grundlage für ein korrektes Verständnis der Schwingungseigenschaften der Stimmlippen waren auch die Arbeiten des Freiburger Anatomieprofessors Kurt Goerttler (1898–1983) über die Feinstruktur der Larynxmuskulatur (Goerttler 1950) und von Minoru Hirano zum mehrschichtigen feingeweblichen Aufbau der Stimmlippe im sogenannten Body-Cover-Modell (Hirano 1974) (vgl. Kap. 2, S. 51 ff.). Hirano legte schon zuvor Forschungsarbeiten zur Elektrophysiologie der Kehlkopfmuskulatur vor (Hirano et al. 1970), die heute noch Beachtung finden. Darüber hinaus leistete er wichtige Beiträge zur Entwicklung der funktionserhaltenden Stimmlippenchirurgie, der sogenannten Phonochirurgie (von Leden 2005b; Zeitels 2005). Hans von Leden und Oskar Kleinsasser (1929–2001) werden als Pioniere dieser Operationstechniken angesehen, die auf den Kenntnissen der Stimmlippenstrukturen und ihren Bedeutungen für die Tonproduktion aufbauten (s. Kap. 2, S. 50). Als Vorarbeiten hierfür können die bereits von Gustav Killian (1860–1921) im Jahr 1912 eingeführte Technik der Schwebelaryngoskopie (Killian 1912) und die rasche Entwicklung der Narkoseverfahren sowie der Mikroskoptechnik angesehen werden.

Phoniatrie und Logopädie

Betrachtet man die historische Entwicklung der Diagnostik und Therapie von Personen mit Stimmstörungen, so wird klar, dass schon seit der Antike bekannt ist, dass die Stimme einer besonderen Aufmerksamkeit bedarf (Göttert 2002). Damals schulte die Berufsgruppe der Phonasken die Redner in der Deklamationskunst und im stimmlichen Vortrag. Zur spezifischen Betreuung der Sing- und Sprechstimme hat sich im Laufe der letzten 130 Jahre die Phoniatrie als eigenes medizinisches Fachgebiet entwickelt. Zusammen mit der Pädaudiologie bildet die Phoniatrie seit 1992 in Deutschland einen wesentlichen Eckpfeiler eines eigenen Facharztgebietes, welches sich auf die Pathophysiologie der Kommunikation spezialisiert hat und für die Diagnostik und Behandlung von Erkrankungen und Störungen der Sprache, der Stimme, des Schluckens sowie für kindliche Hörstörungen zuständig ist.

Die Grundlagen der Phoniatrie als moderne medizinische Wissenschaftsdisziplin wurden – nahezu zeitgleich mit den oben angesprochenen technischen Neuerungen – Ende des 19. Jahrhunderts durch Monografien des Freiburger Internisten Kussmaul (1877) und des Berliner Taubstummenlehrers Gutzmann (1879) gelegt (Richter 2011 a). Eine detaillierte Darstellung der historischen Entwicklung der Phoniatrie wurde ausführlich von Jürgen Wendler beschrieben (Wendler 2005).

Im europäischen Kontext entwickelten sich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wichtige phoniatrische Zentren in Berlin und Wien, deren Bedeutung bis in die skandinavischen Länder, vornehmlich Schweden und Finnland, sowie nach Frankreich ausstrahlte. Der Wiener Phoniater Emil Fröschels (1884–1972) führte für die Stimmtherapie im Jahr 1924 offiziell den Begriff »Logopädie« ein. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts bildeten sich weitere Zentren in der Tschechoslowakei, England, USA und Lateinamerika.

Fachgesellschaften, Publikationsorgane und Kongresse

Parallel zu dieser internationalen Entwicklung wurden verschiedene Fachgesellschaften ins Leben gerufen, zunächst ab 1924 die International Association of Logopedics and Phoniatrics (IALP) und in der Folge zahlreiche nationale und internationale Vereinigungen. Bereits 1925 wurde die Deutsche Gesellschaft für Stimm- und Sprachheilkunde (DGSS) gegründet, 1969 das Collegium Medicorum Theatri (CoMeT), 1970 die Union der Europäischen Phoniater (UEP), 1972 die Voice Foundation in den USA sowie für die deutschsprachigen Phoniater 1983 die Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP). 1995 gründete sich die European Laryngological Society (ELS) mit einem laryngologisch/phonchirugischen Schwerpunkt. Bedeutende gesangspädagogische Fachgesellschaften sind die seit 1944 in den USA bestehende National Association of Teachers of Singing (NATS), der Bundesverband Deutscher Gesangspädagogen (BDG, gegr. 1988) sowie die European Voice Teacher Association (EVTA, gegr. 1989).

Eine Gemeinsamkeit dieser Fachgesellschaften ist ein ausgesprochen interdisziplinäres Denken an der Schnittstelle von Gesang, Stimmforschung, Gesangspädagogik und Stimmheilkunde. Auch die Deutsche Gesellschaft für Musikphysiologie und Musikermedizin (DGfMM), die sich 1994 gründete, hat in den letzten Jahren – neben der intensiven Beschäftigung mit den Instrumentalisten – einen Schwerpunkt im Bereich der Sängerstimme hinzugewonnen. Die von den einzelnen Gesellschaften ausgerichteten regelmäßig, meist jährlich stattfindenden Tagungen bieten mittlerweile eine breite Plattform zum Gedankenaustausch, zum Zwecke der Fortbildung und zur Vorstellung neuester gesangswissenschaftlicher Erkenntnisse. Viel beachtete Fortbildungsveranstaltungen im deutschsprachigen Raum sind auch die Berliner Gesangswissenschaftlichen Tagungen (BerGeWiTa) an der Charité, die von der Akademie für gesprochenes Wort veranstalteten Stuttgarter Stimmtage, das vom Austrian Voice Institute ausgerichtete International Voice Symposium in Salzburg, das Leipziger Symposium zur Kinder- und Jugendstimme sowie das Freiburger Stimmforum. Als hervorragendes internationales wissenschaftliches Format hat sich seit 1995 auch die Pan-European Voice Conference (PEVOC) etabliert, die im zweijährigen Abstand in den unterschiedlichen europäischen Staaten tagt. In den USA bestehen mit dem Symposium »Care of the Professional Voice« in Philadelphia und der »Pacific Voice Conference« in San Francisco zwei weitere jährlich stattfindende hochrangige Fachtagungen.

In den letzten Jahrzehnten konnten sich darüber hinaus national wie international mehrere Fachzeitschriften mit dem thematischem Schwerpunkt »Stimme« fest etablieren, die in elektronischen Datenbanken wie PubMed etc. gelistet sind. Seit 1947 erscheint Folia Phoniatrica et Logopaedica, seit 1977 Sprache Stimme Gehör, seit 1986 das Journal of Voice, seit 1991 Logopedics Phoniatrics Vocology.

Es sind also in den letzten Jahren für Stimminteressierte – sowohl für Rezipienten als auch für aktiv wissenschaftlich Tätige – eine Vielzahl von Vereinigungen und Plattformen entstanden, die der Wissensvermittlung und dem -transfer zwischen Forschung und künstlerischer Praxis dienen, neue Erkenntnisse systematisch erfassen und regelmäßig national und international weiter verbreiten.

Exkurs: Buchpublikationen

Aus historischer Perspektive tragen hierzu auch die zahlreichen Monografien und Fachbücher bei, die sich die Stimme – und hier insbesondere die Sängerstimme – zum Gegenstand der Betrachtung ausgewählt haben und die sich dem jeweils aktuellen wissenschaftlichen Kenntnisstand ihrer Epoche verpflichtet fühlen.

Eine erste – für den deutschen Sprachraum wegweisende – Arbeit verfasste Johann Friedrich Agricola (1720–1774) im Jahr 1757. Er legte mit dem Titel: »Anleitung zur Singkunst« eine Übersetzung und Ergänzung der Gesangsschule von Pier Francesco Tosi (1654–1732) vor, die auf Italienisch schon 1723 unter dem Titel »Opinioni de’ cantori antichi, e moderni o sieno osservazioni sopra il canto figurato« erschienen war. Das Buch ist in einer von Thomas Seedorf kommentierten Faksimileausgabe erhältlich (Agricola 2002).

Auch der bereits erwähnte Garcia verfasste 1840/47 mit seiner Abhandlung »Traité complet de l’art du chant« ein Werk, welches bis heute unser Verständnis der Gesangskunst nachhaltig prägt (Henrich 2006).

Mitte des 19. Jahrhunderts legte der Leipziger Mediziner Carl Ludwig Merkel (1812–1876) mit fast 1000 Seiten eine äußerst umfangreiche Monografie vor. Aus dem Titel seines Buches wird sogleich auch der von ihm – und den ihm nachfolgenden Autoren – favorisierte interdisziplinäre Ansatz deutlich: »Anatomie und Physiologie des menschlichen Stimm- und Sprach-Organs (Anthropophonik): nach eigenen Beobachtungen und Versuchen wissenschaftlich begründet und für Studirende und ausübende Ärzte, Physiologen, Akustiker, Sänger, Gesanglehrer, Tonsetzer, öffentliche Redner, Pädagogen und Sprachforscher.« (Merkel 1857)

In der weiteren Folge erschienen zahlreiche Bücher, deren Ziel es war, neue, wissenschaftlich fundierte Erkenntnisse zum Verständnis der Stimme beizusteuern u. a. von Behnke 1882, Lehmann 1902, Musehold 1913, Nadoleczny 1923; die genannten Autoren stellen nur eine kleine Auswahl der einflussreichsten dar. Schon eine detaillierte Darstellung und Würdigung der wenigen angeführten Publikationen würde den Rahmen des vorliegenden Abschnittes sprengen. Hier sei auf den ausführlichen historischen Überblick von Peter-Michael Fischer verwiesen (Fischer 1998).

Auch in den letzten Jahrzehnten setzt sich die Gesangspädagogik sehr eingehend mit den neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen auseinander. Dies betrifft sowohl das gesangsphysiologische und akustische Wissen als auch die stimmärztlichen Untersuchungen. Hier sind aus dem deutschsprachigen Raum exemplarisch die Monografien von Göpfert (1994), Faltin (1999), Faulstich (2000) (jeweils in aktualisierten Neuauflagen erschienen), sowie Pezenburg (2007) zu nennen. Wegbereiter dieser Entwicklung waren auf gesangspädagogischer Seite William Vennard (1909–1971) und Richard Miller (1926–2009), die mit ihren Arbeiten »Singing; the Mechanism and the Technic« (Vennard 1967) und »The structure of singing: system and art in vocal technique« (Miller 1986) großen Einfluss ausübten. Als ebenso bedeutsam für die genannte »Verwissenschaftlichung« der Gesangskunst sind die Arbeiten von Johan Sundberg und Ingo Titze anzusehen. Ihre Bücher »Science of the singing Voice« (Sundberg 1987) und »Principles of Voice Production« (Titze 1994) sind nach wie vor die Standardwerke der aktuellen Stimmwissenschaft. Das Buch von Sundberg ist auch in einer deutschen Ausgabe erhältlich (Sundberg 2015). Große Bedeutung haben auch die stimmärztlichen Arbeiten von Robert Thayer Sataloff und Wolfram Seidner, die beide sowohl Musik (Gesang) als auch Medizin studiert haben. Ihre Bücher »Die Sängerstimme: Phoniatrische Grundlagen des Gesangs« (Seidner u. Wendler 1978) sowie »Professional Voice: The Science and Art of Clinical Care« (Sataloff 1991), jeweils in mehrfach aktualisierten Neuauflagen erschienen, haben entscheidend dazu beigetragen, dass sich in den letzten Jahren eine auf Sänger spezialisierte medizinische Betreuung entwickeln konnte.

21. Jahrhundert – Ausblick

In den letzten Jahren hat die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Phänomen Stimme durch die rasante Entwicklung der technischen Möglichkeiten viele neue Erkenntnisse hinzugewonnen, wie – Pars pro Toto – die vielfältigen Arbeiten zum Vokaltrakt mittels dynamischer MRT und Hochgeschwindigkeitsglottografie zeigen (vgl. Kap. 2, S. 57ff., und Kap. 6, S. 138ff.). In den neuesten gesangspädagogischen Publikationen ist als Trend zu beobachten, dass die Autoren den Versuch unternehmen, die aktuellen computertechnischen Methoden der Stimmanalyse in den Gesangsunterricht zu integrieren, wie Arbeiten von Jan Hammar (2007) und Josef Pilaj (2011) exemplarisch zeigen.

Aus den Überlegungen von Ingo Titze und Katherine Verdolini Abott (Titze u. Verdolini Abott 2012) heraus beginnt sich mit der Vocology zudem ein neuer Wissenschaftszweig zu etablieren, der in naher Zukunft sicherlich von wachsender Bedeutung sein wird.

Zusammenfassung

Aus diesem kurzen Abriss der Stimmhistorie kann man lernen, dass dann am meisten Erkenntnisgewinn zu erzielen ist, wenn Inter- bzw. Transdisziplinarität gelebt wird und Persönlichkeiten mit verschiedenen Zugangswegen zur Stimme gemeinsam versuchen, die Rätsel der Stimme zu ergründen. Wo dies gelingt, sind Theorie und Praxis in engster Weise verzahnt und Forschungsergebnisse können direkt in die Praxis umgesetzt werden, wie – Pars pro Toto – am Beispiel Garcias abzulesen ist. Ein Gegensatz zwischen Theorie und Praxis besteht nur scheinbar und kann dann überwunden werden, wenn alle an der Stimme Interessierten versuchen, eine gemeinsame Sprache zu finden, die als gemeinsamer Nenner dienen kann.

In Analogie zur historisch informierten Aufführungspraxis in der Musik könnte man bei der Stimme von einer wissenschaftlich informierten Stimmpraxis sprechen. Dies impliziert sowohl, dass die Wissenschaftler und stimmtherapeutisch Tätigen über fundierte Kenntnisse der künstlerischen Praxis verfügen als auch, dass die Künstler und Pädagogen möglichst umfangreiches und aktuelles Wissen in der wissenschaftlich erforschten Stimmphysiologie erwerben.

Die zahlreichen technischen Erfindungen und psychologischen Erkenntnisse der letzten 150 Jahre und ihre rasante Weiterentwicklung eröffnen den heutigen Stimmpraktikern und -wissenschaftlern vielfältige Möglichkeiten, die physiologischen Abläufe der verschiedenen Stimmfunktionen verstehen zu lernen. Im neuen Wissenschaftszweig der Vocology werden sich zukünftig die unterschiedlichen Disziplinen, die sich mit der Stimme beschäftigen, unter einem gemeinsamen Dach fortentwickeln können.

Wie aus den historischen Betrachtungen deutlich wird, stehen wir bei Weitem nicht mehr am Anfang im Verständnis des komplexen Phänomens Stimme. Es wird aber auch deutlich, dass wir längst noch nicht am Ziel sind und noch ein spannender Weg vor uns liegt.

1 »[…] je veux […] présenter un instrument nouveau également inconnu aux Anatomistes & aux Musiciens. Il y a des instrumens à corde, tels que le violon, le clavecin; il y en a d’autres à vent, comme la flûte, l’orgue, mais on n’en connoît point qui soient à corde & à vent tout à la fois : cet instrument, […] je l’ai trouvé dans le corps humain.« (Ferrein 1741, S. 409 f.)

2 »[…] that the progenitors of man probably uttered musical tones, before they had acquired the power of articulate speech; and that consequently, when the voice is used under any strong emotion, it tends to assume, through the principle of association, a musical character.« (Darwin 1872, S. 46)

Die Stimme

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