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Оглавление3. Methoden zur Darstellung, Analyse und Beurteilung von Stimmen
Bernhard Richter
Es gibt unterschiedliche Sinnes-Kanäle, mit denen wir die Qualitäten der Stimme wahrnehmen und beurteilen können: den Hör-, Seh- und Tastsinn sowie das Fühlen und Spüren von Körpersensationen (die sog. Propriozeption). Darüber hinaus können wir mit unterschiedlichen technischen Messinstrumenten vielfältige Merkmale der Stimme aufzeichnen und analysieren.
Dem »Instrument Stimme« kann man sich außerdem aus ganz unterschiedlichen Perspektiven nähern, die unterschiedliche Grundvoraussetzungen bedingen:
• Produziert man die Stimme selbst?
• Hört man einer fremden Stimme zu?
• Wird »just for fun« gehört?
• Wird eine bewertende Perspektive eingenommen?
Eine wertende Perspektive kann wiederum von unterschiedlichen Voraussetzungen ausgehen, je nachdem, ob die Beurteilung eines Schülers durch einen Lehrer, die eines Künstlers durch einen Kritiker, oder diejenige eines Stimmpatienten durch einen Stimmarzt bzw. -therapeuten erfolgt. Im Idealfall ziehen alle Beteiligten die gleichen Kriterien zur Beurteilung heran und kommen zu einer einheitlichen Wertung – dies ist jedoch leider nicht immer der Fall.
Meist wird die primäre Beurteilung einer Stimme hörend, also mit den Ohren, erfolgen. Menschen, die nicht selbst stimmlich geschult sind, haben zumeist einen wertfreien Zugang zu Stimmen. Mit zunehmender Schulung des analytischen Gehörs wird der Höreindruck jedoch – fast zwangsläufig – bewertend. Bei Sängern und Schauspielern müssen in der Hörbeurteilung spezifische Fähigkeiten der Stimme erfasst werden, die im Grenzbereich zwischen wissenschaftlicher Abbildbarkeit und subjektiver künstlerischer Einschätzung angesiedelt sind.
Heute ist eine komplexe Beschreibung der Stimmfunktion anhand wissenschaftlich abgesicherter Verfahren möglich, die sich multidimensionaler Kriterien bedient. Dabei können methodisch sehr unterschiedliche Verfahren wie die auditive Klangbeurteilung des Zuhörers bzw. des Stimmproduzenten selbst, die Visualisierung der Stimmlippenschwingungen sowie die akustische Klang- und Schallanalyse zu einer Gesamteinschätzung zusammengefasst werden.
Im Folgenden werden die wichtigsten Methoden und Möglichkeiten vorgestellt, mit denen eine Stimme dargestellt, analysiert und beurteilt werden kann. Der Fokus liegt dabei vornehmlich auf der Betrachtung und Beschreibung einer ungestörten, gesunden Stimmfunktion.
Eine über das vorliegende Kapitel hinausgehende anschauliche und umfassende Darstellung weiterer diagnostischer Möglichkeiten, auch im Hinblick auf den Einsatz in der Beurteilung gestörter Stimmen, findet sich bei Nawka und Wirth S. 139 ff. (Nawka u. Wirth 2007).
Hören
Der Hörsinn ist der wichtigste Sinn bei der Stimmbeurteilung. Er ist der einzige der im vorliegenden Kapitel beschriebenen Sinneskanäle, der für die Beurteilung einer Stimme immer vorhanden sein muss. Die anderen Qualitäten lassen sich zum Teil hörend erschließen.
Anatomisch-physiologische Aspekte
Das Ohr vereint in sich sowohl den Hörsinn als auch den Gleichgewichtssinn. Im Folgenden sollen – unter Aussparung des Gleichgewichts – einige wenige anatomische und physiologische Aspekte des Hörens zur Darstellung kommen, die für das Verständnis des Hörvorgangs beim Sprechen und Singen wesentlich sind. Für weiterführende und detailliertere Erläuterungen werden die Monografien von Hellbrück und Ellermeier »Hören: Physiologie, Psychologie und Pathologie« (Hellbrück u. Ellermeier 2004) oder Lehnhardt und Laszig »Praxis der Audiometrie« (Lehnhardt u. Laszig 2009) empfohlen.
Anatomisch zeigt das Hörorgan einen dreiteiligen Aufbau (Abb. 55). Man unterscheidet a) das Außenohr mit Ohrmuschel und äußerem Gehörgang, b) das Mittelohr mit dem Trommelfell, den Gehörknöchelchen und den Mittelohrmuskeln sowie c) das Innenohr mit den eigentlichen Sinneszellen, den sogenannten Haarzellen, in der Hörschnecke.
Abb. 55: Anatomischer Aufbau des Ohres
Die Hörschnecke ist im dichtesten menschlichen Knochen, dem sogenannten Felsenbein, gelegen und damit gut geschützt. Die wesentliche Funktion des Ohres ist es, Schallwellen, d. h. mechanische Energie, in elektrische Nervenimpulse umzuwandeln, die zum Gehirn geleitet und dort in Höreindrücke verarbeitet und schließlich wahrgenommen werden können.
Die Schallwellen erreichen das Ohr auf zwei unterschiedlichen Wegen: zum einen über die sogenannte Luftleitung. Hier nimmt die Ohrmuschel den Schall auf und er wird im äußeren Gehörgang gebündelt, wo er auf das Trommelfell trifft, welches wiederum durch den Schall in Schwingungen versetzt wird. Über die Gehörknöchelchenkette, Hammer/Amboss/Steigbügel, die an ihrem einen Ende (Hammergriff) mit dem Trommelfell und an ihrem anderen Ende (Fußplatte des Steigbügels) mit dem Eingang zum Innenohr verbunden ist, werden die Schwingungen auf die Innenohrflüssigkeit übertragen. Zum anderen kann der Schall auch direkt über das Körpergewebe und den Knochen zur Hörschnecke weitergeleitet werden. Diese per Vibration fortgeleiteten Schallereignisse bezeichnet man als Knochenleitungshören. Es ist besonders wichtig für selbst produzierten Schall (vgl. Abb. 59, S. 66).
Unabhängig davon, wie der Schall ans Innenohr gelangt, wird in der Hörschnecke eine schwingungsfähige Membran, die sogenannte Basilarmembran, in Schwingungen versetzt. Die Basilarmembran ist wie die Stufen einer Wendeltreppe am Innenpfeiler verankert und zieht in zweieinhalb Schneckenwindungen nach oben. Auf ihr entstehen Wanderwellen, die entsprechend der Frequenz des eintreffenden Schalls ein Maximum an einer bestimmten Stelle der Basilarmembran aufweisen. Das Prinzip, wie diese Wellen entstehen, ist sinnbildlich mit der Wellenbildung an einem Meeresstrand vergleichbar. Der »Wellenberg« bildet sich an einem bestimmten Ort in Abhängigkeit von der ankommenden Energie und der Beschaffenheit des Untergrundes – im Ohr der Schwingungseigenschaften der Basilarmembran. Die Wellenbildung führt als mechanisches Geschehen, neben aktiven Verstärkungsvorgängen, mit dazu, dass die auf der Basilarmembran befindlichen inneren Haarzellen, also die eigentlichen Hörzellen, aktiviert werden und Nervenimpulse erzeugen, die an das Gehirn als Hörinformationen weitergeleitet werden. Verschiedene Tonhöhen werden an verschiedenen Orten in der Hörschnecke abgebildet – die hohen Töne bis ca. 20.000 Hz direkt unten in der Schnecke, die tiefen Töne bis hinunter zu ca. 20 Hz an der Schneckenspitze. Die Tonunterscheidungsfähigkeit ist dabei erstaunlich präzise (z.B. 3–4 Hz bei 1 kHz). Die Grundfrequenzen der Töne eines Klavieres liegen im Bereich von 27,5 bis 4186 Hz (Abb. 56). Einzelne Musikinstrumente wie z. B. Glockenspiele, Kirchenorgeln oder elekronische Synthesizer können sogar noch höhere Grundfrequenzen produzieren. Die Grundfrequenzen der menschlichen Stimme bewegen sich im Normalfall im Bereich von etwa 50–1.500 Hz (vgl. Kap. 1, S. 21). Da die Grundfrequenzen auch immer Obertöne haben (vgl. Kap. 4, S. 80), kann beim Hören von Musik und insbesondere bei der Klangwahrnehmung der gesamte hörbare Frequenzbereich des Ohres ausgeschöpft werden.
Manchmal fällt es schwer sich vorzustellen, was eine bestimmte Zahlenangabe in Hertz bedeutet (vgl. Kap. 4, S. 80). Die Berechnung anhand des Kammertons a’ = 440 Hz oder des c’ = 262 Hz ist umständlich. Zur Erleichterung, in welchem Tonhöhenbereich man eine Frequenz gedanklich einzuordnen hat, kann man sich ausgehend von g’ anhand der Oktavabstände nach oben und unten ein einfaches Raster bilden. Bei Oktavschritten nach unten halbieren sich jeweils die Frequenzen, nach oben verdoppeln sie sich. Unter Zuhilfenahme einer rechnerischen »Rundung«– mit einer hier vertretbaren Fehlerunschärfe – kann man annehmen, dass der Zahlenwert für g’ dem Wert 400 Hz (eig. 392 Hz) entspräche. Dann hätte die Oktave darunter, das kleine g, eine Frequenz von 200 Hz (eig. 196 Hz), eine weitere Oktave darunter, das große G eine Frequenz von 100 Hz (eig. 98 Hz) etc. Die nächste Oktave oberhalb von g’ – bei g’’ – hätte 800 Hz (eig. 784 Hz), g’’’ 1600 Hz (eig. 1568 Hz) etc. Frequenzangaben einzelner Töne können mit diesem vereinfachten Schema den jeweiligen Oktavbereichen zugeordnet werden, woraus abgeleitet werden kann, in welchem Frequenz- und Tonbereich man sich befindet (Abb. 57). Diese Vereinfachung erleichtert den Umgang mit einer beliebigen Frequenzangabe enorm, da man sie schnell einordnen kann.
Abb. 56: Tonhöhen einer Klaviatur, in deutscher und englischer Bezeichnung
Abb. 57: »Gerundete« Tonhöhen der Klaviatur auf den Ton g’ bezogen. g’ hat die Frequenz 392 Hz und wird hier auf 400 Hz gerundet.
Das Ohr hat einen erstaunlichen Dynamikumfang. Es kann sehr leise Töne an der Hörschwelle ebenso wahrnehmen wie laute Töne von 120 dB. Seine maximale Empfindlichkeit hat es etwa im Bereich vom 500–4000 Hz im leisen bis mittleren Dynamikbereich. In diesem Bereich sind auch die wesentlichen Informationen unserer Sprache enthalten: die Vokale im Bereich bis ca. 2000 Hz (vgl. Kap. 4, S. 83), die Konsonanten im Bereich zwischen 3000–4000 Hz (Abb. 58). Man nennt diesen gesamten Bereich auch Sprachfeld.
Wenn wir einer anderen Person zuhören, erfolgt die Schallübertragung vornehmlich über die Luftleitung. Wenn wir selbst Stimme produzieren, hören wir uns sowohl über die Luftleitung, als auch über die Knochenleitung. Beide Arten des Hörens sind also für die Eigenwahrnehmung wichtig (Abb. 59).
Beim Hören der eigenen Stimme ist hinsichtlich der Luftleitung zu beachten, dass der Schall vom Mund bei der Übertragung durch die Luft das Ohr mit Verzögerung erreicht. Zudem gibt es im Mittelohr einen kleinen Muskel, den M. stapedius (Abb. 59, S. 66). Dieser Muskel wird zum einen bei lauten Geräuschen, die auf das Ohr treffen, reflexartig aktiviert, zum anderen aber auch kurz bevor man selber anfängt zu sprechen oder zu singen. Dies bezeichnet man als präphonatorischen Stape-diusreflex. Wenn dieser Muskel sich zusammenzieht, wird die Schallübertragung im Mittelohr gedämpft. Im Unterschied zum Anhören einer fremden Stimme ist das Hören der eigenen Stimme also in dreifacher Weise anders, da der Schall a) durch die verzögerte Luftleitung, b) durch die Knochenleitung und c) durch die veränderte Mittelohrübertragung modifiziert wird. Die Kenntnis dieser physiologischen Hintergründe der unterschiedlichen Wahrnehmung von fremder und eigener Stimme ist sowohl für Sänger als auch für Pädagogen von praxisrelevanter Bedeutung. Während der Gesangspädagoge die Stimme der Studierenden allein über den Weg der Luftleitung sozusagen ungefiltert beurteilt, ist die Stimme für den Sänger selbst gefiltert, insbesondere die hochfrequenten Schallanteile sind gedämpft.
Abb. 58: Schwellen gleicher Lautstärkeempfindung (Isophone), Hauptsprachbereich (»Sprachfeld«), verschiedene Schalldruckpegel unterschiedlicher Hörsituationen sowie Hör-, Unbehaglichkeits- und Schmerzschwelle
Abb. 59: Knochen- und Luftleitung
Wegen der unterschiedlichen Vorgänge beim Hören der eigenen Stimme ist sie uns beim ersten Hören vermittels einer Tonaufnahme in den allermeisten Fällen fremd – manchmal sogar unsympathisch. Dies muss man berücksichtigen, wenn man als Künstler zur Kontrolle der eigenen Stimmproduktion mit Tonaufnahmen arbeitet. Man muss sich in die eigene Stimme also regelrecht »einhören« bzw. an sie »gewöhnen«.
Analytisches Hören und Hörschulung
Jeder an der Beurteilung oder Betreuung von Stimmen Beteiligte muss sein Gehör intensiv schulen. Diese Schulung erfordert ein jahrelanges geduldiges Training. Seidner und Mitautoren haben hierfür den Begriff »Stimmklanglauschen« vorgeschlagen (Seidner et al. 2009).
Das Hören sollte so geschult werden, dass es analytisch die drei Ebenen des Instruments Stimme, nämlich Tonanregung (Atmung), Ton-/Klangproduktion (Kehlkopf) sowie Ton-/Klangformung (Resonanzräume) (vgl. Kap. 2, S. 27), so differenziert wie möglich unterscheiden kann. Dieses analytische Hören ist für alle wichtig, die sich mit Stimmen beschäftigen – unabhängig davon, ob sie künstlerisch, pädagogisch, diagnostisch oder therapeutisch ausgerichtet sind. Wesentlich bei diesem analytischen Hören ist zunächst, dass wir lernen die einzelnen Elemente wahrzunehmen. Gerade bei Stimmen, die uns beim ersten Hören nicht gefallen oder die stilistisch in einer Weise produziert werden, die uns fremd ist oder nicht zusagt, ist dieses differenzierte Wahrnehmen nicht einfach und erfordert ein hohes Maß an Disziplin. Man darf sich nicht gleich abwenden und die sprichwörtliche »Flinte ins Korn werfen«, sondern muss analytisch »am Ball bleiben«.
Die Fragen der hörenden Stimmbeurteilung sollten immer hierarchisch in folgender Reihenfolge ablaufen: Erstens, was hören wir? Und, zweitens, wie wird dieser Klang vermutlich erzeugt und modifiziert? Erst dann sollte die Frage gestellt werden: Wie sind die einzelnen Elemente zu bewerten im Sinne von stilistisch passend/nicht passend oder richtig/falsch oder unschädlich/schädlich oder auch gesund/krank.
Schon während der eigenen stimmlichen Ausbildung ist es von großer Wichtigkeit, anhand von Live-Konzerten, aber auch von Aufnahmen berühmter Künstler, die heute leicht zugänglich sind, das Gehör darin zu trainieren, vergleichend zu hören, wie in Kapitel 5, S. 95, anhand des Goethe-Gedichtes PROMETHEUS exemplarisch vorgeschlagen. Die Hörschulung sollte immer Sprech- und Singstimmen gleichermaßen umfassen. Sie sollte zudem möglichst umfassend sein und verschiedene Gesangsstile und -schulen berücksichtigen. Dies geht am leichtesten, wenn man es sich zu eigen macht, systematisch bei jeder Stimme dieselben Parameter einzuschätzen. In diesem Höreindruck sollten – in Anlehnung an den Vorschlag von Seidner und Wendler – Aspekte der Tonbildung (Stimmeinsatz und -absatz), der Tonqualität, des Stimmklangs (z. B. Timbre), der Tragfähigkeit, der Intonationsfähigkeit, der Registerreinheit und auch des Vibratos erfasst werden (Seidner u. Wendler 1997) (vgl. Kap. 9, S. 177). Dadurch kann man sich ein Bild über die technische Beherrschung der Stimme, die Atem- und Stimmökonomie, den Grad der stimmlichen Anstrengung und Belastbarkeit sowie möglicher unerwünschter Geräuschanteile verschaffen. In Tab. 3 werden »sieben Kriterien« vorgeschlagen, die beim Hören in jedem Fall beurteilt werden sollten.
Ein Vorsingen bzw. Vorsprechen in der ärztlichen Sprechstunde – insbesondere auch der problematischen Stellen einer Partie – ist aus diesem Grunde zur stimmärztlichen Beurteilung sehr hilfreich. Zudem besteht in der Sprechstunde dann die Möglichkeit, Stimmen interaktiv zu testen, indem auch kritische Bereiche der Stimmproduktion wie Pianofähigkeit, Steigerungsfähigkeit, Registerübergänge o.ä. anhand von spezifischen Übungen physiologisch überprüft werden. Neben dem Erkennen von Stimmpathologien unter diagnostisch/therapeutischen Gesichtspunkten, ist dies auch unter dem Gesichtspunkt der Vertrauensbildung zwischen Ratsuchendem und Stimmexperten sehr wichtig.
Kriterium | Funktionszusammenhang |
Tonbildung | Atmung und Kehlkopf |
Tonqualität | Kehlkopf und Resonanzräume |
Stimmklang | Kehlkopf und Resonanzräume |
Tragfähigkeit | Atmung und Resonanzräume |
Intonationsfähigkeit | Atmung und Kehlkopf, Kinästhetik/Hören |
Register | Gesangstechnik |
Vibrato | Atmung, Kehlkopf und Resonanzräume |
Tab. 3: »Sieben Kriterien« und die ihnen vornehmlich zugeordneten Funktionseinheiten
Der scharfzüngige New Yorker Kritiker William James Henderson (1855–1937) stellte schon vor über hundert Jahren in The Sun klare Richtlinien auf, welche die Beurteilung einer Stimme rein auf den Höreindruck stützt. Er billigte dem analytischen Hören ein hohes Maß an Objektivität zu:
»Wenn jemand falsch singt, spielt es keine Rolle, wer zu hören meint, es sei richtig. Die einzige Frage ist: ›Kann man es hören oder nicht?‹ […] Ob eine Sängerin eine durchweg ausgeglichene Stimme hat, ob ihre tiefen Töne weiß oder kehlig klingen […], ob ihre Koloratur brüchig, verkrampft oder schwerfällig ist, ob ihre Melodielinie durch eine unkünstlerische Phrasierung ruiniert wird, ob sie sauber singt oder nicht, ob sie die Musik so ausführt wie sie in den Noten steht oder wie es ihr selbst in den Sinn kommt – dies sind keine Fragen der Meinung dies sind Tatsachen. Kurz gesagt, nichts ist offensichtlicher, als das Resultat, welches in einer künstlerischen Aufführung technisch erreicht werden kann und die einzige Frage die überhaupt bezüglich einer Kritik gestellt werden kann, ist: ›Hat der Kritiker richtig gehört?‹ Wenn er nachweislich die Eigenart hat, nicht genau hinzuhören, dann ist er so ungeeignet für den Beruf des Musikkritikers wie ein Farbenblinder für die Anforderungen eines Kritikers in der Bildenden Kunst.«1
Hörende Fremd- und Eigenbeurteilung der Stimme
Obschon der Fokus des vorliegenden Abschnitts auf der Betrachtung und Beschreibung einer ungestörten, gesunden Stimmfunktion liegt, soll an dieser Stelle ein kleiner Exkurs über die auditive, d. h. »hörende«, Beurteilung von gestörten Stimmen eingeschoben werden.
Exkurs: Rauigkeit / Behauchtheit / Heiserkeit (RBH-Index)
Wenn bei einer gestörten Stimme das Symptom Heiserkeit zu hören ist, dann kann man diese Heiserkeit akustisch vor allem durch eine Behauchung oder eine Rauigkeit des Stimmklanges beschreiben. Nach dem Schweregrad der Rauigkeit und Behauchtheit lässt sich die Gesamtausprägung einer Heiserkeit im sogenannten RBH-Index einschätzen (Nawka et al. 1994). Die Zahl 0 steht dabei jeweils für eine ungestörte Funktion, die Zahl 3 für die schwerste Ausprägung der Störung. Auch wenn dieses System nicht unerheblich von der Erfahrung des Untersuchers abhängig ist, hat es sich im klinischen Alltag bewährt und sollte als einfache Möglichkeit der Einschätzung auf jeden Fall angewendet werden. Über dieses sehr einfache System hinaus kann die »hörende« Stimmbeurteilung mit Bestimmung z. B. der mittleren Sprechstimmlage und weiterer auditiv zu bestimmender Parameter noch wesentlich differenzierter erfolgen. Den an diesen Fragestellungen Interessierten sei der Abschnitt »Auditive Beurteilung der Stimme« im Buch »Stimmstörungen« von Nawka und Wirth, S. 157 ff., empfohlen (Nawka u. Wirth 2007).
Exkurs: Voice Handicap Index (VHI)
Neben der Einschätzung der Stimme durch eine fremde Person kann man natürlich auch den Menschen, dessen Stimme beeinträchtigt ist, befragen, wie er selbst seine Stimme einschätzt. Damit dies einigermaßen zuverlässig und nachvollziehbar möglich ist, wurden Fragebögen zur Selbsteinschätzung des Patienten entwickelt, wie z. B. der Voice Handicap Index, kurz VHI (Jacobson et al. 1997). Der ursprünglich auf Englisch verfasste Fragebogen liegt in einer deutschen Übersetzung vor (Nawka et al. 2003). Der VHI ist ein hinsichtlich der Eigeneinschätzung der Stimme normiertes Fragebogeninstrument. Hohe Werte (Range 0–120) repräsentieren eine subjektiv stark ausgeprägte stimmliche Beeinträchtigung. Der VHI kommt häufig als standardisierter Fragebogen im Rahmen des ELS-Protokolls (s. S. 75) zum Einsatz.
Es wurde auch eine sängerspezifische Version des VHI in englischer Sprache entwickelt (Cohen et al. 2007), welche aktuell von der Arbeitsgruppe um Nawka in einer deutschen Version evaluiert wird.
Tasten, Fühlen
Untersuchung mit den Händen
Zur Untersuchung und Beurteilung der Stimmproduktionsmechanismen kann man auch sehr effektiv seine Hände einsetzen. Über den Tastsinn ist es möglich – in Anlehnung an die Methoden der manuellen Medizin (Lehnert 2011) –, den Spannungsstatus der Hals- und Nackenmuskulatur, der Muskulatur des Mundbodens und der Beweglichkeit des Unterkiefergelenkes zu beurteilen. Zudem erhält man wertvolle Informationen über die Stellung und Flexibilität des Kehlkopfes bei der Tonproduktion. Diese tastende Beurteilung erfordert in besonderem Maße das Einverständnis desjenigen, der die Stimme produziert, da der Körperkontakt als unangenehm empfunden werden kann und dadurch eine muskuläre An- bzw. Verspannung entstehen kann. Wenn man diesen Vorgang jedoch offen anspricht, entstehen selten Abwehrhaltungen. Über die tastende Beurteilung hinaus ermöglicht die von erfahrener Hand durchgeführte Palpation natürlich auch therapeutische Interventionen.
Kinästhetische Kontrolle
Neben den Facetten des Hörens steht dem Sänger für die Stimmkontrolle ein weiterer Kontrollmechanismus zur Verfügung, die kinästhetische Kontrolle (Mürbe 2009; vgl. Kap. 7, S. 153). Darunter versteht man Informationen von Mechanorezeptoren der Muskulatur, der Gelenke und der Schleimhäute, welche Informationen z. B. über die Spannung der Stimmlippen und den Anblasdruck an das Gehirn leiten (Abb. 60). In etlichen Situationen sind Sänger ganz offensichtlich auf die Leistungen des kinästhetischen Regelkreises angewiesen, z. B. wenn die Orchesterlautstärke zu groß ist, beim Chorgesang oder wenn bei schnellen Koloraturpassagen im Belcanto das Hörsystem als Korrekturinstrument zu langsam ist.
Dieses kinästhetische System lässt sich, vergleichbar mit der oben beschriebenen Hörschulung, sehr effektiv ausbilden, wie die Untersuchungen der Arbeitsgruppe um Dirk Mürbe aus dem Studio für Stimmforschung in Dresden belegen (vgl. Kap. 7, S. 153). Es kann als ein wesentliches Ausbildungsziel für Sänger angesehen werden, dass sie es lernen, bereits vor der eigentlichen Tonproduktion die richtige Körperstellung und -spannung einzunehmen, die ein bestimmter Ton erfordert.
Abb. 60: Regel- und Steuerkreise der Stimmproduktion (in Anlehnung an Schultz-Coulon 1978). Die Buchstaben bezeichnen die Mechanorezeptoren der Lunge (L), der Muskulatur (M), der Schleimhäute (S) sowie der Gelenke (G).
Der pädagogisch Tätige sollte seinerseits ein so hohes Maß an Einfühlungsvermögen in die körperlichen Aktionen des Schülers ausbilden, dass er die Spannungen und möglichen Fehlspannungen bei der Tonproduktion nicht nur hört, sondern auch spürt. In den Jahren seit 1995 konnten durch die Entdeckung der Spiegelneuronen interessante Erkenntnisse darüber gewonnen werden, dass dieser »empathische« Vorgang tatsächlich nicht auf Einbildung beruht, sondern zu unserer grundlegenden neurophysiologischen Ausstattung gehört (Rizzolatti u. Sinigaglia 2008).
Sehen
Abb. 61: Offene sängerische Präsentation auf der Bühne
Neben dem Höreindruck und dem Tasten/Fühlen/ Spüren, ist die visuelle Beurteilung von Körperhaltung und -ausdruck wichtig (Abb. 61). Sie kann wesentlich zur holistischen Beurteilung der Stimmproduktion beitragen. Bei der Stimmgebung eines professionellen Bühnenkünstlers – insbesondere eines Sängers – ist dabei im Unterschied zum stimmlichen Laien zumeist eine aufrechte Haltung zu beobachten, die gespannt, aber nicht angespannt wirkt – ganz im Sinne des Kleist’schen MARIONETTENTHEATERS (Kleist 1810). Im Gesangsstudium des Autors wurde in diesem Zusammenhang von der Gesangprofessorin Beata Heuer-Christen immer der Begriff lanciare il petto nel pubblico2 aus der italienischen Gesangstradition verwendet, was sinngemäß bedeutet, sich offen und ohne Scheu dem Publikum zuzuwenden.
Optische Darstellung der Stimmlippenschwingungen
Wie bereits in Kapitel 1, S. 19 ff., ausführlich dargelegt, waren nicht nur die erste Spiegelung des Kehlkopfes, sondern auch die Anwendung der Stroboskopie Meilensteine für die Stimmwissenschaft, für die stimmwissenschaftlich geprägte Gesangspädagogik und für die klinische Beurteilung von Stimmen. Seit der bahnbrechenden Erstbeschreibung der Kehlkopfspiegelung gehört das »Hineinschauen in den Kehlkopf« (Abb. 62) unverzichtbar zu einer umfassenden Stimmbeurteilung.
Abb. 62: Endoskopische Kehlkopfuntersuchung mit starrer 90°-Optik; Endoskop der Fa. Atmos
Stroboskopie
Da die Stimmlippenschwingungen für die Auflösungsfähigkeit des menschlichen Auges zu schnell sind (vgl. Kap. 1, S. 21), benötigt man bei der Visualisierung der Stimmlippenschwingungen durch die Kehlkopfspiegelung Verfahren, welche die Schwingungen verlangsamt darstellen. Die Entdeckung eines solchen Verfahrens zur verlangsamten Darstellung einer Bewegung, des sogenannten stroboskopischen Effekts, erfolgte durch den englischen Arzt Peter Mark Roget (1779–1869), der seine Beobachtungen und Berechnungen zu diesem Phänomen 1825 veröffentlichte (Roget 1825). Der Begriff Stroboskopie ist aus dem Griechischen entlehnt (griech. strhóbos, »Wirbel, Sichdrehen«, u. skopeĩn, «betrachten, beobachten«). Einer der ersten Anwender des stroboskopischen Prinzips, Simon Ritter von Stampfer (1790–1864), prägte 1832 diesen Begriff, da er die Bewegungsdarstellung durch eine mit Schlitzen versehene Drehscheibe erzeugte, die sogenannte »Stroboscopische Scheibe von Prof. Stampfer«, auch als »Lebensrad« oder »optische Zauberscheibe« bezeichnet. Ein modernes Stroboskop erzeugt in sehr regelmäßiger zeitlicher Abfolge Lichtblitze. Wird ein bewegtes Objekt kurz beleuchtet, kann seine Bewegung in einzelnen Bildern dargestellt werden. Beim Verfahren der Laryngo-Stroboskopie wird die Blitzlichtbeleuchtung durch die Frequenz der Stimmlippenschwingungen gesteuert (»getriggert«), indem die Blitze im Vergleich zur Frequenz der Stimmlippenschwingungen immer etwas langsamer sind – sozusagen »hinterherhinken«. Dadurch entstehen Einzelbilder aus verschiedenen glottalen Zyklen, die zu einem virtuellen glottalen Zyklus zusammengesetzt werden (Abb. 63). Durch diese Technik wird deshalb immer nur ein geringer Ausschnitt der tatsächlichen Stimmlippenschwingungen dargestellt.
Abb. 63: Einzelbilder einer Stimmlippenschwingung in der Stroboskopie mit »Randkantenverschiebung« des Epithels; Aufnahme mit Mediastroboskop der Fa. Atmos
Während mit dem Kehlkopfspiegel lediglich die grobe Beweglichkeit der Stimmlippen beurteilt werden kann, ermöglicht die Stroboskopie auch die Darstellung der Feinschwingungen der Stimmlippen, der sogenannten Randkantenverschiebung. Diese Visualisierung der Feinschwingungen ist für die Diagnostik von organischen und funktionellen Stimmstörungen gleichermaßen unverzichtbar. Als derzeitiger »Goldstandard« in der klinischen Praxis gilt die digitale Video-Laryngostroboskopie (Richter u. Echternach 2010). Diese Technologie ermöglicht es, die Befunde digital aufzuzeichnen und nach der Untersuchung auszuwerten. Die korrekte Darstellung und Auswertung der Befunde erfordert große Erfahrung. Mittels dieser Methoden werden vornehmlich Aussagen zur Schwingungsamplitude, zum Stimmlippenschluss und zur Randkantenverschiebung getroffen. Aber auch die oberhalb der Stimmlippen liegenden Strukturen wie die Taschenfalten und der Kehldeckel sollten in ihrer Beschaffenheit und Funktionsweise mit beurteilt werden. In jüngster Zeit werden auch Versuche beschrieben, die bisher nicht normierte und quantifizierte Beurteilung der erhobenen Parameter zu vereinheitlichen und quantitativ einschätzbar zu machen (Fleischer u. Hess 2006; Hanschmann u. Berger 2009; Nawka u. Konerding 2012).
Hochgeschwindigkeitsglottografie
Gegenüber dem Verfahren der Stroboskopie bietet die Hochgeschwindigkeitsglottografie, wie sie mit einer Echtzeitkamera durchgeführt werden kann, die Möglichkeit der Aufnahme von mehreren Tausend Bildern pro Sekunde. Obwohl schon seit Ende der 1930er Jahre mit Hochgeschwindigkeitsaufnahmen experimentiert wird (Farnsworth 1940; Timcke 1958), hat diese Methode noch keinen Einzug in die klinische Routine gefunden (Wittenberg et al. 2005; Deliyski u. Hillmann 2010). Sie wird jedoch zunehmend in der stimmphysiologischen Grundlagenforschung angewendet (Echternach et al. 2010c). Für den klinischen Gebrauch sind bisher Geräte zugelassen, die, wie z. B. die HRES Endocam der Fa. Wolf, 4000 Bilder pro Sekunde aufnehmen können (Abb. 64). Dies bedeutet, dass bei einer Grundfrequenz von 100 Hz immerhin 40 Bilder und bei einer Grundfrequenz von 400 Hz noch 10 Bilder pro glottalem Zyklus für die weitere Auswertung zur Verfügung stehen. Gegenüber dem Verfahren der Stroboskopie, welches lediglich durch Einzelbilder aus verschiedenen glottalen Zyklen einen virtuellen glottalen Zyklus zusammensetzt, ermöglicht die Echtzeitkamera die wirkliche Betrachtung einzelner glottaler Zyklen, was gerade bei der Fragestellung der Registerübergänge mit schnellen glottalen Zyklusänderungen von entscheidender Bedeutung ist.
Abb. 64: Bildschirmdarstellung der HRES Endocam (Fa. Wolf) mit Audiosignal, Kymografie, Flächenfunktion und Kontur des mittleren Trajektors
Im Gegensatz zur Video-Stroboskopie lassen sich aus digitalen Hochgeschwindigkeitsaufnahmen mit Hilfe von Bildverarbeitungsalgorithmen zunächst Bewegungskurven der Stimmlippen an deren Rändern berechnen und aus diesen Orts-Zeit-Kurven wiederum charakteristische Parameter zur quantitativen Beschreibung der Stimmlippenschwingungen ableiten, wie z. B. Ein- bzw. Ausschwingzeit, Grundfrequenz und Amplitude für jede Stimmlippe, Öffnungs- und Schließungsquotienten etc. (Wittenberg et al. 2005). Eine weitere Auswertungsmöglichkeit besteht mit den von der Arbeitsgruppe um Lohscheller und Döllinger entwickelten Phonovibrogrammen (Lohscheller et al. 2008). Dies ist ein automatisiertes Verfahren zur quantitativen Analyse der Stimmlippendynamik. Mit diesen Auswertungsmethoden wird zukünftig ein Übergang von der rein qualitativen Beschreibung eines optischen Eindrucks hin zur quantitativen Berechnung möglich sein.
»Fallstricke« bei der Visualisierung der Stimmlippenschwingungen
Bei aller – durchaus berechtigten – Technikbegeisterung sollte man nicht vergessen, dass ein technisches Gerät immer nur so »schlau« sein kann, wie der Anwender, der es bedient. Es ist deswegen unabdingbar, dass neben den Möglichkeiten, die eine Technik bietet, immer auch zeitgleich ihre Limitationen mitbedacht werden. So bietet die Stroboskopie eine sehr gute visuelle Darstellung, die jedoch subjektiv mit viel Erfahrung interpretiert werden muss. Es sollte immer eine gleichberechtigte Wertigkeit von Hören, Sehen und eigenem Denken gewahrt bleiben. Für die korrekte Einordnung des endoskopischen Bildes in die funktionellen Aspekte der Stimmbildung müssen also über die optische Darstellung hinaus immer, sozusagen »zwingend«, der Klang der Stimme sowie die gesangliche und stimmliche Leistungsfähigkeit beurteilt werden.
Immer wieder erlebt man in der stimmärztlichen Sprechstunde, dass Sänger, die wegen eines eigentlich banalen Infektes einen HNO-Arzt fern des Heimatortes aufsuchen – der sie nicht kennt und der manchmal wenig Erfahrung in der Betreuung von Sängern aufweist – nach einer laryngoskopischen Untersuchung zu hören bekommen: »Ihre Stimmlippen schließen nicht richtig«, oder schlimmer noch: »Sie haben ja Knötchen auf den Stimmlippen« (Richter 2011a). Sänger sind durch solche Äußerungen maximal zu verunsichern! Bei jeder fraglichen Schlussinsuffizienz gilt die Faustregel: Wenn im Stimmklang keine Behauchung zu hören ist, dann liegt auch keine Schlussinsuffizienz der Stimmlippen vor! Gründe für eine vermeintliche Schlussinsuffizienz gibt es mehrere. So ruft die Untersuchungssituation mit einer starren Optik durch den Mund durch die herausgezogene Zunge – und die Angst vor dem Würgereiz – nicht selten eine scheinbare Schlussinsuffizienz als Artefakt hervor, da zu leise und zu behaucht phoniert wird (Abb. 65a). Auch ist bei höheren Stimmen eine Lücke in den hinteren Abschnitten der Stimmlippen, ein sogenanntes posterior gap, als physiologisch anzusehen (Abb. 65b).
Häufig ist auch eine terminologische Unschärfe in der Einteilung von gutartigen Stimmlippenveränderungen zu beobachten, indem alle Veränderungen unter der irreführenden Bezeichnung »Knötchen« subsumiert werden, obwohl echte Knötchen sehr selten sind (Kunduk u. McWhorter 2009).
Abb. 65 a/b: Inkompletter SL-Schluss: a) bei zu leiser behauchter Phonation bedingt durch die herausgezogene Zunge und die Angst vor dem Würgereiz, b) posterior gap als physiologische Lücke im intercartilaginären Anteil v. a. bei hohen Stimmen (vgl. Kap. 2, S. 48)
Abb. 66 a/b: Funktionelle Phonationsverdickungen a) kurz vor Stimmlippenschluss, b) Respirationsstellung
Zudem ist es keinesfalls eine Rarität, dass bei professionellen Sängern im Kehlkopf Veränderungen wie Asymmetrien oder »funktionelle Phonationsverdickungen« (Abb. 66 a/b) zu sehen sind. Hierunter versteht man nach Seidner und Wendler eine breitbasige Verdickung, die sich in der Phonation vollständig abrollt und in Respirationsstellung wieder ausstreicht (Seidner u. Wendler 1997) (vgl. Kap. 9, S. 176f.).
Auch einseitige Schwellungen, Ödeme, Polypen, Varizen etc. sind bei professionellen Stimmbenutzern nicht selten, welche die Tonproduktion oder den Stimmklang weder für den Künstler spürbar noch für den Hörer wahrnehmbar beeinträchtigen. So fanden sich in einer Untersuchung unserer eigenen Arbeitsgruppe von 36 professionellen Sopranistinnen bei über einem Drittel der Sängerinnen (15 von 36) verschiedene Veränderungen der Stimmlippen in der Stroboskopie, ohne dass perzeptiv eine Heiserkeit oder eine Einschränkung in der subjektiven Selbsteinschätzung im Voice Handicap Index (VHI) nachweisbar gewesen wäre (Traser et al. 2012). Die verallgemeinernde Bezeichnung »Knötchen« lässt zudem die Tatsache außer Acht, dass viele Veränderungen im Kehlkopf eher eine polypöse Struktur haben oder Ödemen entsprechen, die sich im zeitlichen Verlauf sehr stark verändern können. So bilden sich viele Befunde nach geeigneter medikamentöser Therapie oder durch Stimmübungen im Verlauf von wenigen Tagen oder Wochen vollständig zurück (vgl. Kap. 11, S. 215f.; Richter 2011a). Es erscheint deswegen sinnvoller, allgemein von »Verdickungen« zu sprechen, da in diesem Wort eine mögliche zeitliche Veränderung impliziert ist, während der Begriff »Knötchen« von manchen Patienten als eine unabänderliche Tatsache fehlinterpretiert werden kann.
Magnetresonanztomografie
Die Magnetresonanztomografie (MRT), auch als Kernspintomografie bezeichnet, ist ein bildgebendes Verfahren, das vor allem in der medizinischen Diagnostik zur Darstellung von Struktur und Funktion der wasserhaltigen Gewebe und Organe im Körper eingesetzt wird. Es beruht auf einer resonanten, elektromagnetischen Anregung der Wasserstoffatomkerne in einem starken statischen Magnetfeld. Im Gegensatz zu Röntgenverfahren wie der Computertomografie, ist die MRT ein nichtinvasives Verfahren, das ohne den Einsatz ionisierender Strahlen auskommt.
Abb. 67 a/b: MRT-Aufnahmen a) Lunge, b) Vokaltrakt
Grundzüge der Anwendung von dynamischen MRT-Messungen bei der Artikulation von Vokalen wurden bereits z. B. von Kröger und Mitarbeitern (Kröger et al. 2004) beschrieben. Die Anwendung bei Sängern mit schnellen Sequenzen ist eine Entwicklung der in Freiburg bestehenden Arbeitsgruppe aus Musikermedizin, MR-Physik und Neuroradiologie (Echternach et al. 2008; 2010 a, b; 2011 a, b, c; 2012). Mit dem dynamischen MR können somit für Forscher und Praktiker gleichermaßen anschauliche und instruktive Bilder und Filme erzeugt werden, die dem Auge bisher verborgene Bewegungsvorgänge im Körper sichtbar machen. Bei Sprechern und Sängern können insbesondere die Atmungsorgane (Abb. 67 a) und die Resonanzräume (Abb. 67 b) dargestellt werden.
Messen
Die quantitative Messung von Stimmparametern kann ebenfalls unter verschiedenen Blickwinkeln erfolgen: 1) Stimmfunktion, 2) Stimmgüte, 3) stimmliche Leistungsfähigkeit, 4) Vorhandensein bzw. Ausprägung einer Stimmstörung. Für alle Fragestellungen werden neben den oben beschriebenen Verfahren der Hörbeurteilung und der Visualisierung aktuell vornehmlich akustische Analysen sowie aerodynamische und elektroglottografische Verfahren eingesetzt (Michaelis 1999). Dies steht im Einklang mit den Empfehlungen der Europäischen Laryngologischen Gesellschaft (European Laryngological Society, ELS), die als Basisprotokoll zur Stimmfunktionsdiagnostik vorschlägt, fünf Methoden anzuwenden (Dejonckere et al. 2001):
1. auditive Beurteilung des Stimmklangs durch den Untersucher
2. optische Beurteilung des Kehlkopfes mit Analyse der Feinschwingungen der Stimmlippen
3. apparative Analyse des Stimmsignals
4. Messung aerodynamischer Maße
5. Selbsteinschätzung des Patienten durch normierte Fragebögen
Akustische Analyse des Stimmschallsignals
Die Vielzahl der messbaren Parameter ist verwirrend und es ist keine Schande, wenn man ob dieser Vielzahl manchmal etwas ratlos ist. Bei einigen Parametern ist ihre Wertigkeit für das Verständnis der Stimmfunktion nicht eindeutig geklärt. Ähnlich verhält es sich, wenn man sich die Frage stellt, wie bedeutsam die einzelnen Parameter für die Beurteilung der Stimmgüte bei stimmgestörten Patienten sind.
Um diese Frage wissenschaftlich korrekt zu untersuchen, wurde von einer multizentrischen Arbeitsgruppe anhand der Daten von 387 Patienten eine Regressionsanalyse durchgeführt. Es zeigte sich, dass vor allem die Parameter Tonhaltedauer, höchste Frequenz, leisester Phonationsschalldruckpegel und Jitter – unter Hinzuziehung der Tonhaltedauer – eine verlässliche Einschätzung des Schweregrades einer Stimmstörung ermöglichen. Die vier Parameter wurden unterschiedlich gewichtet in einem Algorithmus3 aufgenommen, der als Dysphonia Severity Index (DSI) bezeichnet wird (Wuyts et al. 2000). Normale Stimmen entsprechen einem DSI-Wert von +5, ausgeprägt dysphone Patienten entsprechen dem Wert –5. Je kleiner der Zahlenwert umso schlechter ist die Stimmqualität.
Die Bestimmung von Grundfrequenz, höchster/ tiefster sowie lautester/leisester Phonation kann im Rahmen der Stimmfeldmessung unter normierten Bedingungen erfolgen (s. S. 77); Irregularitätsmaße, z. B. Jitter (Variation der Grundfrequenz durch Vergleich der Periodenlänge von einer Periode zur nächsten), sowie die Bestimmung des Schallspektrums können mit multidimensionalen Stimmanalyseprogrammen (z. B. PRAAT, KeyPentax MDVP, Laryngograf Speech Studio, Dr. Speech etc.) vorgenommen werden. Der Jitter kann sowohl aus dem EGG als auch aus dem Tonsignal bestimmt werden.
Auf die einzelnen Messparameter und die Programme detailliert einzugehen, würde den Rahmen des vorliegenden Abschnitts weit sprengen. Einen anschaulichen Überblick gibt der Physiker und Gesangspädagoge Josef Pilaj in seinem 2011 erschienen Buch »Singen lernen mit dem Computer« (Pilaj 2011).
Das ELS-Protokoll und der DSI können nach den Erfahrungen unserer eigenen Arbeitsgruppe auch bei professionellen Sängern durchaus zur Beurteilung der Stimmfunktion und -leistungsfähigkeit herangezogen werden (Echternach et al. 2009; Richter u. Echternach 2010). Jedoch muss man beachten, dass Sänger speziell im DSI meist deutlich höhere Werte aufweisen als Nichtsänger.
Darüber hinaus sind bei Sängern weitere Spezifika zu beachten, da nicht alle sängerisch wichtigen Parameter durch die standardisierten Protokolle erfasst werden. Zur Beurteilung der Sängerstimme sollte eine ausführliche musikermedizinische Anamnese unter Berücksichtigung der bisherigen Ausbildung, des Repertoires und der aktuell geplanten stimmlichen Anforderungen erhoben werden.
Weitere Messverfahren
Neben dem Jitter werden in wissenschaftlichen Untersuchungen, die sich mit differenzierten Fragen der Stimmforschung beschäftigen, weitere Auswertungsverfahren wie Shimmer, Harmonic to Noise Ratio (HNR), Relative Average Perturbation (RAP), Normalized Noise Energy (NNE), Cepstral Peak Prominence (CPP) angewendet. Der an einer detaillierten Erklärung dieser Verfahren interessierte Leser sei auf die umfassende Darstellung in dem Buch »Clinical measurement of speech and voice« von Baken und Orlikoff verwiesen (Baken u. Orlikoff 2000).
Aerodynamische Maße
Das für die Stimmbeurteilung wichtigste aerodynamische Maß ist die Tonhaltedauer (vgl. Kap. 2, S. 32). Die Vitalkapazität und der aus dem Verhältnis der Vitalkapazität zur Tonhaltedauer zu bestimmende Phonationsquotient spielen für die Stimmgütebeurteilung eine weniger wichtige Rolle.
Elektroglottografie (EGG)
Die EGG stellt ein nichtinvasives Verfahren zur Analyse der Stimmlippenschwingungen dar. Hierbei wird ein Strom von ≤ 10 mA zwischen zwei Oberflächenelektroden symmetrisch von außen über den beiden Flügeln des Schildknorpels angelegt, was bei normalem Gewebewiderstand eine Spannung von etwa 0.5 V bedeutet. Da es bei der Phonation zu einer Änderung der Leitfähigkeit des Gewebes zwischen den Elektroden kommt, kann die Änderung der Impedanz abgeleitet und gemessen werden. Eine hohe Impedanz ergibt sich bei geringem Kontakt der Stimmlippen, eine niedrige bei maximalem Kontakt. Über die Möglichkeiten laryngoskopischer Verfahren wie der Stroboskopie und der Hochgeschwindigkeitsglottografie hinaus können anhand der Impedanzkurve Rückschlüsse auf den dreidimensionalen Ablauf der Stimmlippenschwingung gezogen werden (Abb. 68). Das EGG-Signal kann außerdem hinsichtlich seiner Frequenz für die Bestimmung der Grundfrequenz oder auch der Frequenzperturbation, z. B. Jitter, herangezogen werden. Nachteilig an dem Verfahren ist zum einen die fehlende Visualisierung der Stimmlippen und zum anderen, dass durch das Signal nicht zu klären ist, ob überhaupt bzw. in welchem Teil der Stimmlippen es zum Schluss kommt. Trotz dieser methodischen Probleme wurde das Verfahren in zahlreichen Studien zur Frage laryngealer Mechanismen eingesetzt (Henrich 2006).
Abb. 68: Elektroglottografie (EGG)-Signal
Abb. 69: Stimmfeld eines professionellen Tenors (LingWAVES); Darstellung von Dynamik und Tonhöhenumfang der Singstimme sowie der dynamischen Steigerung der Sprech- und Rufstimmfunktion
Elektromyografie (EMG)
Die Elektromyografie ist ein Nachweisverfahren, mit dem direkt die elektrische Aktivität in einem Muskel gemessen werden kann. Hierzu müssen Messfühler (Elektroden) möglichst dicht an einem Muskel (Oberflächenelektroden) oder sogar in den Muskel (Nadelelektroden) platziert werden. Die Muskeln des Kehlkopfes können bisher nur sinnvoll mit Nadelelektroden untersucht werden. Dies birgt das Risiko, dass es in die Muskeln einbluten kann. Deswegen sind Untersuchungen mit einem EMG bei Sängern, die während der Untersuchung singen, nicht unproblematisch und bisher auch nur selten durchgeführt worden (vgl. Kap. 2, S. 28; Kochis-Jennings et al. 2012).
Stimmfeld
Als Stimmfeldmessung wird eine Testung der Stimme hinsichtlich Dynamik- und Tonhöhenumfang bezeichnet. Man kann sowohl die Sprechstimm-, die Singstimm- als auch die Rufstimmfunktion darstellen (Abb. 69). Der Begriff Stimmfeld ist etwas irreführend, da nicht eine Fläche bestimmt wird, sondern ein Profil der beiden Parameter Tonhöhe und Intensität. Es wurde zum Teil auch der Begriff »Phonetogramm« verwendet (Schultz-Coulon 1980). Im Englischen hat sich der Begriff voice range profile etabliert. Die Messungen sind heute sehr einfach mit einem handelsüblichen Computer und verschiedener Software durchführbar. Sie geben uns Hinweise auf die Leistungsfähigkeit, Ökonomie und Ausgeglichenheit einer Stimme.
Zusammenfassung
Zur Darstellung, Analyse und Beurteilung von Stimmen kann man den Hör-, Seh- und Tastsinn sowie das Fühlen und Spüren von Körpersensationen (sog. Propriozeption) verwenden. Darüber hinaus können wir mit unterschiedlichen technischen Messinstrumenten vielfältige Merkmale der Stimme visualisieren und analysieren. Die Beschreibung der komplexen Stimmfunktion anhand multidimensionaler Kriterien ist sinnvoll. Wichtig ist, dass neben den technischen Verfahren zur Visualisierung der Stimmlippenschwingungen und der akustischen Klang- und Schallanalyse auch immer, sozusagen auf Augenhöhe, die auditive Klangbeurteilung durch den Zuhörer bzw. den Stimmproduzenten bestehen bleiben muss. Diese Fähigkeit zum analytischen Hören bedarf eines längeren Trainings. Nur in dieser kombinierten Vorgehensweise ist die zuverlässige Gesamteinschätzung einer Stimme möglich.
1 »If it is out of tune, it makes no difference who ›thinks‹ that he thinks it is not. The only question is, ›Can you hear it or can’t you?‹ […] Whether a singer has a voice equalized throughout, whether her lower tones are white and throaty […], whether her coloratura is broken, spasmodic and labored; whether her cantilena is marred by inartistic phrasing, whether she sings out of tune or not, whether she sings the music according to the score or according to her own caprices – these are not matters of opinion; they are matters of fact. In short, nothing is more clearly known than the results, which technic in performance can attain; and the only question that can ever be raised about a critical report is, ›Did the man hear correctly?‹ If it can be shown that he is in the habit of hearing incorrectly, then he is as unfit for his business as a color blind man would be for the calling of art critic.« (Henderson 1908)
2 wörtlich übersetzt: »die Brust dem Publikum entgegenschleudern«
3 DSI = 0,13 × Tonhaltedauer + 0,0053 × höchste Frequenz – 0,26 × leisester Phonationsschalldruckpegel – 1,18 × Jitter + 12,4