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ACHTES KAPITEL

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Der nächste Morgen weckte uns viel zu früh mit seiner bissigen Kälte. Fröstelnd schlichen wir in das Wohnzimmer und machten uns am Ofen zu schaffen, um uns aufzuwärmen. Aber das half auch nicht viel, einschlafen konnten wir eh nicht noch einmal, es war schon zu hell.

„Junge, Junge“, murrte Tine mit zerstörter Miene, „du säufst ja schon für zwei.“

„Vorsicht“, knurrte ich müde in nicht besserer Stimmung. „In meinen Bauch passen definitiv höchstens zwei Flaschen Wein.“

„Deswegen ist dir die dritte Flasche auch zu Kopf gestiegen, Kindchen!“

Ein unschlagbares Argument.

Wir fühlten uns beide etwas verkatert, und weil wir mit so einem Haustier nicht unbedingt hinaus in die viel zu grelle Sonne wollten, blieben wir im Wohnzimmer liegen, wo wir uns träge umhersuhlten und unsere Kopfschmerzen bedauerten. Ab und an maulte Tine was und bekam eine ebenso gemaulte Antwort zurück, dann gab ein Wort das andere, es folgte ein kleiner Tritt oder ein Rest Röstbrot flog durchs Zimmer und dann war wieder Ruhe für eine Weile.

Tine bilderte durch ihr Magazin und sah ziemlich angegriffen aus. Wildes Haar, verschlafene Augen und eine gelangweilt salzstangenkauende Backe. Ich hatte dem Böll eine zweite Chance gegeben, weil die anderen Bücher im Regal so aussahen, als könnte man sich von ihren Einbänden eine sehr gefährliche Hautkrankheit holen. Und irgendwie passte sein deprimierendes Buch ganz gut zu meinem deprimierenden Zustand.

So regenerierten wir ganz vorsichtig durch den Vormittag, zwängten uns zum Mittag Nudeln rein und trauten uns dann mit dem Nachtisch, Kirschen vom Vortag, sogar wieder auf die Terrasse. Dort lagen noch die Weinflaschen, die Decken und vor allem die Reste des Lagerfeuers breit verstreut.

„Wer räumt das auf?“, wagte ich mich uns zu fragen.

„Keine Ahnung“, gestand Tine. „Ich hab jedenfalls Urlaub.“

„Ich auch!“, protestierte ich. Wir sahen uns an und mussten lachen.

„Komm, wir gehen in den Wald, Pilze pflücken“, schlug Tine vor. „Vielleicht findet sich ja inzwischen ein liebes Mainzelmännchen, das sich unser erbarmt.“

Damit war ich sofort einverstanden, denn auch wenn ich Tines Hoffnung nicht so ganz teilen konnte, dürfte die Terrasse in der späteren Dämmerung einen etwas ästhetischeren Eindruck machen als jetzt, so grell ausgeleuchtet. Dann könnte ich mich auch schon viel eher mit ihr auseinandersetzen.

Jetzt aber ging es in den Wald! Also schlenderten wir sehr gemächlich durch das Gartentor hinaus, mit nichts als etwas Wasser medium und einem Korb bewaffnet, auf den nahen Wald zu. In dem hohen Gras war ich so leichtsinnig, zum ersten Mal über Zecken zu sprechen – dabei war Tine noch längst nicht wieder auf der Höhe. „Kannst du mit solchen Hiobsbotschaften nicht warten, bis ich gesund bin?“, fragte sie vorwurfsvoll und bis weit über den Waldrand hinaus konnte sich Tine nicht von der Sorge um ihre Gehirnhaut trennen, die sie nun durch diese beißwütigen Tierchen bedroht sah. Ich verlagerte meine Hand von ihrer Hand auf ihre Taille. Das half meistens ein bisschen und auch jetzt wurde Tine etwas ruhiger. Sie versuchte, ihren Kopf an mich zu lehnen, was nicht ganz klappte, weil wir unterschiedlich groß sind und jeder mit seinen Füßen anders wippt. Also nicht.

„Hoffentlich finden wir auch ein paar, jetzt wo ich mir so einen Appetit drauf gedacht habe“, meinte Tine und war endlich bei der Pilzjagd angekommen. Aber sosehr sie auch suchte, zwischen den Bäumen waren nur Erde, etwas Laub und Rindenbrocken zu finden, sonst nichts. Ausgepilzt. Missmutig stapfte Tine über die herausragenden Wurzeln. Es war aber auch wirklich nichts zu machen! Kaum rückten die Bäume etwas enger zusammen, sodass der Boden unterbelichtet und feucht war, huschten sie ein paar Meter weiter auch schon wieder auseinander und ließen die Sonne den Boden beheizen. Dann lief der Wald in eine wilde Wiese aus, die noch nie von einem Schaf beknabbert worden war, und setzte im Hintergrund schon wieder zu einem neuen Waldstück an. „Vielleicht ist ja heute gar nicht die Zeit für Pilze“, vermutete ich nach einer halben Stunde Querfeldeinwanderung, die mir wie ein halbes Semester erschien. Tine war sich zwar nicht so sicher, gab aber die Hoffnung noch lange nicht auf. Nach den enttäuschenden Wäldchen wollte sie nun die Wiesen näher untersuchen. Also stolzierte sie wie ein Storch durch die Halme, um nichts zu zertreten, was bei näherer Betrachtung gar nicht da war. Tine ließ sich trotzdem nicht unterkriegen. „Ich finde ein paar, verlass dich drauf!“, rief sie mir zu, ohne von dem Grün aufzusehen. „Weißt du übrigens, dass es viel mehr essbare als giftige Pilze gibt?“, fragte sie mich. „Das hab ich mal in einer Reportage gesehen.“ Ich kämmte mit einem Stock das Gras durch und unterstützte Tines Suche nach besten Kräften. Doch außer einem Frosch, der mich ebenso erschreckte wie ich ihn, entdeckte ich nichts. „Aber wenn du einen giftigen mit im Topf hast, hilft es dir nicht viel, dass er einer Minderheit angehört“, feixte ich zu Tine rüber. Sie sah auf und steckte die Fäuste in die Hüfte. „Na hör mal! Dass du immer so pessimistisch sein musst! Du kennst dich doch mit Pilzen aus, oder?“ Ich verneinte. „Du wirst doch wohl nen ganz gewöhnlichen Wiesenchampignon von irgendwelchen bösen Giftpilzen unterscheiden können, Kindchen! An den Lamellen unter dem Kopf?“ Ich grinste sie nur ahnungslos an.

„Reicht ja, wenn einer von uns beiden Bescheid weiß“, erlaubte ich mir zu sagen. Da musste Tine lachen. „Wenn es nur mal so wäre! Ich dachte, du …“

Ach, diese lückenhaften Bildungslücken! Wie würden wir nur in freier Wildbahn überleben. Wahrscheinlich müssten wir uns gegenseitig zerfleischen und runterwürgen, ganz ohne Wildkartoffeln und Wiesenpilze. Aber Tine zuckte nur gelassen mit den Schultern und erklärte, dass wir dann eben einkaufen müssten.

Wir nahmen uns wieder bei der Hand und gingen die schräge Wiese hinab in Richtung Tal, wo ja irgendwo unser Lebensmittelladen an der Unstrut stehen musste. Das allgegenwärtige Grün der Natur wurde nur von einer blauen Schäferhütte aufgelockert, die immer verfallener aussah, je näher sie uns kam. Als sie nur noch ein paar Meter entfernt war, erkannten wir, dass sie nicht einmal ein Dach besaß. Kein Weg war bis hierher getrampelt worden, weder vom Tal aus noch vom Hügel hinunter. Die vier Wände, von denen der Anstrich blätterte, standen wie ein Gerippe zwischen dem Gras und Tine, die neugierig durch das Fensterloch blickte.

„Und, was ist drin?“, fragte ich.

„Das Dach“, berichtete Tine. „Findest du das nicht auch äußerst romantisch?“

Ich sah sie fragend an, aber sie sprudelte schon los. „So eine verfallene Hütte, mitten in der Landschaft. Kein Mensch weit und breit, keine Tür, kein Schloss. Hat sich hier in grauer Vorzeit ein einsamer Schäfer erhängt? Trifft sich hier heimlich ein Liebespaar? Oder ist es ein unscheinbares Räubernest? Da kommen doch gleich Hunderte Geschichten hoch! Kennst du Huckleberry Finn?“

Ich wollte schon weitergehen, da schlug Tine vor, genau hier, vor dieser Kulisse des Verfalls, eine Pause zu machen, um dieses „rustikale Ambiente“, wie sie es nannte, noch ein bisschen auf uns wirken zu lassen. Dafür würde sie sich sogar in das Zeckengras setzen, schwor sie mir hoch und heilig. Ganz ohne Decke und mit richtig viel Elan. Ich hatte nichts dagegen, warum auch nicht? Und eigentlich, musste ich so für mich zugeben, hatte die Hütte wirklich ihren bestimmten Charme. Vielleicht könnten wir ja das nächste Liebespaar sein, das sich hier heimlich zum Schäferstündchen traf …

Aber dann war ich doch der Einzige, der vor der Bruchbude wirklich zu Boden ging, denn Tine hatte die kleinen, roten Punkte in den umliegenden Büschen entdeckt und war mit einem freudig gejauchzten „Himbeeren!“ auf das Gestrüpp losgetanzt, das sie nun wie eine steinzeitliche Sammlerin fleißig abgraste. Vergessen Romantik und Hirtengesang, Liebelei und Heimlichkeit. Mein Mädchen war auf Beutezug und ich durfte Däumchen drehen.

Da zuckte sie plötzlich zusammen und blieb stehen. „Ups!“, sagte sie nur und kam kichernd zu mir zurückgehopst. „Da sind zwei im Gebüsch“, flüsterte sie mir ins Ohr. „Ich glaube, die wollten grade du-weißt-schon-was machen.“

Ich sah abwechselnd Tine und das genannte Grünzeug verwundert an und wusste nicht, ob sie mich da gerade veralberte. Denn da war nichts außer grün. Sie amüsierte sich ganz unverhohlen prächtig über die unklare Situation und anscheinend auch speziell über meinen belämmerten Gesichtsausdruck. „Glaubste nich?“, fragte sie schalkhaft. „Dann geh doch da ma bei die Himbeern.“

Doch das war nicht mehr nötig, denn in diesem Moment kamen tatsächlich zwei Leute aus dem Gebüsch, in geduckter Haltung und zumindest die Frau mit roten Wangen.

„Ihr habt uns ja schön erschreckt!“, meinte der Mann, der vorangegangen war, und grinste sich einen ab. „Gleichfalls“, entgegnete Tine frech. Ich sagte nur: „Mich nicht.“ Der Kerl sah mich verdutzt an und grinste dann schon wieder extrabreit. Tine gab mir einen Klaps. „Lasst mal, das ist ein Studierter. Der erzählt dauernd so komische Sachen.“ Darauf lachten die beiden und erklärten, dass sie ebenfalls studieren würden. Sie, das waren Hannes und Claudia. Sie gehörten zu einer Rudergruppe der Schiller-Universität in Jena, die an der Unstrut zwecks Paddelurlaubs zeltlagerte. Sie studierte interkulturelle Medienwissenschaften und er Sozialpädagogik. Und das alles erfuhren wir in weniger als zwei Minuten und ohne jede Nachfragen. Es war unglaublich! Sie plapperten wie zwei Wasserfälle und das alles nur, um nicht zu dem komischen Zusammentreffen noch ein peinliches Schweigen kommen zu lassen. Ich sah Tines Augenbrauen amüsiert nach oben rutschen – ich wusste genau, was sie in diesem Moment dachte: Ich armes Mädchen allein mit drei Bekloppten von der Uni.

Und bei dem Gedanken schlenderte auch mir ein genüssliches Lächeln über die Lippen.

Auszeit mit Tine

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