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2. Die Grundlagen der Stimme

Bernhard Richter

Das Instrument Stimme setzt sich aus den drei in Abbildung 3 gezeigten Elementen zusammen:

Tonanregung – Atmung

Ton-/Klangproduktion – Kehlkopf

Ton-/Klangformung – Resonanzräume

Die Stimme ist durch ihre Bauart und Funktionsweise ein einmaliges Instrument, welches hinsichtlich Beeinflussbarkeit der Tonproduktion und der Klangformung durch den Sänger und Sprecher in der Natur und in der Musik nichts Vergleichbares kennt. Für unser Verständnis der Stimme als Instrument sind zwei Grundpfeiler wesentlich: erstens, Kenntnisse über den Bau (Anatomie) des Instrumentes und, zweitens, Kenntnisse über die Funktion (Physiologie) der einzelnen Bauelemente bei der Stimmproduktion. Zur Erläuterung, wie man diese Kenntnisse erlangen und einordnen kann, seien im Folgenden – vor der detaillierten Beschreibung des Instruments Stimme – einige Begriffsdefinitionen vorangestellt.


Abb. 3: Schematische Darstellung der drei Elemente des Instruments Stimme mit den dazugehörigen Möglichkeiten der Visualisierung und Messung

Begriffsdefinitionen

Die Anatomie (von griech. anatémnein, »schneiden, zerteilen«) ist die Wissenschaft vom Aufbau des Körpers, welche ihre Kenntnisse durch eine möglichst feine Zergliederung des Körpers gewinnt. Sie ist im Wesentlichen eine beschreibende Wissenschaft, die – seit ihren Anfängen in der Renaissance (vgl. Kap. 1, S. 18) – ein umfassendes und weitgehend lückenloses Wissen über die grundsätzlichen Bauelemente des Stimmapparates erarbeiten konnte.

Die Physiologie (von griech. phýsis, »Natur«, u. lógos, »Lehre, Vernunft«) ist die Wissenschaft von der Funktionsweise eines Lebewesens. Sie ist im Wesentlichen eine experimentelle Wissenschaft, welche versucht anhand von Modellen oder in Untersuchungen am lebenden Organismus Gesetzmäßigkeiten der jeweiligen Funktionseinheit zu verstehen. Die Stimmphysiologie beschäftigt sich demnach mit der Funktionsweise der Stimme.

Die funktionelle Anatomie bemüht sich, die anatomisch untersuchten Strukturen bestimmten Funktionsprinzipien zuzuordnen. Hierbei geht es immer um die Funktionsweise der Einzelelemente und deren Zusammenspiel.

Für jeden, der die Stimme als Sänger oder Sprecher aktiv benutzt, ist es vor allem wichtig, die Funktionszusammenhänge zu verstehen, weniger bedeutsam dagegen, die einzelnen anatomischen und physiologischen Details isoliert zu betrachten und zu kennen.

In der Stimmphysiologie und auch in der funktionellen Anatomie der Stimme konnten in den letzten 150 Jahren viele Fragen bereits zufriedenstellend geklärt werden, es gibt jedoch noch etliche offene Punkte. Dies ist zum einen dadurch bedingt, dass die menschliche Stimme im Tierreich so einzigartig ist, dass es nur wenige Modelle gibt, die sinnvoll zum Vergleich herangezogen werden könnten. Zum anderen ist die Stimme bei Menschen – und insbesondere die Sängerstimme – nur unter erschwerten Bedingungen zu untersuchen, da manche Untersuchungsverfahren, wie z. B. eine elektrische Ableitung der inneren Kehlkopfmuskeln mittels Nadelelektroden (sog. Elektromyografie [EMG], siehe Kap. 3, S. 77), aus ethischen und stimmfunktionellen Gründen – sowohl im Hinblick auf das Verletzungsrisiko als auch auf die Störung der Funktionsabläufe – während der Stimmproduktion nur eingeschränkt anwendbar sind. Auch Computermodelle der Kehlkopfmechanik sind aufgrund der Komplexität des Stimmproduktionsvorgangs noch nicht vollständig entwickelt, in diesem Bereich wird jedoch intensiv von unterschiedlichen Forschergruppen gearbeitet (Tokuda et al. 2007; Murray u. Thomson 2011).

Manche stimmphysiologischen Erklärungsversuche basieren demzufolge auf theoretischen Modellen – wie z. B. der Interaktion zwischen Stimmquelle und Vokaltrakt –, die noch nicht in wissenschaftlichen Untersuchungen beim Menschen endgültig bestätigt werden konnten. Trotzdem sind solche Theorien im wissenschaftlichen Prozess sinnvoll und notwendig, wie der Satz des berühmten Naturwissenschaftlers und Aufklärers Georg Christoph Lichtenberg (1742–1799) deutlich macht:

»Je mehr sich bei Erforschung der Natur die Erfahrungen und Versuche häufen, desto schwankender werden die Theorien. Es ist aber immer gut, sie nicht gleich deswegen aufzugeben. Denn jede Hypothese, die gut war, dient wenigstens dazu, die Erscheinungen bis auf ihre Zeit gehörig zusammen zu denken und zu behalten. Man sollte die widersprechenden Erfahrungen besonders niederlegen, bis sie sich hinlänglich angehäuft haben, um es der Mühe wert zu machen, ein neues Gebäude aufzuführen.« (Lichtenberg 1984, S. 445)

Atmung

Die Atmung ist für das menschliche Leben von existenzieller Bedeutung. Schon in der Schöpfungsgeschichte lesen wir im 1. Buch Moses (2, 7):

»Und Gott der Herr machte den Menschen aus einem Erdenkloß, und er blies ihm ein den lebendigen Odem in seine Nase. Und also ward der Mensch eine lebendige Seele.«

Die Atmung hat demzufolge eine sehr enge Verbindung zur Psyche. Yehudi Menuhin (1916–1999) hat diesen Zusammenhang klar formuliert:

»Das Singen ist zuerst der innere Tanz des Atems, der Seele […]« (Menuhin 1999)

Die primäre physiologische Anforderung an die Atemfunktion ist der lebenswichtige Gasaustausch in der Lunge. Hauptsächlich wird dabei Sauerstoff aufgenommen und Kohlendioxid abgegeben.

Im Folgenden werden die anatomischen und physiologischen Grundlagen des Atmungsvorgangs sowie die Atmung beim Singen und Sprechen erläutert. Diese werden anschließend in Beziehung gesetzt zu gerade unter Sängern und Gesangspädagogen häufig verwendeten Begriffen.


Abb. 4: Atmungsorgane: Lungenflügel mit den Bronchien sowie Luftröhre

Aufbau des Atemapparats

Die Atmungsorgane im engeren Sinne bestehen anatomisch aus den Lungenflügeln mit den Bronchien sowie der Luftröhre (Abb. 4). Der Atemapparat im weiteren Sinne umfasst zusätzlich den Brustkorb (Thorax) – mit den Rippen, dem Brustbein und der Wirbelsäule –, die Zwischenrippenmuskulatur sowie das Zwerchfell (Abb. 5).

Als hauptsächliche Atemmuskeln sind das Zwerchfell und die externen Zwischenrippenmuskeln anzusehen. Das Zwerchfell trennt den Brustraum vom Bauchraum und besteht vornehmlich aus Muskulatur und Bindegewebe. Es ist wie eine Kuppel geformt, die am unteren Rand des Rippenbogens angeheftet ist und sich in den Brustraum nach oben wölbt. Die Zwischenrippenmuskeln sind scherengitterartig zwischen den Rippen gelegen (Abb. 6). Die äußeren Muskelzüge heben die Rippen an, die inneren senken sie.


Abb. 5: Atemapparat mit Brustkorb, Zwerchfell und äußeren Zwischenrippenmuskeln

Bei der Ausführung des Atmungsvorgangs bei der Phonation können auch zahlreiche andere Muskeln beteiligt sein, was für ein erweitertes Verständnis der Atemkontrolle wichtig ist. Dies ist zum einen die Muskulatur, die außen an den Rippen ansetzt (sog. Atemhilfsmuskulatur, z. B. M. serratus etc.) und diese ebenfalls brustkorberweiternd bewegen kann (Abb. 7). Zum anderen können aber auch die Muskulatur der Bauchdecke (s. Abb. 9, a/b), der M. psoas (s. Abb. 20, S. 39) sowie die Rückenmuskeln und andere Muskeln der Gesäß- und Beckenbodenmuskulatur zur Aktivierung und subjektiven Kontrolle der Atmungsmuskelketten direkt oder indirekt dienen.


Abb. 6: Zwischenrippenmuskeln: vergrößerte Darstellung der scherengitterförmigen Anordnung


Abb. 7: Atemhilfsmuskulatur, z. B. M. serratus

Der Atmungsvorgang allgemein

Die Einatmung ist ein aktiver Vorgang, welcher durch Kontraktion der Einatemmuskulatur – im Wesentlichen des Zwerchfells und der äußeren Zwischenrippenmuskeln – ermöglicht wird. Wenn sich die Muskulatur des Zwerchfells zusammenzieht, wird die Zwerchfellkuppel abgeflacht und der Brustraum dadurch erheblich vergrößert (Abb. 8b). Gleichzeitig werden die inneren Organe des Bauchraums nach unten geschoben. Als Folge davon weicht die Bauchdecke nach vorne und an den Flanken zur Seite aus. Dies führt zu einer sicht- und fühlbaren Vorwölbung dieser Strukturen. An der Vergrößerung des Brustraumes sind auch die äußeren Zwischenrippenmuskeln beteiligt, welche bei Kontraktion die Rippen anheben und damit den Brustkorb weiten. Als Folge dieser beiden brustkorberweiternden Vorgänge dehnt sich die Lunge aus und lässt die Luft einströmen, da sie über die Adhäsivkräfte des Brustfells mit den Wänden des Brustraumes verbunden ist und somit den Bewegungen der sie umgebenden Strukturen folgt.

Die Ausatmung ist bei der unangestrengten Atmung primär ein passiver Vorgang, da das Zwerchfell erschlafft und die Schwerkraft und die Rückstellkräfte des Brustkorbes und der Lunge beim Ausatmungsvorgang wie eine Feder wirken, welche den Brustkorb verkleinert (Abb. 8a) und dazu führt, dass die Luft als Folge dieser Verkleinerung aus der Lunge entweicht. Jedoch kann die Ausatmung zu einem Teil auch als aktiver Vorgang verstanden werden, wenn die inneren Zwischenrippenmuskeln und die Bauch- und Rumpfmuskeln sich zusammenziehen, das Brustraumvolumen verkleinern und damit die Luft aus den Lungen pressen.


Abb. 8 a/b: Stellung des Zwerchfells bei a) Ausatmung, b) Einatmung; MRT-Aufnahme

In den Atemwegen können sich von der maximalen Einatmung bis zur maximalen Ausatmung – in Abhängigkeit von Geschlecht und Körpergröße – etwa 4 bis 5 Liter Luft bewegen. Man bezeichnet diese Luftmenge auch als Vitalkapazität. Es verbleibt jedoch auch nach maximaler Ausatmung immer ein Luftrest in der Lunge, der als Residualkapazität bezeichnet wird (Abb. 10).


Abb. 9 a/b: Bauch- und Rumpfmuskeln a) anatomische Zeichnung ausgewählter Muskeln von vorne, b) schematische Darstellung dieser Muskelzüge


Abb. 10: Atemvolumina

Die normale Atmung geschieht aus einer Brustkorbposition heraus, in der die Kräfte der Ein- und Ausatmung ausgewogen sind – im oben beschriebenen Beispiel der Feder wäre die Federkraft gleich null. Dieser Punkt liegt bei ca. 40 % der Vitalkapazität und wird auch als Atemruhelage bezeichnet. Englisch heißt dieser Ausgangspunkt »Resting Expiratory Level« (REL) (Abb. 11). Zwar ist es theoretisch möglich, ca. 95% der Vitalkapazität zur Stimmproduktion zu nutzen (Isshiki et al. 1967), jedoch kommt es unterhalb von REL zu einem Einatemimpuls, der bei weiterer Stimmgebung aktiv unterdrückt werden muss. Dies wird als relative Luftnot wahrgenommen, obwohl hinsichtlich der tatsächlichen Lungenkapazität und des Sauerstoffgehalts der Atemluft in der Lunge noch lange kein Mangel herrscht. Sänger fühlen sich bei der Phonation mit Lungenvolumina oberhalb der Atemruhelage – also oberhalb von REL – wohler als unterhalb.

Die Zeitspanne, die ein Ton ohne Atem zu holen ausgehalten werden kann, wird als Tonhaltedauer bezeichnet. Sie liegt bei normalen nicht stimmlich trainierten Menschen im Bereich von etwa 20 Sekunden (Männer ca. 25 s, Frauen ca. 17 s).


Abb. 11: Lungenvolumina und subglottische Drücke während des Singens mit Atemruhelage – Resting Expiratory Level (REL) (nach Proctor 1980)

Der Atmungsvorgang beim Singen – physiologische Kennwerte

Sänger erreichen – nahezu unabhängig vom Geschlecht – etwas längere Tonhaltedauern als stimmlich Untrainierte. Bei unseren Gesangsstudierenden messen wir regelmäßig Werte von 30 Sekunden und länger. Die Atemphrasen, die in der klassischen Musik verlangt werden – anhand der Abschätzung bei CD-Einspielungen mittels einer Stoppuhr –, sind im Vergleich zur mittleren Tonhaltedauer, die ein Sänger normalerweise ausführen kann, nicht extrem lang. Lange Phrasen, die im musikalischen Kontext auf einen Atem gesungen werden, liegen im Bereich um 20 Sekunden. Beispielhaft ist eine Aufnahme der Arie »Quell‘ usignolo« aus LA MEROPE (UA 1734) von Geminiano Giacomelli (1692–1740) zu nennen, gesungen von Vivica Genaux (»Arias for Farinelli«, Leitung René Jacobs, 2002; Label: Harmonia Mundi France).

Der Luftstrom wird bei der Tonproduktion im Kehlkopf immer wieder durch den Stimmlippenschluss unterbrochen. Dies wirft die Frage auf, wie viel Luft man zum Singen tatsächlich braucht. Zwar ist die Tonanregung im Kehlkopf ohne einen gewissen Luftstrom nicht möglich. Beim Singen wird jedoch nur eine geringe Menge Luft ausgeatmet und damit verbraucht, denn – anders, als wenn man einen Kirschkern im hohen Bogen ausspuckt – findet kein direkter »Materialtransport« des Tones aus dem Kehlkopf des Sängers zum Ohr des Zuhörers statt, sondern es wird die Luftsäule im Vokaltrakt des Sängers unter geringem Luftverbrauch zu Schwingungen angeregt und diese Schwingungen werden als Schallwellen in der Luft weiter ausgebreitet.

Bei Qualitätssängern sind die Stimmlippen nur etwa während der Hälfte der Zeit geöffnet (Echternach 2010). Auch dies erklärt, warum pro Zeiteinheit relativ wenig Luftverbrauch stattfindet. Als anschauliche Demonstration, wie gering der Luftverbrauch beim Singen tatsächlich ist, kann der Versuch mit einer Kerze herangezogen werden (Abb. 12): Hält man eine brennende Kerze beim Singen des Vokals [a] vor den Mund, flackert die Flamme nicht, auch wenn man Fortissimo singt.

In Abbildung 13 ist der Unterschied zwischen a) einer maximal forcierten Atmung und b) der Atmung bei einem lang ausgehaltenen gesungenen Ton dargestellt. Es ist gut zu erkennen, dass bei der forcierten Atmung pro Zeiteinheit eine möglichst große Menge Luft rasch ein- und ausgeatmet wird, während beim gehaltenen Ton pro Zeiteinheit nur sehr wenig Luftverbrauch stattfindet.


Abb. 12: Atemstrom beim Singen: Versuch mit der Kerze

Beim Singen ist also nicht eine maximale Luftmenge vonnöten, sondern es geht vielmehr um eine möglichst optimale Regulierung des Luftverbrauchs. Der tatsächliche Luftverbrauch beim Singen und die Regulierung desselben ist nicht nur abhängig von dem in der Lunge befindlichen Luftvolumen, sondern auch vom exspiratorischen Kraftaufwand, vom Stimmlippenschluss, von der Lautstärke des Tones, von der Tonhöhe und zusätzlich auch von Alter, Geschlecht und psychischer Verfassung des Sängers.

Der minimale subglottische Druck, der zur leisesten Phonation notwendig ist, beträgt ca. 2–3 cm H2O. Die maximalen subglottischen Drücke, die von Sängern erreicht werden, liegen bei ca. 60 cm H2O (Bouhuys et al. 1968). Diese Werte sind im Vergleich zu Instrumentalisten gering, da bei Blechbläsern mehr als doppelt so hohe Drücke nachgewiesen wurden (Bouhuys 1968).

Sänger passen den subglottischen Druck sowohl an die Tonhöhe als auch an die Lautstärke an, wie Sundberg zeigen konnte (Abb. 14). Dies ist bedeutsam für unterschiedliche Gesangsstile wie Klassik, Belting, Pop etc. Auch innerhalb des klassischen Gesangs gibt es jedoch deutliche Unterschiede des subglottischen Drucks bei lyrischen und dramatischen Stimmen, wie Messungen von Sundberg zeigen (Abb. 15). Wie wir aus Untersuchungen von Sundberg wissen, gibt es normalerweise einen klaren Zusammenhang zwischen Tonhöhe und subglottischem Druck: Je höher ein Ton ist, umso größer wird auch der subglottische Druck, der zu seiner Erzeugung notwendig ist (Abb. 16).


Abb. 13 a/b: a) forcierte Ein- und Ausatmung, b) kontrollierte Atmung beim Singen

Eine Verdopplung des subglottischen Drucks führt zu einer Zunahme des Schalldruckpegels um ca. 9 dB (Bouhuys et al. 1968). Diese Schalldruckpegelerhöhung entspricht in etwa einer Verdopplung der subjektiv empfundenen Lautheit, d. h. der Ton klingt für den Zuhörer etwa doppelt so laut.


Abb. 14: Subglottischer Druck in Abhängigkeit von Tonhöhe und Gesangsstil (die Tonhöhen sind in englischer Nomenklatur angegeben, vgl. Abb. 56, S. 64)

Anforderungen an die Sängeratmung

Als Zielparameter für eine funktionstüchtige Sängeratmung gibt es ein gemeinsames Ziel, welches musikalisch motiviert ist: den Ton. Dieser Ton kann recht präzise durch drei Parameter beschrieben werden: Tonhöhe, Tondauer sowie Tonstärke. Diese Parameter sind in der Regel auch durch die Notation und die Vortragsbezeichnungen im Notentext fixiert, wie in Abbildung 17 (S. 36) exemplarisch gezeigt. Das so in den Noten genannte musikalische Ziel ist jedoch nicht vollständig standardisierbar, sondern von der Interpretation und der Klangvorstellung jedes einzelnen Sängers abhängig. Als Beispiele – die jeder Gesangsinteressierte »im Ohr hat« – können die sehr unterschiedlichen Interpretationen der SCHÖNEN MÜLLERIN von Franz Schubert (1797–1828) durch die Sänger Fritz Wunderlich (1930–1966) mit Pianist Hubert Giesen (1898–1980), Christoph Prégardien mit Michael Gees sowie Jonas Kaufmann mit Helmut Deutsch dienen. Der gezeigte Notentext wird im Hinblick auf die genannten drei Parameter von den einzelnen Sängern – und auch Pianisten – sehr unterschiedlich ausgeführt. Dennoch hat jeder Sänger für sich genommen in seiner Atemführung eine klare Herangehensweise und – atemabhängig – eine überaus klare Klangvorstellung von jedem einzelnen Ton.


Abb. 15: Unterschiede des subglottischen Drucks bei lyrischen und dramatischen Sängerinnen (nach Sundberg 2003; die Tonhöhen sind in englischer Nomenklatur angegeben, vgl. Abb. 56, S. 64)


Abb. 16: Subglottischer Druck in Abhängigkeit von der Tonhöhe und Lautstärke (nach Sundberg 1987)


Abb. 17: Die SCHÖNE MÜLLERIN von Franz Schubert, Auszug aus dem Lied Nr. 6, »Der Neugierige« (Faksimile der bei A. Diabelli & Co. erschienenen Ausgabe von 1830)

Regulation der Sängeratmung

Der Atemregulationsvorgang beim Singen folgt im Prinzip der Systematik einer mathematischen Gleichung mit drei bekannten Variablen. Es sind dies, erstens, der Ton, zweitens, die Position des Tones in der musikalischen Phrase und, drittens, die Atemdynamik über die Zeit. Es gibt bei diesen drei Variablen eine klare Anforderungshierarchie wie in Abbildung 18 dargestellt.

An oberster Stelle steht der Ton. Der einzelne Ton ist jedoch nicht isoliert zu betrachten, sondern er ist in eine musikalische Phrase eingebunden. Zusätzlich ist zu beachten, dass auch die Atmung in sich selbst ein dynamischer Vorgang ist: Kurz nach der Einatmung steht am Anfang einer Phrase für die jeweilige Tonproduktion zu viel Luft zur Verfügung, so dass vom Sänger dafür Sorge getragen werden muss, nicht zu viel Luft herauszulassen. Häufig wird für diese regulatorische Notwendigkeit auch der Begriff der Einatmungstendenz verwendet. Am Ende einer langen Phrase ist genau das Gegenteil erforderlich, indem nach Überschreiten des REL zusätzlich Luft zur Verfügung gestellt werden muss.


Abb. 18: Anforderungshierarchie des Tones

Man kann den Atmungsvorgang – sehr prosaisch und wenig künstlerisch, aber dennoch instruktiv – mit einer Marktwirtschaft vergleichen und mit den aus der Ökonomie stammenden Begriffen Angebot und Nachfrage argumentieren. Am Beispiel der Arie »Ich freue mich auf meinen Tod« aus der Kantate ICH HABE GENUG (BWV 82) von Johann Sebastian Bach (1685–1750) lässt sich dieser Vergleich illustrieren (Abb. 19).

Die einzelnen Töne der Gesangslinie symbolisieren die Nachfrage, nach der sich das Angebot an Luft zu richten hat. Am Anfang einer Phrase herrscht ein Überangebot an Luft, die Luftzufuhr muss also gedrosselt werden. Nach einer gewissen Phonationsdauer und dem damit einhergehenden Luftverbrauch sind Angebot und Nachfrage ausgeglichen, der REL ist erreicht. Beim Autor ist dies (meist) in Takt 125 auf der dritten Zählzeit der Fall. Da dann die musikalische Linie ohne Zwischenatmung noch bis Takt 127 weitergesungen werden sollte, beginnt die dritte und letzte Phase des Atemzyklus, in welcher ein relativer Mangel an Luft besteht, so dass diese zur Aufrechterhaltung des erforderlichen subglottischen Drucks für die Tonproduktion durch aktive Ausatmungsvorgänge mobilisiert werden muss. Wie in einer Marktwirtschaft, in der weder Mangel noch Überfluss ideale Voraussetzungen darstellen, sollte zu jedem Zeitpunkt des Geschehens genau die richtige Menge an Luft bereitgestellt werden, welche für den jeweiligen Ton nach der interpretatorischen Vorstellung des Sängers im Kontext der musikalischen Phrase benötigt wird. Diese Gegensätzlichkeit der Anforderung an die Atemführung in einer musikalischen Gesangslinie – am Beginn Weghalten zur Vermeidung eines Überangebotes, am Ende Zuführung zur Bereitstellung der benötigten Luft – macht es fast unmöglich, den Atemvorgang in seiner Ausführung in einem einzigen Fachterminus begrifflich zu fassen.


Abb. 19: Bachkantate ICH HABE GENUG (BWV 82), Auszug aus der Arie Nr. 5, »Ich freue mich auf meinen Tod«

Eine weitere Schwierigkeit bei der Betrachtung der Atemphysiologie stellt die Tatsache dar, dass die Parameter wie Lungenvolumina, Flexibilität der Rippen, Tonhaltedauer und Atemregulation starken Veränderungen in der Lebenszeitperspektive unterworfen sind und im Alter nicht selten deutliche funktionelle Einschränkungen zu beobachten sind, die das Singen erschweren (vgl. Kap. 10, S. 186 ff.).

Sängerische Vorstellungen und Terminologie zur Atmung

Die sängerische Vorstellung und Körperwahrnehmung entsteht aufgrund eigener Erfahrungen beim Singen, die im Wesentlichen auf der Wahrnehmung der äußerlich sichtbaren und innerlich spürbaren Vorgänge bei der Atmung beruhen. Ähnlich wie bei der Kehlkopfmuskulatur ist es auch bei der Atmung äußerst hinderlich, dass wir über keine bewusste Wahrnehmung und direkte willentliche Steuerung der wichtigsten Atemmuskeln beim Phonationsvorgang wie Zwerchfell und Zwischenrippenmuskulatur verfügen. Hierin unterscheidet sich diese Muskulatur grundsätzlich von anderen Muskelgruppen z. B. der Hand, die wir willkürlich sehr bewusst steuern können: Wenn wir eine feinmotorische Bewegung ausführen, z. B. beim Einfädeln eines Fadens durch ein Nadelöhr, können wird die Position der Finger millimetergenau und bewusst abstimmen.

Bei der Muskulatur von Zwerchfell und den Zwischenrippenräumen besteht weder eine klare sensorische Information, in welcher Stellung bzw. Position sich diese Muskeln gerade im Körper befinden, noch können die Muskeln willentlich von einer Position in eine andere isoliert bewegt werden. Allerdings können die Auswirkungen dieser Bewegungen körperlich-sensorisch, optisch und akustisch wahrgenommen und beurteilt werden. Durch Aktivierung der steuerbaren Muskeln, wie z. B. der Bauchdecke etc., kann zusätzlich die eigentliche Atmungsmuskulatur in ihrer Funktion beeinflusst und indirekt kontrolliert werden.

Sänger verwenden häufig Begriffe wie Stütze, Bauchatmung, Flankenatmung und viele andere mehr (Martienssen-Lohmann 1956). Auch bildliche Vorstellungen sind sehr verbreitet (vgl. Kap. 7, Tab. 7, S. 156). Die anatomisch-physiologische Realität scheint auf den ersten Blick in Kontrast bzw. Widerspruch zu diesen sängerischen Begriffen zu stehen. So findet die Atmung physiologisch im Brustkorb statt und beispielsweise nicht im Bauch oder den Flanken. Jedoch sind die sängerischen Vorstellungen dann keinesfalls falsch oder irrig, wenn man berücksichtigt, dass mit diesen Begriffen nicht die tatsächlichen physiologischen Vorgänge beschrieben oder erklärt werden sollen, sondern eher die durch die Atmungsvorgänge ausgelösten oder sie begleitenden körperlichen Sensationen. Aus diesem Grund wurde für den vorliegenden Absatz bewusst nicht das Wort Fiktion verwendet – als Gegensatz zu den gesicherten Fakten (physiologische Kennwerte) der Atemphysiologie –, weil dies implizieren würde, dass Sänger sich etwas nicht Vorhandenes »einbilden«. Dies ist jedoch nicht der Fall, es geht vielmehr darum, die Terminologie der Sänger in die tatsächlich ablaufenden physiologischen Vorgänge einzuordnen. In diesem Sinne sollte man nicht versuchen, die anatomischphysiologische Begrifflichkeit eins zu eins auf die sängerische Terminologie zu übertragen, vielmehr erscheint eine echte Übersetzungsarbeit notwendig zu sein. Als Verdeutlichung, worum es bei dieser Transferleistung gehen sollte, können die englischen Begriffe für »Übersetzer« dienen: Neben der wörtlichen Übertragung translator ist auch der Begriff interpreter gebräuchlich. Eine Interpretation ist genau das, was in unserem Fall erforderlich ist.

Das Thema Atem hat unter manchen Sängern und Stimmtherapeuten einen »quasi-religiösen« Status. Es gibt mehrere Methoden und Schulen zum »einzig richtigen« Erlernen und Anwenden des Atems. Die unterschiedlichen Schulen führen teilweise erbitterte Richtungs- und Glaubensdebatten. Manchmal wird dabei nicht vorhandenes Wissen durch Glaubensgrundsätze ersetzt. Die Fragen der Atmung werden nicht nur kontrovers, sondern auch emotional erörtert. Beispielhaft mag dies die aktuelle Debatte über die bipolare Atemlehre der Terlusollogie verdeutlichen, die ebenso glühende Anhänger wie Gegner hat (Beyer 2012, Altenmüller 2012).

In unserer bisherigen Darstellung sollte dieser komplexen Thematik keine »Neue Schule« hinzugefügt werden, sondern es wurden die bekannten Fakten und Problemstellungen sortiert und aus physiologischer Sicht dargestellt. Ausgehend von der Darstellung der physiologischen Anforderungen, die der aktive Gesang an die Atemfunktion stellt, werden im Folgenden einige unter Sängern sehr verbreitete Begriffe näher erläutert – quasi »interpretiert«.

Die Herleitung der Begriffe Bauch- und Flankenatmung kann dadurch erklärt werden, dass es – wie oben bereits beschrieben – bei der Einatmung zu einer Abflachung der Zwerchfellkuppel kommt. Dadurch werden die Organe des Bauchraums verlagert und es kommt zu einer Vorwölbung der Bauchwand und der Flanken. Im Unterschied zum Zwerchfell haben wir an Bauch und Flanken sowohl eine sensorische Rückmeldung als auch eine motorische Kontrolle. Wir können diese Körperpartien sowohl willentlich weiter vorwölben, als auch einziehen – Letzteres ist eine gute Nachricht für Herren mit einem gewissen »Embonpoint«. Durch diese aktive Kontrolle bekommt man den Eindruck, die Atmungsbewegungen des Brustraumes über den Bauchraum indirekt steuern zu können. Im Zusammenhang mit diesem Atemtyp wird auch der Begriff costo-abdomineller Atemtyp verwendet, also die kombinierte Atmung der Brust- und Bauchraumbewegung (von lat. costa, »Rippe«, u. abdomen, »Bauch, Unterleib«). Sie gilt als physiologisch günstige Atmung.

Die Ableitung des Begriffs der Atmung in den Rücken ist vielschichtiger, jedoch beruht auch diese Begriffswahl auf der sensorischen und motorischen Wahrnehmung bei der Stimmgebung. Mit dem Begriff Rückenatmung können Bewegungen in verschiedenen Abschnitten des Rückens gemeint sein. Das Gefühl, die Weitung des Brustkorbs im oberen Anteil des Rückens zu unterstützen, kann durch Hängenlassen der Schultern und gleichzeitige Tiefverlagerung der Schulterblätter – also der oberen Rückenpartien – erzeugt werden. Diese Haltung führt bei der häufig zu beobachtenden gleichzeitigen Aktivierung des M. omohyoideus zu einer Tieferstellung des Kehlkopfes (vgl. Abb. 25a/b, S.44, und Abb. 53 a/b, S. 60). Diese Art der Haltungsaufrichtung beeinflusst also sowohl das Einatmungsgefühl als auch Klangaspekte des Vokaltraktes.1

Die Lenkung des Atemstroms aus dem Bereich der unteren Rückensegmente ist ebenfalls eine gängige sängerische Vorstellung. Dies könnte physiologisch mit der Tatsache zusammenhängen, dass die Zwerchfellschenkel an den Lendenwirbeln angeheftet sind und an diesen selben Segmenten der Wirbelsäule auch der große Lendenmuskel, M. psoas major, entspringt (Abb. 20). Der M. psoas ist – zusammen mit dem M. illiacus – der stärkste Hüftbeuger des Menschen. Da in der Gesangstechnik bei der Einatmung zumeist eine gewisse Rundung der unteren Lendenwirbelsäule zusammen mit einer leichten Beugung der Hüften und der Knie empfohlen wird, führt diese Bewegung, die in der unteren Rückenregion hinten wahrgenommen wird – welche jedoch tatsächlich aus der Bewegung der bauchwärts gerichteten Abschnitte der Lendenwirbelsäule resultiert – zu dem Gefühl, den Atem aus dem unteren Bereich des Rückens steuern zu können. Diese funktionellen Aspekte der Kontraktion des M. psoas könnten auch erklären, warum eine aktive Anwinkelung des Beines, z. B. mit Platzierung des Fußes auf einen Stuhl, einen positiven Effekt auf die Atmungsfunktion haben kann.


Abb. 20: Anatomische und funktionelle Nähe der Zwerchfellschenkel und des M. psoas major

Nicht selten wird auch der Begriff der Atemmuskelketten verwendet (Husler u. Rodd-Marling 1965). Hierbei wird den außen am Brustkorb befindlichen Muskeln die Eigenschaft zugeschrieben, den Brustkorb zu stabilisieren; die Aktivierung weiter entfernter Muskelzüge soll helfen, die Atmung direkt zu steuern.

Der Begriff Hochatmung leitet sich aus der äußerlich sichtbaren Mitbewegung der Schultern – im Sinne eines Hochziehens – und der oberen Brustkorbanteile bei der Einatmung ab. Sie gilt unter Sängern als nicht sinnvolle Atembewegung.

Im Zusammenhang mit der Atmung werden auch häufig zwei italienische Begriffe verwendet: Unter cantare sul fiato versteht man ein »Singen auf dem Atem«. Gemeint ist die klanglich ideale Atemregulation, die zu einem balancierten Ton führt, der zugleich klangvoll, aber nicht »gedrückt« ist. Martienssen-Lohmann weist in diesem Zusammenhang auf das Gegensatzpaar des »Singens auf dem Atem« und des »Singens mit dem Atem« hin (Martienssen-Lohmann 1956); unter messa di voce versteht man eine dynamische Steigerung und Abschwächung eines Tones auf derselben Tonhöhe – im Deutschen auch als Schwellton bezeichnet. Dieser Vorgang ist physiologisch sehr schwer zu kontrollieren, da die Steigerung der Lautstärke durch eine Steigerung des subglottischen Drucks erzeugt wird, was wiederum ohne Gegenregulation zu einer Tonerhöhung führen würde. Atemdruck und Stimmlippenspannung müssen hier also sehr fein aufeinander abgestimmt werden. Selbst bei einer hervorragenden Sängerin wie Cecilia Bartoli lässt sich eine geringe Tonerhöhung bei Steigerung der Dynamik nicht vollständig vermeiden, wie die Auswertung des Sonagramms (Schallspektrogramm; vgl. Kap. 4, S. 86) eines Schwelltones zeigt (Abb. 21).

Im deutschen Sprachgebrauch wird im Zusammenhang mit der sängerischen Atmung – und auch der Atmung der Bläser – häufig der Begriff Stütze verwendet (Richter u. Seedorf 2010c). Was unter »Stütze« zu verstehen sei, ist allerdings nicht einheitlich definiert. Seidner und Wendler weisen darauf hin, dass man in der italienischen Terminologie in Bezug auf den Begriff appoggio unterscheide zwischen appoggiare la voce in petto, »Stützen der Stimme im Brustkorb«, das sich vor allem auf den Atemvorgang während des Singens beziehe, und appoggiarsi in testa, »sich in den Kopf stützen«, das eher auf die Klangbildung in den Ansatzräumen ziele (Seidner u. Wendler 1997). Um diesen Unterschieden gerecht zu werden, gehen sie von einer »Atemstützfunktion« aus. Trotz dieser in sich schlüssigen und umfassenden Herleitung des Begriffs ist jedoch weiterhin nicht vollständig geklärt, inwieweit der seit dem späteren 19. Jahrhundert gebräuchliche italienische Terminus appoggio und der deutsche Terminus Stütze tatsächlich das Gleiche meinen, worauf bereits Fischer in seiner Monografie »Die Stimme des Sängers« hinweist (Fischer 1998).


Abb. 21: Cecilia Bartoli – messa di voce: Darstellung des Sonagramms eines Schwelltones mit geringer Tonerhöhung bei Steigerung der Dynamik

Mehr Klarheit über den Wortsinn erhält man, wenn man die Verwendung von appoggiare in der italienischen Alltagssprache betrachtet. So kann man als Eisenbahnreisender in Zügen des europäischen Fernverkehrs dreisprachige Schilder finden, die auf den elektrischen Sicherungskästen angebracht sind: »Nicht anlehnen – Ne pas s’appuyer – Non appoggiarsi« (Abb. 22).

Appoggiarsi wird hier im Sinne von »sich auf eine Oberfläche stützen« bzw. »abstützen« oder »sich an etwas anlehnen« verwendet. Im Deutschen liegt im Wortsinn von »Stütze« oder »stützen« eher etwas Unflexibles, Steifes, Festes und Unabänderliches. Wird beim Hausbau eine Stütze eingezogen, besteht diese zumeist aus Stahl oder Beton. Der deutsche Ausdruck zielt also weniger in Richtung des »Anlehnens« als des »Befestigens« bzw. »Untermauerns«. Um einen solchen Vorgang auszudrücken kommen im Italienischen eher die Begriffe armare oder basare zur Anwendung.


Abb. 22: Dreisprachige Aufforderung, sich nicht gegen den Sicherungskasten in einem Zug zu lehnen

Die im Deutschen allgemein übliche Übersetzung des italienischen appoggio als »Stütze« ist demzufolge zwar nicht gänzlich falsch, aber doch unglücklich gewählt. Andere Sprachen wie das Englische und das Französische verwenden mit support und soutien Begriffe, die »Unterstützung« bedeuten. Dieser Wortsinn käme auch im Deutschen dem tatsächlichen Regulationsvorgang der Atmung näher, da er mehr die bedarfsabhängige Flexibilität unterstreicht. Ein Beispiel für den Wortsinn im Deutschen kann wiederum im ökonomischen Sektor gefunden werden. So wird die staatliche finanzielle Unterstützung von Auszubildenden und Studierenden nach dem BAföG je nach Bedarf in der Höhe gewährt, wie sie von den Eltern nicht gegenfinanziert werden kann und nicht als einheitlich fixe Summe.

Trainierbarkeit der Atemfunktion

Durch den oben skizzierten Atemregulationsvorgang soll ein klar definierter Ton produziert werden. Dieser Vorgang ist trainierbar. Weniger klar und damit auch individuell verschieden ist, wie man diesen Regulationsvorgang vornimmt. Keinesfalls sollte das Training oder die Atemanweisung so erfolgen, wie es Eugen Roth (1895–1976) in seinem Gedicht ATEMGYMNASTIK skizziert hat:

Im Grunde glaubt zwar jedermann

dies, dass er richtig atmen kann.

Jedoch, das geht nicht so bequem:

Gleich bringt ein Mensch uns sein System!

Erklärt, dass unserer Atemseele

der gottgewollte Rhythmus fehle.

Auch hätten wir, so sagt er kühl,

Noch keinen Dunst von Raumgefühl,

Und wüssten unsere Atemstützen

In keiner Weise auszunützen.

Er lockert uns und festigt uns,

Kurzum, der Mensch belästigt uns

Mit dem System, dem überschlauen,

Bis wir uns nicht mehr schnaufen trauen.

Schon in der Antike berichten mehrere Autoren von Schauspielern und Sängern, die sich auf den Boden gelegt und ihren Brustkorb mit Bleiplatten beschwert hätten, um die an der Atmung wesentlich beteiligten Muskeln zu trainieren (Krumbacher 1920). Abbildung 23 zeigt einen solchen – nicht ganz ernstzunehmenden – Vermittlungsversuch.

Einer der ersten, die sich in der Neuzeit ausführlicher mit dem Atem theoretisch auseinandergesetzt haben, war wiederum Agricola (Richter u. Seedorf 2010c) (vgl. Kap. 1, S. 25). Er behandelt bei der Atemfunktion vor allem die Parameter Klangfülle, Klangqualität, Tonstärke und Staccatoartikulation. Schon er geht davon aus, dass die Atemfunktion grundsätzlich trainier- und verbesserbar ist, benennt aber keine Einzelheiten der Atemmechanik.

Die Gretchenfrage, wie man die Atemregulation »richtig« unterrichtet, ist nicht allgemeingültig zu beantworten, da verschiedene Handlungsanweisungen zum qualitativ selben guten klanglichen Resultat führen können. Zu diesem Thema sind bisher auf wissenschaftlicher Basis keine eindeutigen Aussagen zu treffen. Die häufig an den Physiologen gestellte Frage, was denn nun physiologisch »richtig« sei: »Bauch raus oder Bauch rein«, kann also nicht eindeutig beantwortet werden.


Abb. 23: Karikatur des Versuchs, die Atmung und Zwerchfellbewegung »spürbar« zu machen

Eine für alle gültige Herangehensweise erscheint auch deswegen nicht sinnvoll, da die eigentlichen Atmungsaktivitäten, wie oben erläutert, nicht unmittelbar steuerbar sind. Nur über den »Umweg« der steuerbaren Bewegungen, wie z. B. die der Bauchdecke, ist eine Annäherung möglich. Diese Bewegungen sind wiederum nicht mit einer Sinnesqualität allein erfassbar, sondern können – und sollen – körperlich-kinästhetisch, optisch und akustisch wahrgenommen werden. Hierdurch bedingt kann man auch pädagogische Anweisungen – mindestens – auf diesen drei Ebenen erteilen.

In Kombination der beiden Lebensweisheiten »viele Wege führen nach Rom« sowie »der Weg ist das Ziel« kann man hinsichtlich der Atmung feststellen, dass das Ziel, nämlich der gut regulierte Phonationston, verhältnismäßig gut beschreibbar ist, der richtige Weg dahin jedoch viel schwieriger zu fassen ist. Gleichwohl muss sich jeder Stimmbenutzer auf diesen Weg machen, um das erklärte Ziel zu erreichen.

Atmung

Die Stimmatmung verwendet das natürliche Atmungssystem, welches bei Sängern und Sprechern seine Besonderheit in der Feinheit der Atemregulation hat. Unter dem Oberbegriff Stütze werden Regulationsvorgänge der Atmung zusammengefasst. Vergleicht man dabei die Rückstellkräfte des Brustkorbes und der Lunge physiologisch mit einer Feder, so muss in der ersten Phase des Ausatmungsvorganges aktiv gegen die Federkraft dergestalt angearbeitet werden, dass weniger Luft aus der gefüllten Lunge herausgelassen wird als spontan durch die passiven Rückstellkräfte entweichen würde, während nach Überschreiten der Neutralstellung der Feder am Ende der Ausatmung aktiv mehr Luft aus der Lunge »herausbefördert« werden muss als bei alleiniger Verwendung der passiven Rückstellkräfte entweichen würde. Wenn man davon ausgeht, dass jeder gesungene Ton durch die Parameter Tonhöhe, Tondauer und Lautstärke – sowie ggf. Klang – beschreibbar ist, dann ist die Atemfunktion in einer modernen Definition dazu da, diese vier Parameter im zeitlichen Verlauf einer musikalischen Phrase optimal zu regulieren.

Dadurch, dass unter dem Dach eines einzigen Begriffs ganz unterschiedliche – zum Teil sogar mechanisch gegenläufige – Vorgänge subsumiert werden, ist der Vorgang schwer zu verstehen und genauso schwer zu erklären. In Anlehnung an das französische Wort soutien wäre der Begriff Atem-Unterstützung gut geeignet, den Atemregulationsvorgang während des Singens zu beschreiben. Dieser Begriff impliziert, dass zum jeweiligen Zeitpunkt die für die Bildung der gewünschten Stimme richtige Luftmenge zur Verfügung gestellt wird und dass dieser Vorgang je nach Anforderung dosiert werden kann. Unabhängig von der verwendeten Begrifflichkeit folgt der Atemregulationsvorgang grundsätzlich den musikalischen Anforderungen und kann beim individuellen Sänger im sängerischen Gefühl Aktivitäten und Sinneseindrücke nahezu des ganzen Körpers einschließen.

Kehlkopf

Der Kehlkopf – synonymer Begriff Larynx (griech. lárynx, »Kehle«) – ist der Ort, an welchem der Primärschall der Stimme gebildet wird. Er wird deswegen auch als Stimmquelle (engl. source) bezeichnet.

Position des Kehlkopfes

Der Kehlkopf befindet sich am oberen Ende der Luftröhre auf Höhe des Eingangs zur Speiseröhre und trennt Luft- und Speisewege. Am äußeren Hals ist besonders bei Männern der Vorsprung des Schildknorpels (Prominentia laryngis) etwa auf Höhe des 5. Halswirbels in der Regel gut sichtbar (Abb. 24 a/b). Er wird im Volksmund auch als Adamsapfel bezeichnet. Die Bezeichnung Adamsapfel geht vermutlich auf die biblische Geschichte des Sündenfalls und der Verstoßung von Adam und Eva aus dem Paradies zurück. Demnach soll Adam das Apfelstück, welches er vom Baum der Erkenntnis aß, im


Abb. 24 a–d: Normale Position des Larynx a) von vorne, b) von der Seite; Bewegungen des Larynx beim Schlucken um mehrere Zentimeter nach oben: c) von vorne, d) von der Seite

* Höhe der Ringknorpelunterkante in Ruhe

** Höhe der Ringknorpelunterkante beim Schlucken


Abb. 25 a/b: Halsmuskulatur: Aufhängung des Larynx a) von vorne, b) von der Seite

Halse steckengeblieben sein. Die Lehnbedeutung des Wortes ist in verschiedenen europäischen Sprachen nachweisbar. Der Larynx wird im Hals durch zahlreiche muskuläre und bindegewebige Strukturen in seiner Position gehalten. Nach oben hin ist er am Zungenbein aufgehängt, welches wiederum mit der Mundbodenmuskulatur und der Muskulatur, die an die Schädelbasis zieht, engmaschig verknüpft ist. Des Weiteren sind über die langen Halsmuskeln auch Verbindungen zur Vorder- und Rückseite des Brustkorbs gegeben (Abb. 25 a/b). Der Kehlkopf steht also mit Muskelketten in Beziehung, die durch Haltungsänderungen z. B. des Kopfes, des Brustkorbes und der Schulterblätter in ihrer Stellung und Funktionalität beeinflusst werden können.

Bewegungen des Larynx um mehrere Zentimeter nach oben und unten im Hals beim Schlucken, aber auch beim Sprechen und Singen sind physiologisch möglich (Abb. 24 c-d). Ein Umstand, der bei der Verbesserung der Tragfähigkeit einer Stimme von Bedeutung sein kann (vgl. Kap. 4, S. 79 ff.).


Abb. 26: Verbindungen des Kehlkopfgerüstes zur Schlundmuskulatur

Es bestehen enge Verbindungen des Kehlkopfgerüstes zur Schlundmuskulatur (Abb. 26).

Kehlkopfgerüst

Das Kehlkopfgerüst besteht im Wesentlichen aus fünf Knorpeln (Tab. 1, S. 46): dem Ringknorpel (Cricoid), den beiden Stellknorpeln (Aryknorpel), dem Schildknorpel (Thyroid) sowie dem Kehldeckel (Epiglottis) (Abb. 27). Diese Knorpel sind untereinander so gelenkig verbunden, dass zwischen ihnen verschiedene Dreh- und Gleitbewegungen möglich sind. Die Aryknorpel sind auf dem oberen Rand der hinten im Kehlkopf gelegenen Ringknorpelplatte platziert und entsprechen in ihrem architektonischen Aufbau einer Pyramide mit drei basalen Fortsätzen, an denen wichtige Muskeln und Bänder angeheftet sind (Abb. 28 a/b, S. 46).


Abb. 27: Kehlkopfgerüst mit Zungenbein und Trachialspangen


Abb. 28 a/b: Aryknorpel mit Muskeln und Bändern

Muskeln und Bänder

Zwischen den Knorpeln des Larynx sind Muskeln und Bänder befestigt. Für die Stimmgebung bedeutsam sind im Wesentlichen fünf Muskelpaare (Tab. 1). Die Namen der Muskeln sind dabei in der Regel so zusammengesetzt, dass – nach dem Kürzel M. = Musculus (Mehrzahl Mm.) – sowohl die anatomische

Struktur (in diesem Fall der Knorpel) genannt wird, zu welcher der Muskel hinzieht (Ansatz), als auch diejenige, von welcher er entspringt (Ursprung). Wenn man das weiß, sind die Muskelnamen kein »Buch mit sieben Siegeln«.

Knorpel Beteiligte Hauptmuskeln
Ringknorpel (Cricoid) Mm. cricothyreoidei (sog. Anticus)
Zwei Stellknorpel (Aryknorpel) Stimmlippenmuskel (sog. Internus) a.) M. vocalis (interner Anteil) und b.) M. thyreoarytaenoideus (TA) (externer Anteil)
Schildknorpel (Thyroid) M. cricoarytaenoideus lateralis (sog. Lateralis)
Kehldeckel (Epiglottis) M. cricoarytaenoideus posterior (sog. Posticus)

Tab. 1: Fünf Muskeln und fünf Knorpel

Man unterscheidet die äußeren und die inneren Kehlkopfmuskeln. Die äußeren Muskeln bestehen aus einem Muskelpaar (Mm. cricothyreoidei), welches seitlich links und rechts zwischen Ring- und Schildknorpel verläuft (sog. Anticus) (Abb. 29). Wenn diese Muskeln sich zusammenziehen (Kontraktion), kommt es zu einer Verkippung des Ring- gegen den Schildknorpel. Diese führt im Kehlkopfinneren zu einer Anspannung und Längenzunahme der Stimmlippen, da der Abstand der Aryknorpel zur Schildknorpelinnenfläche größer wird (Abb. 30).

Die äußeren Muskeln – im angloamerikanischen Sprachgebrauch als cricothyroid bezeichnet und deswegen häufig als CT abgekürzt – sind zur Modifikation der Spannung und Länge der Stimmlippen geeignet und sind am Singevorgang in die Höhe beteiligt.

Die für die Phonation bedeutsamen inneren Muskeln des Larynx sind zum einen die Muskeln in der Stimmlippe (sog. Internus). Anatomisch bilden sie scheinbar eine Einheit, funktionell sind jedoch mehrere Muskelstränge voneinander abzugrenzen: M. vocalis als zur Glottis medial liegender Anteil und M. thyreoarytaenoideus (TA) als seitlich liegender externer Anteil. Die Muskeln ziehen paarig von der vorderen Komissur an der Innenfläche des Schildknorpels zu den Processus vocales der Stellknorpel (Abb. 31).


Abb. 29: M. cricothyroideus (CT)


Abb. 30: Bei Anspannung der Mm. cricothyreoidei: Kippbewegung des Ringknorpels gegen den Schildknorpel und Erhöhung der Länge und Spannung der Stimmlippe

Die Muskelstränge sind dabei nicht streng parallel angeordnet, sondern zeigen ein zopfartiges Muster. In Inspirationsstellung, d. h. bei geöffneter Glottis, liegen beide Anteile weitgehend parallel nebeneinander. In Phonationsstellung, d. h. bei geschlossener Glottis, kommt es infolge der Einwärtsbewegung des Stellknorpels zur Überkreuzung der Muskelstränge, ein Vorgang, der zum festen Glottisschluss beiträgt. Diese Muskelstränge in der Stimmlippe dienen hauptsächlich der Längen- und Spannungsregulierung der Stimmlippe.


Abb. 31: Internus mit verschiedenen Anteilen

Die beiden weiteren für die Stimmgebung bedeutsamen inneren Kehlkopfmuskeln setzen am Processus muscularis der Stellknorpel an. Es sind dies der M. cricoarytaenoideus lateralis (sog. Lateralis) (vgl. Abb. 28 a/b) und der M. cricoarytaenoideus posterior (sog. Posticus) (Abb. 32, S. 48). Diese beiden Muskeln wirken bei Aktivierung gegenläufig (antagonistisch): Während der Posticus der einzige Glottisöffner ist, indem er den Aryknorpel so bewegt, dass die Stimmlippen auseinander weichen, führt die Kontraktion des Lateralis durch eine Verlagerung des Aryknorpels in einer Kipp-Gleit-Bewegung in die Gegenrichtung zu einem Glottisschluss im sogenannten membranösen Anteil, d. h. der vorderen zwei Drittel der Stimmlippen zwischen Proc. vocalis des Aryknorpels und der vorderen Kommissur (Abb. 33, S. 48). In diesem membranösen Anteil findet die stimmhafte Tonbildung statt. Eine starke Aktivierung des Lateralis, auch als medial compression bezeichnet, führt zu einer Erhöhung des Stimmlippenschlusses (Abb. 34). Für eine dichte Tongebung, bei der keine Nebenluft zu hören ist, ist jedoch schon ein Schluss des membranösen Anteils ausreichend (Abb. 65 b, S. 73). An einem Schluss der Stimmlippe auf ihrer gesamten Länge, d. h. auch des hinteren Drittels der Stimmlippe, dem sogenannten intercartilaginären Teil (auch als Flüsterdreieck bezeichnet), sind zusätzlich auch die Mm. interarytaenoidei (obliquus et transversus) beteiligt (vgl. Abb. 28 b, S. 46), die jedoch nicht wesentlich für die Tonproduktion sind.


Abb. 32: Posticus


Abb. 33: Bewegungen der Aryknorpel: Gleiten und Drehen beim Öffnen und Schließen mit zugehörigen Funktionsbildern im Kehlkopfspiegel


Abb. 34: Schematische Darstellung der Funktionen der Kehlkopfmuskeln (nach Tillmann 2009)

Hinsichtlich der Funktion der oben beschriebenen Muskeln ist grundsätzlich bekannt, welche Wirkung eine Kontraktion des einzelnen Muskels für die grobe Mechanik im Kehlkopf haben kann. Die Muskeln werden dabei von zwei unterschiedlichen Anteilen des N. laryngeus innerviert: die äußeren (CT) vom N. laryngeus superior, die inneren (übrigen) vom N. laryngeus recurrens. Die Stimmlippen unterliegen nicht nur den deutlich sichtbaren Veränderungen ihrer Länge und Stellung im Kehlkopf, sondern sie können auch durch verschiedene Muskelgruppen (Mm. vocales, thyroarytaenoidei und cricothyroidei) in ihrer Spannung moduliert werden (Abb. 34). Ein Vorgang, der in der Stroboskopie anhand des veränderten Schwingungsablaufs erahnbar ist. Wir hören das klangliche Resultat und sehen in der Stroboskopie die aus der Summe der Muskelaktivitäten resultierende Konfiguration der Stimmlippen und der Glottis. Dies zeigen in Abbildung 35 a/b die beiden Bilder des Liedes DER MOND IST AUFGEGANGEN mit Längenänderungen und Unterschieden der Feinabstimmung pro Tonhöhe.


Abb. 35: DER MOND IST AUFGEGANGEN: unterschiedliche Länge und Spannung der Stimmlippen bei unterschiedlichen Tonhöhen auf den Silbe a) »ist« und b) »auf« bei einer Sopranistin

Wie die Feinabstimmung der Muskeln hinsichtlich Spannungs- und Längenregulierung untereinander jedoch beim Singen funktioniert, ist in einigen Singstimmfunktionen, z. B. hinsichtlich der Register, noch nicht genau geklärt. Es gibt wegen der auf S. 28 beschriebenen Limitationen nur sehr wenige wissenschaftliche Untersuchungen, welche sich mit der Aktivität der Muskeln in ihrer Feinabstimmung beschäftigen (Kochis-Jennings et al. 2012). Diese Untersuchungen ergeben bisher kein einheitliches Bild. Leider kann man als Künstler auch nicht selbst spüren, welcher Muskel in welchem Ausmaß aktiviert ist, da die Muskulatur des Larynx, ähnlich wie weite Teile der Atmungs- und Vokaltraktmuskulatur, beim Sprechen und Singen nicht der willkürlichen Steuerung unterliegt. Dass man diese willkürliche Kontrolle wesentlicher an der Stimmgebung beteiligter Muskeln nicht gezielt vornehmen kann, erschwert naturgemäß das Erlernen der für die Stimmgebung essenziellen Steuerungsvorgänge.

Aus stimmphysiologischer Sicht scheint es deswegen zum jetzigen Zeitpunkt ratsam, bis zur vollständigen wissenschaftlichen Aufklärung der muskulären Aktionen im Kehlkopf vorsichtig mit eindeutigen Zuordnungen einzelner Muskeln zu einem spezifischen Singevorgang zu sein. Dies steht ganz im Sinne Lichtenbergs, der in seinen »Sudelbüchern« formuliert:

»Nichts setzt dem Fortgang der Wissenschaft mehr Hindernis entgegen als wenn man zu wissen glaubt, was man noch nicht weiß. In diesen Fehler fallen gewöhnlich die schwärmerischen Erfinder von Hypothesen.« (Lichtenberg 1984, S. 442)

Stimmlippenaufbau

Die Innenauskleidung des Kehlkopfes besteht zum größten Teil aus einer rötlich schimmernden, häutigen Oberfläche, ähnlich der Mundschleimhaut. Die Oberfläche der Stimmlippe selbst hat im Gegensatz dazu eine weißliche Farbe. Dies rührt daher, dass die Stimmlippe in ihrem schwingenden Anteil von einer speziellen Hautschicht bedeckt wird, die man als unverhorntes Plattenepithel bezeichnet. In der Laryngoskopie können die Oberflächen der oben beschrieben »Einzelteile« als funktionstüchtige Einheit betrachtet werden (Abb. 36).


Abb. 36: Laryngoskopisches Bild des Kehlkopfes; Aufnahme mit einem Mediastroboskop der Fa. Atmos

Unter der Oberfläche enthält die Stimmlippe neben den oben beschriebenen Muskeln auch noch bindegewebige Strukturen wie das eigentliche Stimmband (Ligamentum vocale) und eine Verschiebeschicht zwischen dem Epithel und dem Stimmband/ -muskelstrang. Wenn man einen Querschnitt durch die Stimmlippe legt, wird ihr mehrschichtiger Aufbau aus Muskel/Band, Verschiebeschicht und Oberfläche optisch deutlich (Tillmann 2009) (Abb. 37).

Das Stimmlippenepithel als oberste Schicht ist im gesunden Zustand sehr flexibel und über die lockere Verschiebeschicht leicht gegen die tiefer liegenden Strukturen beweglich. Als einfach nachvollziehbares Modell, in welcher Weise Gewebsschichten gegeneinander verschoben werden können, kann die Haut an unserer Handoberfläche dienen, die mühelos gegen die darunterliegenden Muskeln und auch die Mittelhandknochen bewegt werden kann (Abb. 38 a). Wie leicht und wie weit eine Oberhaut gegen die unter ihr liegenden Strukturen mobilisiert werden kann, hängt wesentlich vom Spannungszustand der tiefer liegenden Schichten ab: Wenn die Spannung in der Tiefe zunimmt, vermindert sich die Mobilität der oberen Schicht. Auch diese Eigenschaft der Stimmlippe kann an unserem Handmodell leicht nachvollzogen werden. Wenn man nämlich die Hand zu einer Faust ballt und damit die Muskulatur anspannt, wird auch die darüberliegende Hautschicht gespannt, und die zuvor bestehende Verschieblichkeit zur Unterfläche wird aufgehoben (Abb. 38 b). Hier besteht eine zusätzliche Analogie zur Lippe des Mundes: Auch diese ist aus Muskeln, Bändern und bedeckender Haut (Lippenrot) mehrschichtig aufgebaut und kann ihre Spannung und Lage sehr flexibel ändern – man kann sagen glücklicherweise, denn sonst wäre das Küssen eine reichlich »steife« Angelegenheit.


Abb. 37: Dreischichtiger Aufbau der Stimmlippe in Anlehnung an Tillmann (2009)


Abb. 38 a/b: Verschieblichkeit von Gewebsschichten: Handhaut; a) entspannte Hand, b) Hand zur Faust geballt

Anhand der Abbildungen 28 a (S. 46) und 31 (S. 47) ist es nachvollziehbar, dass das Stimmband nur eine Teilstruktur der Stimmlippe ist und deswegen die in der Umgangssprache übliche Bezeichnung »Stimmband« für die gesamte Stimmlippe im Allgemeinen von Fachleuten nicht verwendet werden sollte. Die obersten verschieblichen Schichten der Stimmlippe werden im englischen Sprachgebrauch auch als cover, die tiefer liegenden Schichten von Bändern und Muskeln als body bezeichnet. Nur dieser anatomisch feingliedrige mehrschichtige Aufbau der Stimmlippen ermöglicht die Feinschwingungen derselben, wie sie im Absatz »Phonationsvorgang« auf S. 52 im Detail beschrieben wird.

In der Lebenszeitperspektive sind bei Kindern und Erwachsenen große Unterschiede der Ausbildung, der Größenverhältnisse und der Lage des Kehlkopfes zu beobachten (vgl. Kap. 10, S. 186 ff.).


Abb. 39 a/b: Respirations- und Phonationsstellung der Stimmlippen in der Laryngoskopie; Aufnahme mit einem Stroboskop der Fa. XION

Primäre Funktion des Kehlkopfes

Der Kehlkopf hat primär zwei Aufgaben. Zum einen muss er während der Atmung genügend Luft Richtung Lunge passieren lassen und zum anderen gleichzeitig einen Schutzmechanismus der unteren Atemwege bereithalten. Für die letztgenannte Aufgabe hat die Funktionseinheit Kehlkopf auf drei Ebenen Verschlussmechanismen, welche das Eindringen von Fremdkörpern oder Speichel – die sogenannte Aspiration – in die Luftröhre oder Bronchien verhindern sollen. Die unterste Verschlussebene stellen die Stimmlippen selbst dar (Abb. 39 a/b); die zweite ist die Ebene der Taschenfalten (Abb. 40, S. 51), die sich oberhalb der Stimmlippen befinden; die oberste Ebene ist der Kehldeckel, der beim Schlucken vom Zungengrund auf den Kehlkopfeingang verlagert wird (Abb. 41 a/b). Der Schutz der unteren Luftwege ist evolutionär vermutlich deswegen so aufwendig und redundant gestaltet, da eine Aspiration eines größeren Fremdkörpers zum sofortigen Ersticken führen würde und auch die Aspiration kleinerer Partikel eine Lungenentzündung nach sich ziehen kann – eine Erkrankung, die unbehandelt potenziell lebensbedrohlich ist.


Abb. 40: Schließung der Taschenfalten in der Laryngoskopie


Abb. 41 a/b: Stellung von Zunge und Kehldeckel (Epiglottis) a) in Ruhe vor dem Schlucken, b) bei Einleitung des Schluckvorgangs. Es ist die Verlagerung des Zungengrundes nach hinten/unten (Pfeil) und des Larynx nach oben (Pfeil) zu erkennen; MRT-Aufnahme

Phonationsvorgang

Die Stimmproduktion, auch als Phonation bezeichnet, wird sozusagen als Nebeneffekt dieses Schutzmechanismus möglich, da auf Ebene der Stimmlippen der oben beschriebene Auf- bzw. Zu-Mechanismus existiert. Die offene Stellung der Stimmlippen bei der Atmung bezeichnet man als Respirationsstellung, die geschlossene bei der Phonation als Phonationsstellung (Abb. 39 a/b).

Die grobe Auf-/Zu-Bewegung bezeichnet man als respiratorische Beweglichkeit. Die Bezeichnung für die Schließungsbewegung der Stimmlippen ist Adduktion, da sie auf die Mittellinie zwischen den beiden Stimmlippen gerichtet erfolgt, die Öffnungsbewegung bezeichnet man als Abduktion, da sie sich hiervon weg bewegt. Der Zwischenraum zwischen beiden Stimmlippen wird auch als Glottis bezeichnet. Wenn diese Bewegung periodisch mit Glottisöffnung und -schließung im Zusammenspiel mit dem aus der Lunge kommenden Luftstrom erfolgt, kommt es zur Produktion des Primärschalls (vgl. Kap. 4, S. 82). Der Grundton des Primärschalls kann in seiner Tonhöhe und der Gesamtschall in seiner Stärke durch Veränderungen der Stimmlippenlänge und Stimmlippenspannung sowie der seitlichen Auslenkung der Stimmlippenschwingungen (Schwingungsamplitude) und Modifikation des subglottischen Drucks stark variiert werden.

Von oben mit dem Kehlkopfspiegel oder Endoskop betrachtet, erscheint die Öffnung und Schließung der Stimmlippen in einer horizontalen Ebene zu verlaufen, die deswegen auch als Glottisebene bezeichnet wird. Wenn man jedoch ein Stroboskop oder eine Hochgeschwindigkeitsglottografie verwendet, ist es möglich, sich die Glottisöffnung nicht als lediglich horizontale Bewegung vorzustellen, sondern durch die Beobachtung der Feinstruktur und der wellenförmigen Bewegung der Stimmlippenoberfläche (sog. Randkantenverschiebung) den dreidimensionalen Charakter dieser dynamischen Öffnung zu erfassen (vgl. Kap. 3, Abb. 63, S. 71). Diese Feinschwingung der Stimmlippen bezeichnet man auch als phonatorische Beweglichkeit der Stimmlippen.


Abb. 42 a-f: Schematische Darstellung der dreidimensionalen Stimmlippenbewegung

Wie in Abbildung 42 a–f dargestellt, verläuft die Schwingung der Stimmlippen tatsächlich nicht in einer horizontalen Ebene, sondern die verschlossenen, phonationsbereiten Stimmlippen weisen in der dreidimensionalen Darstellung eine vertikale Kontaktfläche auf (42 a). Die Luftsäule, die von der Lunge über die Luftröhre bei der Stimmgebung von unten auf die geschlossenen Stimmlippen trifft (42 b), baut den subglottischen Druck auf, der ab einem bestimmten, für die Tonhöhe und die Lautstärke des jeweiligen Tones charakteristischen Wert die Verschlusskräfte der Stimmlippen überwindet. Dieser Vorgang erfolgt dergestalt, dass zuerst die der Luftröhre am nächsten liegenden Anteile der Stimmlippe auseinandergedrängt werden und zuletzt die dem Vokaltrakt nächsten Schichten, so dass sich erst in diesem Moment die Stimmlippen so öffnen, dass der Luftstrom die Glottis passieren kann (42 c). Der erneute Schluss der Stimmlippen erfolgt unmittelbar nach dem Auseinanderdrängen der obersten Schicht in der Weise, dass sich zuerst die der Luftröhre am nächsten liegenden Anteile der Stimmlippe von unten (42 d) nach oben (42 e) wieder verschließen (42 f). Der Luftdurchtritt durch die Glottis erfolgt demzufolge in sehr kleinen Portionen. Die Häufigkeit dieses Luftdurchtritts pro Sekunde bestimmt die Frequenz des Grundtones, der in Hertz gemessen wird. Die Zeit, während der die Stimmlippe offen ist, bezeichnet man als Offenphase, der prozentuale Anteil, den sie in einem Schwingungszyklus im Vergleich zur Gesamtzeit des Zyklus geöffnet ist, wird als Offenquotient (OQ) bezeichnet (Abb. 43, S. 53).


Abb. 43: Zyklus einer Stimmlippenschwingung (aus Echternach 2010)

Der rasche Verschluss der Stimmlippen wird durch die aerodynamischen Kräfte gemäß dem Bernoulli‘schen Gesetz begünstigt. Dieses wurde bereits im 18. Jahrhundert von Daniel Bernoulli (1700–1782) aufgestellt. Es besagt, dass es einen Zusammenhang gibt zwischen dem Querschnitt eines Rohres und dem in ihm herrschenden Druck. Dabei hängt der Druck, der aufgrund der Strömung zusätzlich horizontal zur Strömungsrichtung wirkt, von der Geschwindigkeit der Strömung ab. Die Stimmlippen stellen für den aus der Luftröhre kommenden Luftstrom ein Hindernis dar. Wie Abbildung 44 zeigt, benötigt der Luftstrom in den äußeren Bereichen durch den längeren Weg eine höhere Geschwindigkeit als innen. Diese Differenz der Geschwindigkeiten führt, da die Summe von Druck und Geschwindigkeit nach Bernoulli (bei konstanter Dichte) konstant ist, zu einem Unterdruck, der senkrecht zur Strömungsrichtung der Luft wirkt. Dieser Unterdruck wiederum bewirkt, dass sich die Stimmlippen quasi »ansaugen« (Abb. 42 d/e, S. 53). Es ist außerdem der elastische Gewebsdruck, der die Stimmlippen aneinanderdrückt, wenn der Luftdruck zwischen ihnen nachlässt. Man spricht deswegen von der Myoelastischaerodynamischen Theorie der Stimmlippenschwingung (vgl. Kap. 1, S. 23).


Abb. 44: Schematische Darstellung des Bernoulli-Effekts

Man kann dieses aerodynamische Prinzip in einem einfachen Modell selbst nachvollziehen. Wenn man zwei aneinanderliegende Blätter vor dem Mund annähert und dann Luft durch die Blätter bläst, weichen diese nicht, wie man es zunächst erwarten würde, auseinander, sondern legen sich im Gegenteil, je stärker man bläst, umso fester aneinander (Abb. 45). Dem Gesetz von Bernoulli gehorchend nähern sie sich nach jedem Durchtritt einer kleinen Luftportion sofort wieder gegenseitig an. Zusammenfassend kann man also sagen, dass die elastischen Rückstellkräfte der Stimmlippen den Schwingungsablauf der Stimmlippen aufgrund des Bernoulli’schen Effekts bewirken.

In der sängerischen Terminologie wird der Versuch unternommen, die Ausprägung der oben beschriebenen Feinschwingung der Stimmlippe mit verschiedenen Begriffen zu charakterisieren. Bei der Randschwingung soll nur der freie Rand des Epithels – also nur das cover – schwingen, bei der Vollschwingung zusätzlich Band und Muskeln – also auch der body. Diese Begrifflichkeit entspricht nicht den physiologischen Gegebenheiten, da sie im stroboskopischen Bild bei professionellen Sängern so nicht eindeutig als Entweder-oder nachweisbar ist. Hier schwingen – wenn auch in unterschiedlicher Ausprägung in Abhängigkeit von der Tonhöhe sowie der Lautstärke – immer cover und body gleichzeitig. Zudem ist der Begriff »Randschwingung« unscharf vom Begriff »Randstimme« abgegrenzt. Unter Randschwingung versteht man die »schwappende« Bewegung des Epithels, welche die Geschwindigkeit des Stimmlippenschlusses mitbestimmt. Ist diese »schnell«, so entsteht ein reiches Obertonspektrum. In der Stroboskopie ist diese Bewegung des Epithels in der sogenannten Randkantenverschiebung sichtbar (vgl. Abb. 63, S. 71).


Abb. 45: Bernoulli-Effekt: Versuch mit zwei Blättern

Mit Randstimme wird eine leise Stimmgebung bezeichnet, die z. B. auf dem klingenden Konsonanten [I] über den gesamten Tonhöhenumfang ausgeführt werden kann. Für diese Randstimmfunktion ist ein leichter, unangestrengter Glottisschluss notwendig. Sie ist nur bei vollständig gesunden Stimmlippen, die keine Schwellungen aufweisen, möglich.


Abb. 46: Phonationsarten mit unterschiedlichen Verteilungen der Phasen in Abhängigkeit von der Lautstärke;

a = Öffnungsphase, b = Schließungsphase, c = Schlussphase (nach Wendler 1966)

Phonationsarten

Mittels der oben beschriebenen Stimmlippenmechanik können zusammen mit dem Luftstrom Töne bzw. Klänge in unterschiedlicher Weise erzeugt werden. Deshalb spricht man von unterschiedlichen Phonationsarten (Nawka u. Wirth 2007). Hierbei spielen die Tonhöhe (Grundfrequenz), die Auslenkung der Stimmlippenschwingung (Amplitude) und die Form der Schließungs-/Öffnungsbewegung der Glottis (Glottiswelle) eine entscheidende Rolle. Je nachdem wie sich die Öffnungs- und Schließungszeiten und die dazugehörigen Geschwindigkeiten verhalten, wird der Luftstrom effektiver oder weniger effektiv in Klang umgesetzt. Professionelle Sänger steigern im Gegensatz zu stimmlichen Laien die Stimmlautstärke bei konstantem Glottiswiderstand, indem sie den subglottischen Druck und den Luftfluss durch die Glottis – die sogenannte transglottische Strömungsrate – gleichmäßig vergrößern. Wenn die Glottis sehr schnell geschlossen werden kann, entsteht ein reicheres Obertonspektrum, als wenn die Schließung langsamer erfolgt. Die Stimmstärke hängt direkt davon ab, wie stark der Luftstrom abfällt und wie klein der Offenquotient ist. Wendler hat diesen Zusammenhang anschaulich dargestellt (Abb. 46). Man unterscheidet im Wesentlichen fünf Phonationstypen (Nawka u. Wirth 2007), bei denen eine Variation von Offenquotienten und Luftstrom zu beobachten ist. Die Reihung geht von kleinem Offenquotienten und Luftstrom hin zu sehr großen Werten für beide Parameter (Tab. 2, S. 55).


Tab. 2: Phonationsarten in Relation zu glottalem Luftstrom und Offenphase (in Anlehnung an Nawka u. Wirth 2007)

Vibrato

Unter Vibrato versteht man eine regelmäßig 5- bis 7-mal pro Sekunde auftretende Variation des Stimmsignals. Man kann ein Tönhöhenvibrato (Frequenzvibrato) von einem Lautstärkevibrato (Amplitudenvibrato) mit Klangfarbenänderung unterscheiden. Das Tonhöhenvibrato ist am leichtesten wahrzunehmen. Welche physiologischen Mechanismen zum Vibrato führen, ist auf wissenschaftlicher Basis noch nicht exakt zu beantworten (Sundberg 2015). Sehr wahrscheinlich ist, dass an der Vibratoentstehung sowohl die Larynxmuskulatur, vor allem Anticus (CT) und Internus (TA) (s. S. 47), als auch das Atmungssystem beteiligt sind.

Mit dem Stimmsynthesizer Madde, der in Kapitel 4, S. 81 ff., ausführlich beschrieben wird, kann man das Tonhöhenvibrato simulieren. Hier kann man die Frequenz und den Tonhöhenumfang des Vibratos verändern (vgl. Abb. 71, S. 81). Damit ist mit eigenen Ohren nachvollziehbar, dass in den meisten Gesangsstilen weder ein zu langsames (< 4 Hz) noch ein zu schnelles (> 8 Hz) Vibrato als angenehm empfunden wird. Das langsame Vibrato wird auch als Wobble, das schnelle als Tremolo bezeichnet. Auch der Umfang des Vibratos wird nur innerhalb enger Grenzen von max. ± 1,5 Halbtönen bzw. Semitones (ST) toleriert. Nicht umsonst spricht man bei Überschreiten dieser Grenzen abwertend von »Terzenschleuder«.

Kehlkopf

Die komplexen Funktionsabläufe und der vielschichtige Aufbau dienen der primären Funktion des Kehlkopfes, die Atmung bei gleichzeitigem Schutz der unteren Atemwege sicherzustellen. Hierfür gibt es im Kehlkopf Auf- und Zubewegungen, die in unterschiedlichen Ausprägungen möglich sind. Die Stimmgebung hat sich sozusagen als »Nebenprodukt« dieses komplexen Verschlussmechanismus herausgebildet. Als Merkregel für den anatomischen Aufbau kann man vereinfacht formulieren, dass die für die Stimmgebung wesentlichen Elemente des Kehlkopfes aus fünf Knorpeln, fünf Muskeln und einem dreischichtigen Aufbau der Stimmlippen bestehen. Die Muskulatur des Kehlkopfes ist beim Singen und Sprechen nicht unmittelbar steuerbar. Die Feinschwingungen der Stimmlippen erzeugen im Sinne der Myoelastisch-aerodynamischen Theorie den primären Kehlkopfton. Dieser kann in seiner Tonhöhe (Grundfrequenz), seiner Stärke durch Veränderungen der Stimmlippenlänge, -spannung und -schließungsgrad sowie der seitlichen Auslenkung der Stimmlippenschwingungen und Modifikation des subglottischen Drucks stark variiert werden. Das Kölner Männerquintett Wise Guys hat die physiologischen Vorgänge der Tonerzeugung im Kehlkopf in ihrem Lied Sing mal wieder prägnant – und physiologisch nicht uninformiert – zusammengefasst:

Wenn die Luft aus der Lunge Richtung Kehlkopf fließt,

wenn das Stimmbandsystem alles gut verschließt,

wenn die Stimmlippen mitwippen, bis sie richtig schwingen,

bezeichnet man den Vorgang allgemein als »Singen«.

Der Kehlkopf ist dabei der Tongenerator,

die Stimmbänder sind gewissermaßen der Vibrator.

Über sechzig Muskeln geben Gas,

doch das Allerbeste: Singen macht Spaß!

Resonanzräume

Begriffsdefinitionen

Stimmliche Äußerungen sind keine Töne, die nur im Kehlkopf entstehen, sondern Klänge, die in ihrem Klangcharakter und ihrer Tragfähigkeit wesentlich durch die resonatorischen Eigenschaften der Räume oberhalb der Stimmlippenebene modifiziert werden (vgl. Kap. 4, S. 79 ff.). Diese an der Klangformung beteiligten Räume werden im Deutschen nicht einheitlich bezeichnet. Manche Autoren sprechen vom Vokaltrakt, andere vom Ansatzrohr oder auch Ansatzraum, wieder andere von den Artikulations- oder Resonanzräumen. Unklar ist auch, was den Resonanzräumen zugeordnet werden soll. Hier findet sich eine ähnliche Situation wie bei der Atmung. Von einigen Sängern werden die Partien des Körpers, in denen Vibrationsempfindungen spürbar sind – vom Brustbein bis zur Schädeldecke – zu den Resonanzräumen gerechnet. Aus historischer Perspektive sind hier die Zeichnungen zur Vibrationsempfindung einzelner Töne von Lilli Lehmann interessant (vgl. Abb. 2, S. 22).

Auch bei der Resonanz gibt es einige Begriffe, die sich vornehmlich von der Vibrationsempfindung ableiten lassen, wie: »Vordersitz«, »Maskenklang«, »In die Maske singen« etc. Physikalisch-akustisch erfolgt die Klangformung jedoch vornehmlich durch die Räume oberhalb der Stimmlippen bis zu den äußeren Lippen.

Anatomische Begrenzungen

Die Resonanzräume werden anatomisch im Wesentlichen durch den Larynxeingang, den Pharynxschlauch, die Mundhöhle mit der Zunge und das Gaumensegel sowie die Lippen begrenzt (Abb. 47 a/b).

Das Gaumensegel und die Zunge sind mit zahlreichen Muskeln ausgestattet, wie in Abbildung 48 zu sehen ist. Der Teil des Gaumensegels, der das Zäpfchen bildet, ist in der Lage, zusammen mit einer Vorwölbung der Rachenhinterwand, dem sogenannten Passavant‘schen Wulst, den Nasenrachenraum fest zu verschließen (Abb. 49 a/b, S. 58).


Abb. 47 a/b: Anatomische Grenzen der Resonanzräume; a) anatomische Zeichnung, b) Darstellung im MRT


Abb. 48: Muskulatur der Zunge und des Gaumensegels in Relation zu Zungenbein und Kehlkopf

Bei Kontraktion dieser sehr beweglichen Muskeln ändern sich die Ausdehnung und Form der Hohlräume in drastischer Weise, wie Abbildung 50 a/b zeigt. Da das Gaumensegel bei der Artikulation der Vokale zumeist geschlossenen ist, erfolgt die Klangformung – zumindest beim klassischen Gesang – ohne wesentliche Beteiligung der zahlreichen luftgefüllten Räume der Nase und der Nasennebenhöhlen (Abb. 51). Ausnahmen hiervon sind natürlich die klingenden Konsonanten [m] und [n|, bei deren Bildung Luft durch die Nase geführt wird. Bei manchen Gesangs- oder Sprechstilen ist auch bei der Vokalbildung ein nasaler Beiklang hörbar, wie z. B. bei den französischen Nasalen, so dass in diesen Fällen auch die Räume der Nasenhaupthöhle an der Klangformung beteiligt sein können.


Abb. 49a/b: MRT-Darstellung bei Phonation mit a) leicht geöffnetem Nasenrachenraum und b) festem Verschluss des Nasenrachenraumes durch Kontraktion des Gaumensegels (Pfeil) und des Passavantschen Wulstes (Pfeil)


Abb. 50 a/b: Variation der Stellung der Zunge und des Gaumensegels bei der Artikulation unterschiedlicher Laute: a) nasales [e], b) dichtes [æ]; MRT-Aufnahme

Länge und Form – Akustische Implikationen

Um die Akustik der Hohlräume berechnen zu können, die den Stimmlippen nachgeschaltet sind, wird vorgeschlagen, das in Abbildung 51 modellhaft gezeigte Röhrensystem so zu verstehen, dass es – ähnlich dem Röhrensystem einer Posaune – in seiner Länge variabel ist (Abb. 52 a/b). Terminologisch leitet sich von diesem Vorschlag der Begriff »Ansatzrohr« ab. In der physiologischen Klangformung beim Menschen sind die Begrenzungen der Resonanzräume jedoch überhaupt nicht starr wie in einem Rohr, sondern äußerst beweglich. Bei der Artikulation von Klang zu Klang ändert sich jedoch nicht nur die Länge des Systems – wie bei einer Posaune – sondern auch, je nach Vokal und Gesangsstil, der Querschnitt erheblich, wie anhand der Abbildungen 49–54 nachvollziehbar ist. Am treffendsten ließen sich die akustisch wirksamen Räume oberhalb der Stimmlippen mit dem Begriff »Klangformungsräume mit variablen Begrenzungen« beschreiben. Ein solcher Begriff wäre jedoch nicht praktikabel.


Abb. 51: Der Vokaltrakt als Röhrensystem; 3D-Rekonstruktion von MRT-Aufnahmen

Im Zusammenhang mit der Klangformung besonders interessante Muskeln sind die infrahyoidalen Muskeln inklusive dem M. sternohyoideus und dem M. omohyoideus. Letzterer zieht vom Zungenbein nach unten und hinten Richtung Rücken und dort bis zum Schulterblatt (s. Abb. 25 a/b, S. 44). Wenn der Muskel aktiviert wird, kommt es zu einer Tieferstellung des Kehlkopfes. Man kann diese Muskelaktivität – auch das von außen am Hals sichtbare Spiel der Muskeln – sowie die mit ihr einhergehende Tiefstellung des Kehlkopfes besonders bei Frauen bei der Phonation gut beobachten, und die daraus resultierende tiefe Sprechstimme gut hören. Als prägnante Beispiele können Nachrichtenmoderatorinnen im Fernsehen wie Petra Gerster, Caren Miosga, Gundula Gause u. a. herangezogen werden. Die Tief- und Hochstellung des Larynx bewirken eine Verlängerung oder Verkürzung des Vokaltraktes und haben damit direkten Einfluss auf die Klangformung. Dieser Vorgang der Längenvariation wird auch zur Erzeugung der voix sombrée eingesetzt (vgl. Kap. 5, S. 112, u. Kap. 6, S. 141). Auch der Mechanismus des »Deckens« beim Registerübergang wird durch eine Tieferstellung des Kehlkopfes begünstigt (vgl. Kap. 6, S. 141). Weitere Muskeln wie M. sternohyoideus (vgl. Abb. 25 a/b, S. 44) und M. thyrohyoideus sowie die Mundbodenmuskulatur (vgl. Abb. 48, S. 58) können ebenfalls die Stellung des Kehlkopfes und damit die Klangeigenschaften der Resonanzräume modifizieren (Abb. 53 a/b). Es gibt in der Musik kein vergleichbares Instrument, welches sowohl den Durchmesser als auch die Länge der Resonanzräume so rasch und umfassend variieren kann.


Abb. 52 a/b: Veränderungen der Vokaltraktlänge eines Tenors bei Phonation a) im Falsett, b) in der Bühnenstimme des Tenors; MRT-Aufnahmen


Abb. 53 a/b: Variation der Kehlkopfhöhe bei Phonation: a) tiefgestellt, b) hochgestellt; MRT-Aufnahmen


Abb. 54 a/b/c: Abhängigkeit der Zungenstellung bei unterschiedlichen Vokalen und verschiedenen Gesangsstilen:

a) Klassik [a], b) Klassik [i], c) Musical [i]; MRT-Aufnahmen

Der Begriff Vokaltrakt erscheint im Bedeutungszusammenhang besser gewählt, da in ihm durch sehr unterschiedliche Stellungen der Zunge tatsächlich die Vokale geformt werden wie in Abbildung 74, S. 83, zu sehen ist. Aus den Abbildungen 54 a/b/c, S. 60, wird auch deutlich, dass es Unterschiede in der Vokalformung bei den verschiedenen Gesangsstilen gibt. Jedoch greift auch dieser Begriff etwas zu kurz, da die Klangformung nicht nur die Vokale betrifft, sondern auch die stimmliche Tragfähigkeit entscheidend von den Verhältnissen dieser Räume abhängt.

Der Begriff Resonanzräume ist ebenfalls missverständlich, da das eigentlich schwingende Element die Luftsäule ist und nicht die Wände des Vokaltraktes. Die Rolle dieser schleimhautausgekleideten Räume kann man nicht mit dem echten Mitschwingen des Holzes bei einer Geige vergleichen. Zum vollständigen Verständnis der resonatorischen Eigenschaften dieses Systems sind weitere Forschungsarbeiten notwendig. Seine grundlegenden akustischen Eigenschaften wie die Formanten (Vokal- und Sängerformanten) werden nach aktuellem Wissenstand in Kapitel 4, S. 82 ff. ausführlich beschrieben.

Resonanzräume

Der im Kehlkopf gebildete Primärklang wird hinsichtlich seines Klangcharakters und seiner Tragfähigkeit entscheidend durch die resonatorischen Eigenschaften der Räume oberhalb der Stimmlippenebene geformt. Die an der Klangformung beteiligten Räume werden synonym als Vokaltrakt, Ansatzrohr oder Artikulations- und Resonanzräume bezeichnet. Sie werden anatomisch im Wesentlichen durch den Larynxeingang, den Pharynxschlauch, die Mundhöhle mit der Zunge und dem Gaumensegel sowie die Lippen begrenzt. In der physiologischen Klangformung sind die Begrenzungen der Resonanzräume beim Menschen durch die enorme Variabilität der Stellung der Zunge, des Gaumensegels, der Lippen, des Kehldeckels und der Position des Kehlkopfes äußerst flexibel.

1 Im Gesangsstudium des Autors wurde diese Haltung von der Gesangsprofessorin Beata Heuer-Christen durch die bildliche Vorstellung »Breit den Rücken wie ein Rind« evoziert.

Die Stimme

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