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ERSTES KAPITEL

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So. Ein letzter Blick in die Küche, ob der Herd auch aus ist, im Flur noch mal die Liste durchgegangen und dann Tür abschließen und weg.

Im Treppenhaus denke ich noch an das Taschenmesser in der linken Rucksacktasche und frage mich, wofür ich das eigentlich brauchen könnte. Aber dann, den restlichen Weg von der Torausfahrt bis zum Bahnhof, ist nur noch Tine in meinem Kopf. Das würde ihr wohl gefallen, wenn sie das wüsste, denn sie ist gern der „Brennpunkt meiner Aufmerksamkeit“.

Tine ist Kinderkrankenschwester und hätte beinah nicht freibekommen, aber die Stationsschwester hatte Nachsicht, weil wir ja eh nur eine Wochenendbeziehung haben, und da muss es ja schließlich wenigstens einen Sommerurlaub geben! Zwei Wochen haben wir jetzt also, um unser Verhältnis nach allen Regeln der Kosmetik zu pflegen, mehr ist nicht drin. „Da siehst du mal, wie unwichtig deine Geschichte ist, Kindchen“, hat Tine in das Telefon festgestellt, „du kannst ein halbes Jahr Semesterferien machen und keinem fällt es auf. Aber ne Krankenschwester, die fehlt schon, wenn sie ihren Kittel auszieht.“

Am Bahnhof hätte ich wohl noch Blumen kaufen sollen, so ein kleines, handliches Sträußchen für unterwegs, denke ich, aber das fällt mir natürlich erst ein, als mir Tine aus dem Zug entgegenfliegt und ich ihr unbedingt etwas schenken möchte. Da erst merke ich, dass ich ihr in diesem Moment nur mich selbst geben kann, was vielleicht etwas zu wenig sein könnte, besonders um die Waden rum. Aber Tine stört das gar nicht, sie landet um meinen Hals und küsst mich an.

„Na endlich!“, haucht sie mir ins Ohr und fühlt sich ganz warm an meiner Wange an. „Der Zug hierher fährt ooch jedes ma n bissl langsamer.“ Ich möchte mich neben sie auf eine Bank setzen und mich erst einmal freuen, dass sie da ist, aber Tine kann nicht still sitzen. Auch Ruhigsein ist gerade schwer. Sie ist so aufgeregt, dass sie vor Schreck mit Sächseln anfängt. „Wie lange müssmern jetze wartn, Kindchen? Weestes hundertprozentich oder nur so ibbern Daum jepeilt? Un sitzmer ooch am richtchen Gleis, nich dass der Zuch uns hinterm Rückn vorbeirattert.“ Ich küsse ihre Zweifel weg, was nur halb gelingt. „Haste dir das wörklich überlecht mit mir?“, fragt sie nun. „Zwee Wochn haste mich jetz offn Hals, un keene andre weit un breit. Hältste das aus?“ Halt ich! Sie ist doch mein All und Eine. Tine streicht mir die Kinnlade entlang und macht ganz verträumt: „Ach du …“, was ich nicht mehr toppen kann.

Nach einer viertel Stunde, die Tine als halbe Ewigkeit bezeichnet, kommt der Zug. Die schnarchende Stimme im Lautsprecher will, dass wir zurücktreten, bitte. Dann erst dürfen wir einsteigen. Tine möchte am Fenster sitzen, und mir gegenüber wegen Freiraumlassen, oder lieber neben mir zwecks Gemütlichkeit, am besten in Fahrtrichtung, aber welche ist das? Endlich hat sie eine Wahl getroffen und strahlt übers ganze Gesicht. „Nu heb erstma mei Rucksack hoch un dann kommste her und ehelichst deine Pflichten! Willsten Keks?“

„Wo sind die denn?“, will ich wissen.

Tine zieht eine Schnute. „Na im Rucksack, das hättste dir doch denkn könn, Kindchen. Den wirste wo jetz nochema runnerholn müssn.“

Der Zug fährt an und Tine ist damit beschäftigt, sich mir gemütlich zu machen. Erst lehne ich mich an sie, dann wechseln wir, je nach Stimmung. Wir kauen Kekse und trinken Wasser medium, was sie gern hat, weil es natürlich ist und reinigt, von innen. Sagt sie. Erst reden wir von unserem Ferienhaus, das sie noch nicht mal auf Fotos gesehen hat, dann von ihr und auch ein bisschen von mir. Wenn Tine von sich erzählt, kommen dabei viele Krankenschwestern und kleine kranke Kinder vor, was mich immer ein bisschen traurig macht. Kranke Kinder sind viel schlimmer als kranke Erwachsene. Außer wenn es Eltern sind, die sind genauso schlimm.

„Möchtest du mal Kinder, wenn du groß bist?“, fragt mich Tine und diesmal sächselt sie nicht so sehr. Ich liege grad so mollig unter ihrem Arm und träume zum Fenster raus und muss jetzt nachdenken. „Zwei wären nicht schlecht“, sage ich und habe keine Ahnung, wann die kommen wollen. Die liegen da irgendwo hinter der dreißig auf der Lauer.

„Warum nicht vier?“, bohrt Tine nach und stupst mir die Nase viermal an. „Eins sieht so aus wie du, eins wie ich, eins wie wir beide zusammen und eins müssen wir nach meiner Omi nennen.“

Mir gehen die Augenbrauen von alleine hoch. „So viel Zeit haben wir doch gar nicht für so viele Kinder.“ Aber Tine kennt die Lösung schon. „Pass ma off, Kindchen. Ich wees ja nich, wie’s die annern Fraun machen, a’ar ich brauch nur neun Monate pro Stück. Un der Herr Dogdor der Jeschichde wird ja wo jenuch Zeit hamm, um ne kleene Windel zu wechseln oder n Kinnerlied zu summen, meenste nich?“ Und ehe ich etwas sagen kann, antwortet sie schon für mich: „Siehste!“

Dann dauert die Fahrt doch ein bisschen lange und wir fühlen es. Ich sehe Tine zu, die Fingerabdrücke auf die Fensterscheibe macht und mir dabei erklärt, was ich sehe. „Da, guck mal, eine olle Windmühle. Damit haben sie Mehl gemahlen. Früher, als du noch Quark im Schaufenster warst. Und gucke mal da, da hinten, nee, jetzt ist es schon weg. Das war so ein Vogel, du weißt schon, so ein seltener.“

Als ich wach werde, liest Tine Fotos aus so einem Frauenmagazin, in dem dünne und fehlgeschminkte und betrunkene Bekannte vorgestellt werden. Ganz in die Bilder vertieft, krault sie mir meinen Kopf. Ich möchte glatt wieder einschlafen oder wenigstens schnurren, um mich bei ihr zu bedanken, und als ich ihre Finger küsse, schaut sie mich ganz verschlafzimmert an. „Na, da kommt wohl jemand langsam in die Pubertät. Ob ich dich noch unter die Mädels lassen kann, ohne dass es Ärger gibt?“, fragt sie uns besorgt.

Seit wir uns kennen, bin ich ihr Kindchen, und das obwohl ich drei Jahre älter als sie bin. Aber Tine hat nachgerechnet und festgestellt, dass sie die eigentlich Ältere ist. Und zwar wären Frauen eh immer um zwei Jahre voraus. Und in meinem speziellen Fall wäre das sogar noch schlimmer: drei Jahre, mindestens. So genau könne sie sich nicht festlegen, weil ich ziemlich mal so und mal so sei, seit ich im letzten September die Grundschule abgeschlossen hätte. „Das kommt vom Stress, Kindchen“, erklärte sie mir. „Du willst dich unter deinen neuen Klassenkameraden behaupten und da vergisst du dann halt manchmal, dass du schon abwaschen kannst. Aber bis zum Professorschlag hast du das ganz sicher wieder im Griff.“

Als wir aus dem Zug ausstiegen, begrüßte uns ein sehr kleiner Bahnhof. Dahinter erstreckte sich eine Kuhweide, dahinter ein paar rote Ziegeldächer. Das also war Freibach. Und nach ein paar Hundert Metern war’s das auch schon wieder.

„Mensch, Kindchen“, staunte Tine Bauklötze vor das Bahnhofshäuschen, „wie hast du denn das gefunden? Das Örtchen suchen die doch bestimmt schon seit der Völkerwanderung!“

Aber ich hatte alles bestens geplant. Ich kannte das Ferienhaus, die große Überraschung, aus dem Internet und den Weg dorthin aus dem Brief vom Vermieter. Zweieinhalb Kilometer Luftlinie durch den Wald hinter Freibach, immer auf dem Feldweg lang. Nicht zu verfehlen, alles war bis ins letzte Detail durchorganisiert. Nur eins hatte ich vergessen: Tine musste ihren Rucksack bis dorthin tragen.

Durch den Ort trug sie ihn mit Fassung. Sie nahm es positiv. „Jetzt sehen die hier mal, dass auch eine aus der Stadt ordentlich was weghucken kann.“ Auch weiter hinten, wo der Wald anfing, blieb sie gelassen. „Wenigstens ist es hier schön kühl, da brennt mir der Juli keine Streifen auf den Rücken.“ Ihr Lächeln hatte aber mittlerweile schon einen leicht verbissenen Zug und ich fürchtete um mein Leben, als ich ihn bemerkte. Ich hätte ihr vielleicht von der Steigung erzählen sollen, die noch vor uns lag. Als wir so weit waren, fiel Tines Kampfgeist wie befürchtet mit Anlauf bergab. „Sag mal, wo schleppst du mich denn hin? Ich bin doch kein Lama. Was machen wir? Pause oder in fünf Minuten da?“

Ich schlug vorsichtig eine kleine Pause vor. Aber jetzt wollte es Tine genau wissen: Wie lange müssen wir noch das Gepäck für zwei Wochen durch die Pampa schleppen? Frauen mit unbeständiger Laune gegenüber sollte man diplomatisch auftreten, dachte ich mir. Ehrliche Antwort also: Etwas mehr als fünf Minuten dauert’s schon noch. Wie lang genau? Na, so etwa eine halbe Stunde vielleicht, aber vielleicht auch nur zwanzig Minuten noch. Ja, maximal zwanzig Minuten.

Tine rieb sich die Schulter und sah mir direkt in die Augen. „Dann machen wir jetzt keine Pause, Kindchen. Das will ich jetzt hinter mich bringen, aber gnade dir Gott, wenn das länger dauert.“

Zu meinem Glück kamen wir pünktlich bei dem Ferienhaus an, nach irgendwas zwischen vierzig Minuten und einer Stunde.

Auszeit mit Tine

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