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Kapitel 1

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Der Nebel, der in dieser spätherbstlichen Nacht durch die Gassen und Straßen Roms waberte, dämpfte die eiligen Schritte der zwei vermummten Gestalten, welche gerade das Forum überquert und dann den sanft ansteigenden Weg hinauf zum Palatin eingeschlagen hatten.

Schweigend hasteten sie an den düster ragenden Wällen der alten Festung, welche die Kuppe des Palatins krönte, vorbei und näherten sich zielstrebig dem Königspalast, dessen weiß getünchte Mauern geisterhaft durch den Nebel schimmerten.

Vor einer schmalen Tür, die im rückwärtigen Teil des Gebäudes eingelassen war, machten sie schließlich Halt, und einer der beiden Männer klopfte viermal leise gegen das dunkle Holz der Pforte. Nur wenige Augenblicke später öffnete sich die Tür leicht knarzend, und die zwei nächtlichen Besucher schlüpften wortlos ins Innere.

Nachdem sich die Tür hinter ihnen wieder geschlossen hatte, umfing sie eine kühle Dunkelheit, die nur spärlich von dem kleinen flackernden Talglicht erhellt wurde, welches die junge Sklavin, die ihnen geöffnet hatte, in ihren Händen barg und ihre kindlichen Züge schattenhaft aufleuchten ließ.

Der würzige Duft von Kräutern und allerlei Gemüse, in den sich der harzig herbe Geruch gelagerten Weines mischte, stieg ihnen angenehm in die Nase und verriet ihnen, dass sie sich in einem der Vorratsräume in der Nähe der Küche aufhalten mussten.

Mit einer knappen, unterwürfigen Geste bedeutete ihnen nun das Mädchen, ihr zu folgen.

Durch eine weitere Pforte gelangten sie in den Wirtschaftshof des Palastes und folgten der Sklavin entlang der Mauer auf einem grob gepflasterten, halb überdachten Weg, der zu dem rechteckig angelegten, vierflügeligen Haupthaus führte.

Sie betraten es durch eine dem Gesinde vorbehaltene schmale Türe und stahlen sich dann durch die hohen, den inneren Lichthof umgebenden Arkaden zu dem diesem Eingang gegenüberliegenden Teil des Gebäudes, in welchem sich neben den offiziellen Räumlichkeiten auch die Privatgemächer der Königsfamilie befanden.

Der ganze Palast schien in dieser Nacht seltsam verwaist, denn sie waren bisher keiner Menschenseele begegnet. Nirgendwo brannte noch ein Licht, und die schlaftrunkene Stille, die alle Räume durchzog, wurde nur begleitet von dem leise zischenden Singen der verschwelenden Glut in den allerorts aufgestellten Kohlebecken.

Das war insofern ungewöhnlich, da selbst zu dieser mitternächtlichen Zeit im Palast üblicherweise noch ein reges, geschäftiges Treiben zu herrschen pflegte, denn der König liebte es, fast allabendlich mit seinen Gästen bis in den Morgen hinein festliche Gelage abzuhalten und erst mit den ersten Sonnenstrahlen sein Bett aufzusuchen.

Doch der König hatte schon vor einigen Tagen die Stadt mit seinem Gefolge verlassen, um einen neuerlichen Feldzug gegen die wieder einmal unbotmäßig gewordenen Sabiner zu unternehmen, und so nahm es die beiden geheimnisvollen Besucher kaum wunder, dass die solcherart gepeinigte Dienerschaft die Abwesenheit ihres Herren zum willkommenen Anlass nutzte, um endlich einmal frühzeitig schlafen gehen zu können.

Vor einer mit erhaben geschnitzten und vergoldeten Blütenornamenten verzierten Tür, unter der ein warmer Lichtschein hervorschimmerte, blieben sie schließlich stehen.

Die Sklavin öffnete behutsam und ließ die beiden, sich vor ihnen verneigend, eintreten.

Der Boden des nicht allzu großen, etwa zwei Mann hohen Zimmers war mit polierten, moosgrün geäderten Marmorfliesen ausgelegt, welche mit den pastellrot getünchten Wänden harmonisch kontrastierten. Über den drei üppig rot gepolsterten Liegen, die in der Mitte des Raumes einen kleinen runden Steintisch umstanden, hing an einer schweren Kette ein mächtiger diskusförmiger Bronzeleuchter, auf dessen oberer Hälfte acht löwenartige Fabelwesen im Kreis hockten. Zwischen ihren gefletschten Kiefern traten wie Zungen die brennenden Dochte hervor, sodass der Eindruck erweckt wurde, als ob sie Feuer speien würden.

Die beiden Männer hatten gerade die Kapuzen ihrer Mäntel zurückgeschlagen, als der rote, goldbestickte Vorhang, der vor dem Durchgang zum benachbarten Gemach hing, zurückgeschoben wurde.

In würdevoller Haltung schritt eine schlanke, ganz in Schwarz gekleidete Frau herein, die wohl zwischen fünfzig und sechzig Jahre alt sein mochte. Ihr langes, über der Stirn streng gescheiteltes silbergraues Haar hatte sie zu vier dünnen Zöpfen geflochten, die ihr hinter den Ohren über den Nacken bis zu ihren Hüften fielen.

Für einen Moment ließ sie ihre eisblauen Augen prüfend auf ihren Gästen ruhen, die sich bei ihrem Erscheinen respektvoll vor ihr verneigten, dann entspannten sich die gramgefurchten Züge ihres bleichen Gesichtes, welches aber dennoch den Stolz ihrer einstigen Schönheit erahnen ließ.

»Es erfüllt mein Herz mit unsagbarer Freude, dich, Aulus Cassius, mein alter, treuer Freund, nach so langer Zeit wieder sehen zu dürfen!«, begrüßte sie den älteren der beiden Männer warmherzig und mit brüchiger Stimme. »Wenn ich mir auch einen glücklicheren Anlass dafür gewünscht hätte!«, fügte sie, wie zu sich selbst, seufzend hinzu.

»Aber legt euch doch nieder und schenkt euch von dem Wein ein!«, fuhr sie dann beflissen weiter fort. »Und sage mir vor allem, Aulus, wer der junge Mann ist, der dich hierher begleitet hat. Seine Züge erscheinen mir auf eine gewisse Weise seltsam vertraut und rufen eine schmerzliche Erinnerung in mir wach, wiewohl ich ihn doch, wie ich meine, noch nie zuvor gesehen habe.«

Nachdem sie es sich auf den Liegen bequem gemacht hatten, wartete Aulus Cassius ab, bis sein Begleiter, der als Jüngster in der Runde mit höflicher Selbstverständlichkeit das Amt des Mundschenks übernahm, die silbernen Trinkschalen mit dem erwärmten Gewürzwein gefüllt hatte.

»Ich möchte dir zunächst danken, dass du uns zu dieser widrigen Zeit empfangen hast, Herrin«, sagte er schließlich. »Während der zwei Jahre, die seit unserer letzten Begegnung vergangen sind, habe ich immer wieder um ein Zusammentreffen mit dir ersucht, doch der König, dein Sohn, hat stets neue Gründe gefunden, die dies verhinderten. Schließlich verbot er mir, wie auch den anderen Ratsmitgliedern, die einen ähnlichen Wunsch geäußert hatten, letztlich sogar unter Androhung der Todesstrafe, dich aufzusuchen oder sonst irgendwie mit dir in Kontakt zu treten. Er rechtfertigte dies, indem er uns vor dem Senat mit Tränen in den Augen erklärte, dass sich dein Geist nach der Ermordung deines Mannes zunehmend umnachtet hätte und du ihm in deinem Wahn die Schuld daran geben würdest. Er hätte außerdem, so teilte er uns mit, erschütternde Beweise dafür, dass du ihn vom Thron stürzen wolltest und ihm sogar nach dem Leben trachten würdest. Aus diesem Grunde sähe er sich leider gezwungen, einen jeden, der sich mit dir in Verbindung setzen würde, als potenziellen Verschwörer abzuurteilen und hinrichten zu lassen. Viele aus dem Senat, zumeist die Jüngeren, gaben sich damit zufrieden, zumal der König es verstanden hatte, deren anfängliche Zweifel mit großzügigen Geschenken zu zerstreuen. Aber es blieben dennoch etliche, die seiner Geschichte keinen Glauben schenken wollten und auch seinen Bestechungsversuchen gegenüber standhaft blieben, und einige von ihnen scheuten sich auch nicht, ihre missbilligende Abscheu über das frevelhafte Verhalten deines Sohnes in aller Öffentlichkeit kundzutun. Das wurde ihnen zum Verhängnis, denn der König zögerte nicht, seine blutige Drohung wahr zu machen. Die meisten von denen, die es gewagt hatten, ihre Stimme gegen ihn zu erheben, ließ er, wie du ja vielleicht weißt, als Hochverräter ans Kreuz schlagen oder, wenn sie ein zu großes Ansehen im Volk genossen, um ihnen öffentlich den Prozess zu machen, durch gedungene Mörderhand hinterrücks beseitigen. Dabei machte seine rasende Wut auch nicht vor den Familien seiner Opfer Halt. Deren Besitztümer wurden eingezogen und sie selbst entweder aus der Stadt verbannt oder ebenfalls ermordet. Auch die Familie dieses jungen Mannes hier wurde ausgelöscht, und nur weil er sich zum Zeitpunkt des Verbrechens in Velcal aufgehalten hatte, entging er als Einziger den Häschern deines Sohnes. Deine Ahnung hat dich nicht getrogen, denn dieser Unglückliche ist niemand anderes als Marce Camitlnas, der jüngste Sohn des Tite Camitlnas, welcher einst wie ich zu den engsten Vertrauten deines Mannes gehörte.«

Mit zunächst ungläubiger Fassungslosigkeit war die Frau dem emotionslos vorgetragenen Bericht ihres alten Freundes gefolgt, und als er geendet hatte, ließ sie ihre Blicke eine Weile voller Entsetzen zwischen den beiden Männern hin und her wandern.

Ihre Gedanken schweiften in die Vergangenheit.

Vor nunmehr neun Jahren war ihr über alles geliebter Mann, der vom Volk so verehrte König Tarchunies, den die Ulthese liebevoll Tarquinius Priscus genannt hatten, von den Söhnen seines väterlichen Vorgängers Ancus Marcius ermordet worden, da diese sich um ihr Erbe betrogen dachten. Unter ihrer umsichtigen Regentschaft, die sie sogleich mit der Unterstützung des Senats übernommen hatte, konnte der darauf drohende Bürgerkrieg vermieden und die Verschwörer ihrer gerechten Strafe zugeführt werden.

Als ihr erstgeborener Sohn Cnaeve Tarchunies bald darauf volljährig geworden war, wurde er vom Senat und vom Volke Roms einstimmig zum König gewählt, da man darauf vertraut hatte, dass er die segensreiche Herrschaft seines Vaters, die dieser über fast zwei Jahrzehnte ausgeübt hatte, fortführen würde.

Anders als in den Gemeinwesen des im Norden gelegenen Städtebundes der Rasna, die ausschließlich von den Angehörigen dieses Volkes, das sich in Sprache und Kultur deutlich von der übrigen Bevölkerung dieses Landes unterschied, bewohnt wurden, lebten hier in Rom seit den Tagen des Ancus Marcius sowohl Rasna als auch Menschen aus anderen italienischen Stämmen, wie Latiner, Umbrer und Falisker, friedlich miteinander.

Anfangs war Rom ein unwirtlicher, von fieberverseuchten Sümpfen umgebener Ort gewesen, zu welchem es alle diejenigen zog, die wegen begangener Straftaten aus ihrer Heimat geflohen oder aus anderen schwerwiegenden Gründen von dort vertrieben worden waren. Auch für sie selbst und ihren Mann hatte es das Schicksal seinerzeit bestimmt, hier Zuflucht nehmen zu müssen. Tarchunies entstammte der uralten Familie der Tarchna, deren Ahnherr einst die erste große Stadt der Rasna, Tarchnal, gegründet hatte und die bis heute von dessen Nachkommen beherrscht wurde. Sie wiederum war ein Spross der nicht minder edlen Familie der Spuriana, welche in Chaisrie ansässig war. Die beiden Familien fochten seit über einer Generation eine heillose Blutfehde miteinander aus, da ihr Vater damals die Ermordung von Tarchunies’ Vater, des Lukomonen von Tarchnal, veranlasst hatte. Nachdem sie und Tarchunies sich nach langen, leidvollen Irrungen und Wirrungen endlich ihre gegenseitige Liebe gestehen konnten, wurde sie von ihrer Familie verstoßen und fand kurzfristig Aufnahme im Hause der Tarchna. Doch auch hier war dem jungen Paar kein langfristiger Frieden gewährt worden, denn nach einem neuerlichen blutigen Anschlag der Spuriana gegen Tarchnal war der Hass der Bevölkerung gegen sie so erbittert geworden, dass ihr Schwager, der seinem Vater im Amt nachgefolgt war, den beiden Liebenden geraten hatte, die Stadt bei Nacht und Nebel zu verlassen, da er für ihre Sicherheit nicht länger zu bürgen vermochte.

So waren sie schließlich nach Rom gekommen, und dank der Reichtümer, die ihnen Tarchunies Bruder mitgegeben hatte, war es ihnen nicht schwer gefallen, dort Fuß zu fassen und ein annehmbares Leben zu führen. Doch es gab zu jener Zeit nur sehr wenige Menschen in Rom, zumeist Rasna, die in Wohlstand leben durften. Die meisten waren arm und lebten von der Hand in den Mund, da es wegen der ausgedehnten Sumpfgebiete um die Stadt herum kaum bebaubares Ackerland gab. Hinzu kamen lebensbedrohende Fieberepidemien, welche von den Mückenschwärmen verursacht wurden, die sich alljährlich aus den Sümpfen erhoben. Dieses unsägliche Leid vor Augen, waren Tarchunies und sie schnell übereingekommen, die Not der Bevölkerung, so gut es eben ging, zu lindern, indem sie mit ihrem Gold Nahrungsmittel kauften, die sie dann unentgeltlich an die Bedürftigen verteilen ließen. Dieses uneigennützige Handeln bescherte ihnen bei den Leuten nicht nur rasch ein hohes Ansehen, sondern erregte auch mit der Zeit die wohlwollende Aufmerksamkeit des Königs Ancus Marcius, der ihnen bald nicht nur seine freundschaftliche Zuneigung angedeihen ließ, sondern Tarchunies obendrein noch zu seinem engsten Ratgeber berief.

Geehrt und angespornt von dem rückhaltlosen Vertrauen, das der König mit der Verleihung dieser hohen Würde in ihn gesetzt hatte, hatte sich Tarchunies tatkräftig an das ehrgeizige Vorhaben gemacht, die Sümpfe trockenzulegen, um fruchtbares Ackerland zu gewinnen und die Seuchengefahr einzudämmen. Da es Rom zu diesem Zeitpunkt an den dafür notwendigen Mitteln mangelte, um dieses Projekt bezahlen zu können, hatte sich Tarchunies kurzerhand entschlossen, für dessen Verwirklichung den größten Teil seines Privatvermögens zur Verfügung zu stellen.

Doch noch vor der Vollendung des gewaltigen Abwasserkanalsystems, das von den Ulthese Cloaca Maxima genannt wurde und dessen Bau sich über fast zehn Jahre hinzog, verstarb Ancus Marcius. Er hinterließ zwei Söhne, welche aber beim Tod ihres Vaters noch unmündig gewesen waren, sodass sich Tarchunies zunächst dafür anbot, die Regentschaft bis zur Volljährigkeit der Knaben zu übernehmen. Aber auf Drängen des Senats, dessen Mehrheit von Rasnastämmigen gebildet wurde, entschied er sich schließlich dafür, sich selbst für das höchste Amt zur Verfügung zu stellen, und wurde dann auch vom Volk, das seine unschätzbaren Verdienste um das Allgemeinwohl zu würdigen wusste, zum König von Rom gewählt. Tarchunies war der erste Rasna auf dem Throne Roms, doch wenn auch überall sonst im Land die Rasna mit arroganter Geringschätzung auf die Ulthese herabblickten, führte er das Werk des Ancus Marcius fort, der damit begonnen hatte, die beiden so unterschiedlichen Volksgruppen, die in Rom heimisch geworden waren, einander näher zu bringen und sie zu einen.

Sie erinnerte sich an ein Gespräch, das sie und Tarchunies einst im Hause des Ancus Marcius mit dem König geführt hatten. »Die Menschen, die in diese Stadt gekommen sind – und noch kommen werden«, hatte der weise alte Mann gesagt, »müssen verstehen lernen, dass ihre Herkunft und selbst ihr Ansehen, das sie vielleicht vordem genossen hatten, hier nicht mehr zählen. Sie sind in Wahrheit doch ohne Ausnahme nichts weiter als Vertriebene oder Nachkommen von Vertriebenen, die sich zu diesem, von den Göttern vergessenen Ort geflüchtet haben, um wenigstens ihr wodurch auch immer zerstörtes Leben zu retten. Rom ist die Hoffnung der Hoffnungslosen geworden, der Zukunftstraum all derer, die anderswo keine Zukunft mehr haben. Ganz gleich, ob er früher ein Fürst oder einfach nur ein von seinem Land verjagter Bauer gewesen war, ein jeder muss hier von vorne anfangen und nach Kräften dazu beitragen, dass dieser Traum Wirklichkeit wird. Und wenn dieses Ziel dereinst erreicht und Rom zu einem unabhängigen, wehrhaften und wirtschaftlich starken Gemeinwesen erblüht sein wird, dann wird sich keiner mehr daran erinnern wollen, dass seine Vorfahren Rasna, Sabiner, Falisker oder Umbrer gewesen waren, sondern sie werden sich mit Stolz ›Römer‹ nennen!«

Tarchunies hatte genau in diesem Sinne regiert, weshalb er von der Bevölkerung schon zu seinen Lebzeiten ob seiner Weisheit und Gerechtigkeit in liebender Ehrfurcht gerühmt wurde. Dann wurde er ermordet, und sein erstgeborener Sohn, Cnaeve Tarchunies, folgte ihm auf den Thron.

Die ersten Jahre seiner Regierung hatten sehr vielversprechend begonnen, denn alles, was er unternahm, hatte darauf hingedeutet, dass er gewillt war, dem Vorbild seines Vaters gerecht zu werden. Gern ließ er sich dabei anfänglich von ihr, seiner Mutter, als auch von Männern wie Aulus Cassius, die seinem Vater schon treu zur Seite gestanden hatten, beraten.

Dann aber, vor etwa fünf Jahren, kurz nachdem er sich mit Murui Arcmsnai, der Tochter des Lukomonen von Sveanna, Rutile Arcmsnas, vermählt hatte, begann sich seine Persönlichkeit auf eine erschreckende Art und Weise zu verändern. In zunehmendem Maße entzog er sich sowohl ihrem Einfluss als auch dem seiner bisherigen alten, erfahrenen Ratgeber aus dem Senat und umgab sich stattdessen mit gleichaltrigen Männern, welche ausnahmslos dem Adel der Rasna angehörten und zum Teil noch nicht einmal aus Rom stammten. So hatte er seinen Schwager Pesna Arcmsnas aus Sveanna schon kurz nach der Hochzeit nach Rom gerufen und mit dem Amt des obersten Richters betraut, nachdem er Aulus Cassius kurzerhand daraus entfernt hatte. Mit Pesna war dessen Freund Laris Papathnas aus Velznal gekommen, dem die Gunst des Königs dann auch den Oberbefehl über das Heer beschert hatte.

Recht schnell war ihr damals bewusst geworden, wer in Wirklichkeit für diese zunächst unverständliche Handlungsweise ihres Sohnes verantwortlich war, nämlich dessen Frau Murui und sein Jugendfreund Venthi Caules.

Murui hatte nie einen Hehl aus ihrer Verachtung gemacht, die sie aus tiefstem Herzen gegen die Ulthese hegte, und auch Venthi Caules, dessen Familie kurz nach der Fertigstellung der Cloaca Maxima von Tarchnal nach Rom übergesiedelt war, war, wie übrigens auch viele andere jüngere Rasna in dieser Stadt, dafür bekannt, dass er die Ulthese nur als lästiges Ungeziefer betrachtete.

Diesen Menschen gehörte also nun die Macht in Rom – und das Ohr des Königs.

Geschickt hatten sie es verstanden, den König von ihren Ansichten zu überzeugen, indem sie ihm bei jeder Gelegenheit vor Augen führten, dass es Ulthese gewesen waren, die seinen Vater ermordet hätten. Sie redeten ihm ein, dass Rom im Grunde eine Stadt der Rasna sei und die Ulthese deshalb auf Dauer kein Bleiberecht mehr hätten.

Also erließ der König ein Gesetz, wonach es den Ulthese verwehrt wurde, ein öffentliches Amt in Rom zu bekleiden. Außerdem verfügte er, dass alle Senatoren, die keine Rasnastämmigen waren, ihre Sitze im Senat zu räumen hatten, und ersetzte sie nach und nach mit ihm willfährigen Günstlingen. Diese Maßnahme löste natürlich Unruhe in der Bevölkerung aus, und viele, darunter auch angesehene Rasna, empörten sich offen gegen den König.

Doch dieser hatte inzwischen auf Anraten Laris Papathnas’ eine schlagkräftige Armee aufgestellt, die aus Söldnern bestand, welche im Norden in den Städten der Rasna angeworben worden waren. Mit dieser Truppe erstickte er den drohenden Aufstand im Keime und ließ alle diejenigen, die sich ihm in Wort oder Tat widersetzten, als Verräter verfolgen und hinrichten.

Als sie es dann in dieser Zeit wagte, ihrem Sohn wegen seiner brutalen Vorgehensweise Vorwürfe zu machen, bezichtigte er auch sie als Verräterin, weil sie, wie er in seinem Wahn glaubte, mit den Mördern ihres Mannes – seines Vaters – gemeinsame Sache machte und sich mit ihnen gegen sie verschworen hätte. Nach dieser fürchterlichen Auseinandersetzung mied er sie von da an und hielt sie in den Mauern des Palastes wie eine Gefangene. Sie durfte ihre Gemächer nicht mehr verlassen, und die wenigen Sklavinnen, die er ihr belassen hatte, um ihr aufzuwarten, waren alle stumm.

Aber diese Mädchen waren ihr allesamt treu ergeben, und obgleich der König alles tat, um seine Mutter von der Außenwelt abzuschirmen, gelang es ihnen doch hin und wieder, ihr Botschaften zukommen zu lassen, die ihnen von den wenigen alten, treuen Freunden, die ihr noch geblieben waren, heimlich zugesteckt wurden.

So geschah es auch am vergangenen Abend, als sie überraschend die kleine Wachstafel mit der Nachricht des Aulus Cassius erhalten hatte, dass er sie in allernächster Zeit wegen einer äußerst dringlichen Angelegenheit aufzusuchen gedachte. Zunächst hatte sie dieses wagemutige Ansinnen erschreckt und gleichermaßen auch verunsichert, denn im ersten Moment hatte sie befürchtet, dass es sich um eine Falle handeln könnte, die ihr Murui in ihrer Arglist gestellt hatte, um so dem König endlich einen Beweis liefern zu können, dass seine Mutter hinter seinem Rücken insgeheim konspirative Kontakte pflegte.

Von Anfang an hatte Murui sie ihre geradezu hasserfüllte Ablehnung spüren lassen, die sie für ihre Schwiegermutter empfand, da sie in ihrer maßlosen Eifersucht das innige und harmonische Verhältnis, welches ihr Mann mit seiner Mutter bis dahin verbunden hatte, nicht ertragen konnte. Seit Murui im Palast lebte, hatte sie mit ihrer intriganten Art nichts unversucht gelassen, sich den König ergeben zu machen und ihn gegen seine Mutter aufzuhetzen, was ihr letztendlich – nachdem sie ihm zwei Söhne geboren hatte – auch nachhaltig gelungen war.

Wenn diese Nachricht des Cassius also wirklich das böse Werk Muruis gewesen wäre und sie dem Treffen daraufhin zugestimmt hätte, dann wäre ihr Schicksal und das des Cassius besiegelt gewesen, denn Tarchunies hätte nicht gezögert, sie beide dem Henker zu überantworten. Aber die Sklavin hatte ihr mit ihrer Zeichensprache unmissverständlich deutlich machen können, dass es tatsächlich Cassius gewesen war, der ihr, während sie auf dem Markt ihre Einkäufe tätigte, die Tafel zugesteckt und gebeten hatte, ihm am nächsten Tag an gleicher Stelle eine Rückantwort zu übergeben.

Der Zeitpunkt war günstig, denn der König würde ja so schnell nicht von seinem Feldzug zurückkehren, also hatte sie Cassius kurz geschrieben, dass er sich heute um Mitternacht an der Gesindepforte des Palastes einfinden sollte. Um sicherzustellen, dass der nächtliche Besuch unbemerkt blieb, hatte sie ihre Sklavinnen angewiesen, sowohl den wenigen Wachen, die noch im Palast verblieben waren, als auch Murui heimlich eine genügende Menge Schlafmittel in den Wein zu mischen, der ihnen zum Abendessen gereicht werden sollte. Ganz offensichtlich waren diese Vorsichtsmaßnahmen von Erfolg gekrönt gewesen, denn die beiden Männer hatten unbehelligt zu ihr vordringen können.

Voll mitleidiger Anteilnahme betrachtete sie nun den jungen Marce Camitlnas, der seinen Blick ebenfalls aufmerksam an ihr haften ließ. Er mochte das gleiche Alter wie ihr Sohn haben und war auch von ähnlich kräftiger Statur, doch wirkte er sehr viel ernster und vielleicht durch das ihm zugefügte Leid gereifter als der König.

Blauschwarz glänzende Locken, die ihm lang über die Schulter fielen, und ein dichter Vollbart um seine schwellenden Lippen umrahmten die scharfen Züge des kantigen Gesichtes, welches ihm aufgrund seiner großen dunklen Augen und der schmalen, leicht gebogenen Nase einen träumerischen Ausdruck verlieh.

»Ich kannte deinen Vater und deine Mutter, Marce«, sprach sie ihn warmherzig an. »Wenn auch in anderen, besseren Zeiten. Jetzt sehe ich den Sohn, und mein Herz verkrampft sich in Scham und Schmerz über das grausame Unrecht, das die Frucht meines Leibes dir und den Deinen angetan hat. Ich kann und will von dir nicht verlangen, dass du ihm das je vergibst oder gar vergisst, aber vielleicht könntest du mir deine Vergebung zuteil werden lassen.«

Marce sah sie darauf verwundert an.

»Ich wüsste nichts, was ich dir zu vergeben hätte, Herrin!«, sagte er sanft. »An all den unsäglichen Gräueltaten, die in den vergangenen Jahren auf Geheiß deines Sohnes verübt worden sind, hast du doch keinen Anteil gehabt. Im Gegenteil bist auch du zu seinem Opfer geworden, da er sich immerhin dazu verstiegen hat, selbst seine eigene Mutter mit dem Tode zu bedrohen und sie, die einmal die stolze Königin Roms gewesen war, hier unter erbarmungswürdigen Bedingungen gefangen zu halten. In dem Maße, wie ich, wie wir alle, die wir seine blutige Hand zu spüren bekommen hatten, den König hassen und verabscheuen, so lieben und verehren wir dich, denn niemand in Rom, ob Rasna oder Ulthese, hat je vergessen, wie sehr sich vordem dein Mann und du an seiner Seite für das Wohlergehen aller Bewohner dieser Stadt verdient gemacht habt. Deshalb bin ich dem Ruf des Aulus Cassius gefolgt und habe mich trotz der Lebensgefahr, in der ich hier schwebe, nach Rom aufgemacht, um dir meine Hilfe und meine Dienste anzubieten, denn du bist die einzige Hoffnung, die uns noch geblieben ist.«

Während er dies sagte, hatten sich ihre Augen mit Tränen gefüllt, denn seine versöhnlichen Worte hatten die eisige Kruste, die sich in all den dunklen Jahren nach der Ermordung ihres Mannes um ihr Herz gebildet hatte, zum Schmelzen gebracht.

»Ich … ich weiß nicht, was ich sagen soll«, wisperte sie mühsam beherrscht. »Niemals hätte ich so viel Großmut und Selbstlosigkeit von einem Mann erwartet, der durch die Hand meines Sohnes alles verloren hat, was ihm lieb und teuer war. Ich danke dir dafür, denn es schenkt meiner Seele ein wenig Frieden. Aber«, fuhr sie weiter fort, »was führt euch nun zu mir? Ihr habt doch diese Gefahren nicht nur auf euch genommen, um einer alten Frau einen freundlichen Besuch abzustatten?«

»Das allein wäre nach so langer Zeit allerdings schon Grund genug, meine liebe Freundin!«, schmeichelte ihr Aulus Cassius galant. »Aber in der Tat ist die Angelegenheit, wegen der wir heute zu dir gekommen sind, für alle Beteiligte von so hoher Bedeutung, dass es allemal wert war, sogar unser Leben dafür einzusetzen.«

Er hielt inne, um von seinem Wein zu trinken, während sie ihn verwirrt anstarrte. Dann setzte er die Schale wieder ab und kratzte sich gedankenverloren den Ansatz seines spärlichen weißen Haarkranzes hinter dem rechten Ohr.

Aulus war fünfzehn Jahre älter als sie, und auch seinem hageren, von vielen Falten durchfurchten Gesicht war es anzusehen, wie hart das Leben und die Bürde seiner Ämter ihn geprüft hatten. Die schmalen grauen Augen mit den buschigen weißen Brauen unter der hohen Stirn sowie die sichelförmige Nase, die sich kühn über die farblosen, dünnen Lippen seines bartlosen Mundes schwang, erinnerten an das Profil eines Raubvogels.

»Es geht um die Zukunft Roms«, kam er dann ohne Umschweife zur Sache. »Das Volk will sich nicht länger der Willkürherrschaft seines Königs beugen, dem es allem Anschein nach nur darum geht, Rom seine mühsam errungene Eigenständigkeit zu rauben und es dem Städtebund der Rasna anzugliedern. Um dieses zweifelhafte Ziel zu erreichen, versucht er schon seit geraumer Zeit alle, in deren Adern kein Rasnablut fließt, aus der Stadt zu treiben, indem er sie rücksichtslos unterdrückt und entrechtet. Dabei ist es ihm gleichgültig, dass es Menschen aus unseren Stämmen waren, die sich, lange bevor die Rasna hierher kamen, an diesem Ort angesiedelt haben. Aber der König und auch die Rasna Roms, die jetzt seine Ziele mitverfolgen, scheinen offenbar vergessen zu haben, dass ihre Vorfahren, genau wie die unseren, ursprünglich ihre Heimatstädte haben verlassen müssen, da sie von dort ebenfalls schimpflich vertrieben worden sind.

Wir aber, gemeinsam mit den Rasna, die das nichtvergessen haben, wollen unsere Freiheit, die Rom uns allen bietet, nicht verlieren, und deshalb werden wir uns gegen den König erheben und ihn und die Seinen notfalls mit Gewalt entmachten. Aber dafür brauchen wir vor allem deine Hilfe, denn obwohl der König dein Sohn ist und er dabei vielleicht sein Leben verlieren könnte, nehme ich nicht an, dass du dich unserem Vorhaben entgegenstellen willst, nach allem, was du selbst durch ihn hast erleiden müssen.«

Nachdem er geendet hatte, schwieg sie zunächst, schloss die Augen und versuchte fieberhaft, ihrer rasenden Gedankenflut Herr zu werden.

Wiewohl sie doch schon über die ganze Zeit hinweg geahnt und auch befürchtet hatte, dass es einmal dazu kommen musste, erschien es ihr nun, da es offensichtlich so weit war, mit einem Male ungeheuerlich. Natürlich schmerzte es sie als Mutter, dass ihr Sohn so verhasst war und bei diesem Aufstand womöglich den Tod finden würde, doch als Königin, als die sie ehemals an der Seite ihres Mannes über diese Stadt regiert hatte, erkannte sie ganz klar, dass es unter diesen Umständen keine andere Möglichkeit gab, um den Frieden und die Freiheit Roms dauerhaft zu erhalten. Für sie bedeutete es nur einen schwachen Trost, sich einzugestehen, dass der menschenverachtende Unhold auf dem Thron auch so gar nichts mehr gemein hatte mit dem klugen und empfindsamen Cnaeve Tarchunies, der ihr einst ein liebender Sohn gewesen war. Er hatte sich in den vergangenen Jahren schamlos an Recht und Gesetz vergangen und so viel Blutschuld auf sich geladen, dass selbst sein Tod es nicht würde sühnen können. Nein, er und seine Geschöpfe hatten das Leben hundertfach verwirkt, und schon aus diesem Grunde würde sie sich den Plänen der Aufständischen nicht entgegenstellen.

»Wie kann ich euch nur von Nutzen sein, die ich doch in diesen streng bewachten Mauern eingeschlossen bin?«, fragte sie schließlich unsicher die beiden Männer, die erwartungsvoll ihrer Antwort harrten.

»Nun, so dicht sind diese Mauern auch wieder nicht, sonst wären wir ja wohl nicht hier!«, entgegnete Aulus Cassius mit einem sarkastischen Lächeln. »Aber es ist nur eine Sache, wenn auch die entscheidenste, derentwegen wir deine Hilfe benötigen, und dies kannst du hier und jetzt tätigen. Was dann weiter geschieht, bedarf deines Zutuns nicht mehr, denn es ist für uns von außerordentlicher Bedeutung, dass der König auch nicht den Hauch eines Verdachtes gegen dich hegt, während wir seinen Sturz vorbereiten.«

Ihre Augenlider verengten sich.

»Sage mir also, was ihr von mir verlangt. Ich bin bereit.«

»Sehr schön!«, erwiderte Cassius, und die Erleichterung war ihm sichtlich anzumerken. »Wir haben, wie du dir denken kannst, selbstverständlich darüber nachgedacht, wer, sollte unser Vorhaben gelingen, der neue König Roms sein soll. Und wir haben, was das betrifft, auch schon eine Entscheidung getroffen.«

Ihre Spannung war ins Unermessliche gewachsen, und Frostschauer durchfuhren ihren Körper.

»Und … und wen habt ihr euch erwählt?«, kam es rau über ihre spröde gewordenen Lippen, auf denen sie, um sie zu befeuchten, nervös ihre Zunge spielen ließ.

»Wir hatten an den erstgeborenen Sohn deines Mannes gedacht, denn, wie wir erfahren haben, trägt er alle Tugenden in sich, die das Wesen des Tarquinius Priscus ausgemacht haben.«

»Aber … ich verstehe nicht … Cnaeve Tarchunies, den ihr stürzen wollt, ist doch unser Erstgeborener … und einen anderen Sohn habe ich nicht geboren!«, stammelte sie verständnislos.

Aulus Cassius schüttelte bedächtig den Kopf.

»Cnaeve ist dein Erstgeborener, nicht aber der deines Mannes, wenn ich dich erinnern darf.«

Sie war innerlich zu sehr aufgewühlt, um sogleich zu begreifen, was sich hinter seiner dunklen Andeutung verbarg, doch dann dämmerte es ihr allmählich, auf wen er damit anspielte.

Es lag schon eine lange Zeit zurück, noch bevor sie und Tarchunies ein Paar geworden waren, da fügte es sich, dass Tarchunies während einer abendlichen Gesellschaft im Hause seines Vaters, der damals der Lukomone von Tarchnal gewesen war, die Bekanntschaft einer berückend schönen Frau gemacht hatte, die aber nicht nur um einige Jahre älter war als er, sondern dazu auch verheiratet.

Wie dem auch gewesen sein mochte, jedenfalls entspross aus diesem flüchtigen Vergnügen jener Nacht ein Sohn, was Tarchunies – und mit ihm auch sie – allerdings erst sehr viel später, als Tarchunies schon König von Rom war, erfahren hatten. Die Mutter dieses Knaben hatte sich nämlich, nachdem ihr Mann gestorben war, dazu entschlossen, sie beide in Rom aufzusuchen, um ihrem Sohn seinen leiblichen Vater vorzustellen.

Sie konnte sich noch gut daran erinnern, wie überrascht und auch ein wenig peinlich berührt Tarchunies gewesen war, als ihm bewusst wurde, dass er nebst seinem Sohn Cnaeve Tarchunies und seiner Tochter Ravnthu noch einen Sohn bekommen hatte, der auf den Namen Cilnie Macstrna hörte. Aber im Laufe des halben Jahres, das Cilnie und seine Mutter Larthi bei ihnen verbracht hatten, stellte es sich rasch heraus, dass Tarchunies zu Recht stolz auf Cilnie sein konnte, denn er erwies sich für sein Alter als ausgesprochen gebildet und weitsichtig, was ihm aber auch die eifersüchtige Missgunst Cnaeves einbrachte, der sich ihm gegenüber benachteiligt fühlte. Danach waren Larthi und Cilnie zu ihren Verwandten in Velcal gezogen, und seither hatte sie ihn nicht mehr wieder sehen können. Das Letzte, was sie über ihn gehört hatte – es mochte drei Jahre her gewesen sein –, war, dass er von Avle Vipinas, dem Lukomonen von Velcal, zum obersten Heerführer ernannt worden war.

Sie fuhr sich mit der Rechten übers Gesicht, wie um ihre Erinnerung zu verscheuchen und in die Gegenwart zurückzukehren.

»Cilnie Macstrna also«, murmelte sie und nickte dabei zustimmend. »Eure Wahl ist weise. Doch weiß ich deswegen immer noch nicht, weshalb ihr meiner Hilfe bedürft …«

»Es ist so«, begann Cassius umständlich zu erklären. »Der König hat mit seinen aggressiven Feldzügen, die er während der letzten Jahren bis an die Grenzen des Städtebundes der Rasna vorgetrieben hat, das argwöhnische Missfallen der dortigen Machthaber erregt. Die Lukomonen fühlen sich durch dieses Verhalten zunehmend bedroht und befürchten, dass er auch vor Übergriffen auf ihre Gebiete bald nicht mehr zurückschrecken wird. Gerade Velcal hat deswegen in letzter Zeit eine äußerst feindselige Haltung Rom gegenüber eingenommen. Wenn ich also in dieser Situation eine Botschaft an den Hof des Avle Vipinas senden würde, in der wir ihm mitteilen, dass wir einen Aufstand gegen unseren König planen und deshalb darum ersuchen, uns Cilnie Macstrna zu schicken, damit wir ihn nach dem erfolgreichen Gelingen unseres Vorhabens als rechtmäßigen Sohn des Tarchunies zum König krönen können, dann würde man dem dort aller Wahrscheinlichkeit nach keinen Glauben schenken wollen.«

»Ja, aber warum denn nicht?«, unterbrach sie ihn entgeistert.

»Nun«, setzte Cassius ihr geduldig auseinander, »es könnte Vipinas durchaus so erscheinen, als würde die Nachricht von deinem Sohn stammen, der dann, sollte Vipinas darauf eingehen und Macstrna wirklich hier erscheinen, einen willkommenen Vorwand hätte, Velcal zum einen den Krieg zu erklären, indem er das Volk glauben machen würde, Vipinas hätte sich auf provozierende Weise in die inneren Angelegenheiten Roms gemischt, und zum anderen könnte er sich so ganz nebenbei auch noch seines verhassten Halbbruders entledigen, den er ja, wie wir beide wissen, von jeher als Rivalen angesehen hat.«

»Wenn aber Marce Camitlnas, der immerhin das Vertrauen Avle Vipinas genießt, deine Botschaft überbringt«, insistierte sie atemlos, »dann wäre das doch der beste Beweis, dass sie tatsächlich von dir stammt.«

»So betrachtet, schon«, stimmte er ihr zu. »Nur gibt es zwei gravierende Gründe, die dagegen sprechen, dass ich meinen Namen unter die Botschaft setze.«

»Die da wären?«, erkundigte sie sich konsterniert.

»Sagen wir es mal so«, räusperte er sich gedehnt. »Obwohl ich das Haupt der Verschwörung bin, hat der König seltsamerweise noch keinen Verdacht gegen mich gehegt, und …«

»Das ist mir im Übrigen auch ziemlich sonderbar vorgekommen«, fiel sie ihm hastig ins Wort. »Schon die ganze Zeit habe ich darüber gerätselt, wieso man dich, wo du doch ganz offenkundig bei meinem Sohn in Ungnade gefallen bist, bisher so ganz unbehelligt gelassen hat, wohingegen andere, die, gleich dir, ihre Opposition ihm gegenüber offen gezeigt haben, dies mit ihrem Leben haben bezahlen müssen. Du wirst zugeben, dass das doch recht ungewöhnlich ist.«

Cassius wiegte nachdenklich den Kopf.

»Genau darüber habe auch ich schon oft nachdenken müssen«, sinnierte er leise. »Und ich bin zu dem Schluss gekommen, dass es die warnende Hand deines ermordeten Mannes, meines Freundes und Herrn, sein muss, die er noch über seinen Tod hinaus schützend über mich hält. Immerhin war Cnaeve lange mein Schüler, und er hat zudem immer Respekt gezeigt vor der innigen Freundschaft, die seinen von ihm über alles geliebten Vater mit mir verbunden hat. Vielleicht ist es ja diese über die Jahre seiner Jugend gewachsene Achtung und Bewunderung meiner Person, die ihn bis heute davon abgehalten hat, sich an mir oder meiner Familie zu vergreifen, obwohl ich ihn unausgesetzt ob seines verabscheuungswürdigen Handelns mit harschen Worten getadelt habe. Und das ist auch einer der Gründe, warum keinesfalls ich diese Botschaft verfassen darf, denn genau die Tatsache, dass Cnaeve mein Leben trotz allem bislang verschont hat, könnte in Velcal den Verdacht erregen, dass auch ich insgeheim ein willfähriges Werkzeug des Königs bin. Diesen Verdacht könnte auch unser junger Freund hier nicht entkräften, da allein sein Vertrauen, was er zweifellos in mich legt, in den Augen Vipinas kein ausreichender Beweis für meine Lauterkeit sein wird.«

»Und was ist der zweite Grund?«

Cassius senkte den Blick und nippte gedankenverloren von seinem Wein.

»Der ist nun, zugegebenermaßen, mindestens ebenso heikel wie der erste«, sagte er dann ernst. »Nehmen wir für einen Moment an, unser Bote würde, wenn er die Stadt verlässt, von den Torwachen festgehalten werden und man fände eine von mir unterzeichnete Botschaft bei ihm, dann hätte das zwangsläufig zur Folge, dass der König nicht nur darüber unterrichtet wäre, dass es tatsächlich eine Verschwörung gegen ihn gibt, sondern er würde auch wissen, wer sie anführt und welche Pläne wir haben. Dies wiederum würde den sicheren Tod für mich, aber auch für all die anderen, die sich hinter mich geschart haben, bedeuten, denn ich fürchte, dass mein Körper zu schwach ist, die harte Folter, der sie mich mit Sicherheit unterziehen werden, auf Dauer zu ertragen, sodass ich in meiner Pein vielleicht die Namen aller Beteiligten preisgeben würde.«

»Aber würde es denn nicht ausreichen, wenn Marce euer Vorhaben bei Vipinas mündlich vorträgt?«

»Nein, auf gar keinen Fall!«, winkte Cassius vehement ab. »Aus den vorangegangenen Erläuterungen muss dir doch deutlich geworden sein, dass Vipinas sich, wenn überhaupt, nur dann auf unser Ersuchen einlassen wird, wenn er etwas in Händen hält, was ihn auch nicht den geringsten Zweifel an dem Wahrheitsgehalt der Botschaft hegen lässt. Das Schreiben muss also von einer Person aufgesetzt werden, die ihm nicht nur bekannt ist, sondern von deren Ehrenhaftigkeit und Integrität er absolut überzeugt sein muss …«

»Und die in letzter Konsequenz darüber hinaus auch noch entbehrlich für euch ist!«, vollendete sie mit einem leisen, bitteren Lachen seinen Satz. »Oh, jetzt verstehe ich dich. Ich soll diese Person sein, nicht wahr? Denn wenn man bei Marce im Falle seiner Gefangennahme eine von mir gesiegelte Nachricht fände, dann …«

»Es war nie die Rede davon, dass Marce die Botschaft aus den Mauern Roms trägt!«, berichtigte Cassius sie sanft. »Das würde unser Vorhaben nur unnötig gefährden. Marce steht hier, wie du ja weißt, unter Anklage des Hochverrats und ist deshalb gezwungen, sich nach dieser Unterredung genauso heimlich aus der Stadt zu schleichen, wie er gekommen ist – und zwar ohne die Botschaft. Wenn man ihn nämlich trotz aller Vorsichtsmaßnahmen dennoch dabei erwischen sollte, dann wird man ihn wohl auch nur aufgrund der Familienacht richten, die gegen die Camitlnas verhängt worden ist, hätte aber andererseits keinerlei beweiskräftige Anhaltspunkte, die sie darauf bringen könnten, dass er mit uns in Verbindung steht. Deine Botschaft wird deshalb von einem mir treu ergebenen stummen Sklaven aus der Stadt geschafft werden, dem ich, wenn ihm das gelingt, die Freiheit in Aussicht gestellt habe. Du wirst zugeben, dass die Wachen einem einfachen Sklaven, der wie viele seinesgleichen allmorgendlich die Stadt verlässt, um einen geschäftlichen Auftrag seines Herren zu erledigen, kaum ihre Aufmerksamkeit schenken werden. Dieser Sklave wird sich dann zu einem verabredeten Ort weit außerhalb Roms begeben, wo er Marce treffen und ihm die Botschaft übergeben wird. Wenn Marce allerdings, was die Götter verhüten mögen, zwischenzeitlich gefangen genommen oder getötet worden und somit nicht am vereinbarten Treffpunkt wäre, dann ist der Sklave gehalten, deine Botschaft selbst nach Velcal zu bringen und sie Vipinas auszuhändigen.«

»Meine Hochachtung, Aulus!«, zollte sie ihm mit einem angedeuteten Händeklatschen Beifall. »Das nenne ich einen wohl durchdachten Plan, und ich sage das ohne Häme, denn obwohl du letztlich meinen Tod mit eingerechnet hast, so scheint es mir doch in dieser Situation der einzige Weg zu sein.«

Ertappt von ihrer Offenheit, ließ Cassius darauf betreten einen abgenagten Olivenkern zwischen seinen Fingern spielen.

»Ich bin dir dankbar, dass du diese für mich sehr schmerzliche Peinlichkeit so einsichtsvoll und gelassen hingenommen hast«, versuchte er zu erklären, »aber das käme ja nur in Betracht, wenn man den Sklaven ergreifen würde, was, wie schon gesagt, ziemlich unwahrscheinlich ist, und selbst dann, glaube ich, wird es Cnaeve in letzter Konsequenz wohl doch nicht über sich bringen, seine Mutter töten zu lassen.«

»Aber liebster Freund!«, sagte sie begütigend und fasste über den Tisch nach seiner Hand. »Das muss dir doch nicht peinlich sein. Ich hätte ein solches Opfer an deiner Stelle sicher genauso in Kauf genommen, um ein solch hohes Ziel zu erreichen. Deine Überlegung war vollkommen richtig, denn ich bin tatsächlich die Einzige, der Vipinas Vertrauen schenken würde, gleichzeitig aber auch, wie vorhin schon erwähnt, für euch entbehrlich, da Cnaeve, sollte die Mission scheitern, mich allein verantwortlich machen würde und aufgrund meiner Isolation, in der er mich wähnt, niemals auf die Idee kommen würde, dass ihr mit mir Verbindung aufgenommen habt. Ich möchte dir im Gegenteil dafür danken, dass du mir diese Aufgabe zugewiesen hast, denn so habe ich jetzt das Gefühl«, und dabei erschien ein verschmitztes Lächeln um ihre Mundwinkel, »dass ich auf meine alten Tage doch noch zu etwas nützlich bin! Also, was soll ich schreiben?«

Cassius holte eine Wachstafel aus der Faltentasche seines Mantels und schob sie ihr hin. »Es ist schon aufgesetzt und bedarf nur noch deines Siegels!«, sagte er dabei.

Nachdem sie den Lederriemen, der die hölzernen Rahmen zusammenhielt, gelöst hatte, klappte sie die Tafel auf und las den Text eingehend. Als sie damit fertig war, nickte sie befriedigt und zog einen schweren goldenen Ring, auf dessen abgeflachter ovaler Oberseite ihr persönliches Siegel eingraviert war, vom Zeigefinger ihrer linken Hand. Sie hielt den Ring für einen Moment über die Flamme einer kleinen tönernen Öllampe und presste dann entschlossen das Siegel auf das Wachs unter dem Text.

»So, nun mag das Schicksal seinen Lauf nehmen!«, sagte sie mit einem Anflug von Stolz in ihrer Stimme, während ihre Finger zärtlich über den Konturen des Abdrucks, der einen stilisierten Adler über einem Wolfskopf zeigte, entlangfuhren. Dann verschloss sie die Tafel wieder und reichte sie zu Cassius hinüber, der sie rasch in den Falten seines Gewandes verschwinden ließ, wobei er verstohlen einen erleichterten Blick mit Marce wechselte.

»Ich denke, ihr solltet jetzt gehen!«, ermahnte sie darauf ihre Gäste und erhob sich von ihrer Liege. »Es ist alles gesagt und getan. Das Mädchen wird euch sicher wieder aus dem Palast geleiten. Mögen die Götter euren Weg beschützen – besonders den deinen, Marce Camitlnas, auch wenn ich ahne, dass mir durch deine Hand noch bitteres Leid erwachsen wird.«

»Herrin … ich verstehe nicht … ich, nie würde ich … «, stammelte er verwirrt.

Beruhigend berührte sie seine Lippen mit den Fingerkuppen ihrer rechten Hand.

»Du wirst verstehen«, flüsterte sie. »Der Tag wird kommen.«

An der Tür wandte sich Cassius ihr noch einmal zu.

»Und ich sage dir, dass der Tag kommen wird, an dem das Volk von Rom erfährt, dass es seine Freiheit allein seiner einstigen Königin Tanachvil zu verdanken hat, und dein Name wird gerühmt und nicht vergessen werden, solange Rom besteht.«

Die Könige der Wölfe

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