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Kapitel 2

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Hast du doch noch insgeheim Zweifel an der Echtheit der Botschaft, Herr?«

Der Mann, dem diese gereizt gestellte Frage galt, saß lässig zurückgelehnt, das Kinn auf die rechte Handfläche gestützt, auf einem elfenbeinernen Klappstuhl und betrachtete sein Gegenüber mit einem verständnisvollen, aber auch leicht belustigten Gesichtsausdruck. Er war Anfang vierzig, und die dunkelbraunen Locken, die sich um sein ovales, vom häufigen Weingenuss etwas aufgedunsenes Antlitz ringelten, waren an den Schläfen schon ziemlich ergraut. Seine Augen, die zwischen den leicht verquollenen Lidern hervorsahen, schimmerten in einem wässrigen Graublau. Die Pocken, an denen er in seiner Jugend erkrankt war, hatten auf der Haut seines bartlosen Gesichtes ihre narbigen Spuren hinterlassen, vor allem auf seiner kurzen, aufgeworfenen Nase, die in keinem Verhältnis zu seiner wulstigen und etwas zu breit geratenen Mundpartie stand. Bekleidet war er mit einem purpur gefärbten, knöchellangen und halbärmeligen Obergewand, dessen Falten um die Hüften von einem breiten, goldbesetzten Gürtel gerafft wurden. Seine Füße steckten in weichen Lederstiefeln, deren Spitzen nach oben gebogen waren.

Der Eindruck der Schlichtheit und Behäbigkeit, den sein Äußeres auf den ersten Blick vermittelte, täuschte allerdings, denn aus seiner Haltung und seinem Wesen sprach subtil jene besonnene Würde und unbedingte Souveränität, die einem weisen Herrscher zu eigen ist. Und das war er auch, denn der Mann auf dem elfenbeinernen Sessel war Avle Vipinas, der von seinem Volk hoch geehrte Lukomone von Velcal.

»Sowohl das Siegel Tanachvils als auch der recht anschauliche Bericht des Marce Camitlnas sind über jeden Zweifel erhaben, mein Freund«, erwiderte Avle ruhig. »Doch wie du weißt, bin ich ein Gegner übereilter Entschlüsse.«

Sein Gesprächspartner, der bis jetzt, die Arme hinter dem Rücken verschränkt, erregt vor ihm auf und ab gelaufen war, blieb daraufhin stehen und bedachte ihn mit einem grimmigen Blick. Er hieß Cilnie Macstrna, war dreißig Jahre alt und von mittelgroßer, kräftiger Statur. Das auffälligste Merkmal an ihm war das flammende Rot seines unter dem ledernen Stirnriemen bis zu den Schultern herabquellenden Haupthaares, und auch der sorgfältig gestutzte Vollbart, der sich um seine jetzt trotzig zusammengepressten Lippen kräuselte, wies diese bei den Völkern des Südens nur äußerst selten auftretende Farbgebung auf. Die gerade Nase mit dem kleinen, kaum merklichen Mittelhöcker hob seine männlich markanten Züge hervor, und die smaragdgrünen Augen, welche zwischen den leicht schräg stehenden Lidern blitzten, verliehen ihm, zusammen mit seinen geschmeidigen Bewegungen, etwas Katzenartiges. Über einer weißen Leinentunika trug er einen schwarz gefärbten Lederharnisch nach Machart der Craeces, dessen breit ausgestellte Schulterflügel goldumrandet waren, und die Schnürriemen seiner genagelten Sandalen wurden von kniehohen Beinschienen aus vergoldetem Eisen verhüllt. An einem mit Bronzescheiben besetzten Wehrgehenk, das ihm von der rechten Schulter über Rücken und Brust bis zur linken Hüfte hing, war eine mit Bernstein verzierte Scheide befestigt, die ein kurzes, lanzettförmiges Schwert barg. Sein soldatisches Erscheinungsbild unterstrich den hohen militärischen Rang, den er am Hofe Avle Vipinas innehatte, denn Cilnie Macstrna war neben Avles Bruder Caile der zweite Befehlshaber der Streitkräfte Velcals.

»Wenn du demnach also sowohl der Botschaft Tanachvils als auch den Worten Marces Glauben schenkst, warum hältst du es dann für übereilt von mir, mich sobald als möglich nach Rom zu begeben, um dort, so wie es erbeten wurde, meinen Platz an der Seite der Aufständischen einzunehmen?«, ereiferte er sich. »Gerade jetzt wäre doch dafür der rechte Zeitpunkt, denn wie wir ja gehört haben, befindet sich König Tarchunies auf einem Feldzug, was bedeutet, dass er nur so viele Sicherheitskräfte zurückgelassen haben wird, um den Schutz der Stadt ausreichend zu gewährleisten. Da es sich dabei höchstwahrscheinlich größtenteils um junge und wenig erfahrene Krieger handeln wird, sollte es mir keine sonderlichen Schwierigkeiten bereiten, unbemerkt in die Stadt zu gelangen.«

Avle Vipinas lachte kurz auf.

»Aber gewiss doch!«, spottete er gutmütig. »Und selbstverständlich wirst du dort überhaupt nicht auffallen, da es ja außer dir noch unzählige andere gibt, die von den Göttern mit der flammenden Pracht deines Haarschopfes geehrt wurden. Cilnie mein Guter«, fuhr er dann, nun wieder ernst geworden, weiter fort. »Glaube mir, ich würde dich unter anderen Umständen sofort gehen lassen, aber die Gefahr, dass man dich in Rom wiedererkennen könnte, ist einfach zu groß, zumal, wie mir heute Morgen berichtet wurde, Tarchunies seinen Feldzug siegreich beendet hat und wieder in Rom weilt. Jetzt führe dir nur einmal vor Augen, was es für Folgen hätte, wenn du Tarchunies vorzeitig in die Hände fallen würdest! Die Leute, die sich um Cassius geschart haben, setzen all ihre Hoffnungen in dich, weil sie fest daran glauben, dass nur du sie vom Joch der Unterdrückung befreien kannst und sie als ihr zukünftiger Herrscher in eine bessere Zukunft führen wirst. Allein dieser Gedanke beseelt sie mit dem Mut und der Tatkraft, ihr Vorhaben sogar unter Einsatz ihres Lebens durchzusetzen …«

»Du selbst nennst ja gerade die Gründe, die doch so dringlich für meinen Entschluss sprechen, mich unverzüglich nach Rom aufzumachen«, fiel Cilnie ihm da brüsk ins Wort. »Wo, wenn nicht dort, könnte ich sonst wohl Cassius und den Seinen bei der Planung und vor allem der Durchführung ihres Vorhabens zur Seite stehen?«

Seit Cilnie in Velcal lebte, hatte sich über die Jahre zwischen ihm und den Gebrüdern Vipinas eine auf tiefem Vertrauen basierende Freundschaft entwickelt. Zudem schätzte Avle das herausragende militärische Geschick seines Feldherren viel zu sehr, um ihm diesen harschen Einwurf übel zu nehmen.

»Cilnie Macstrna!«, ging der Lukomone deshalb auch gelassen auf den Einwand ein. »Ich kenne dich als einen Mann, der sich in der Vergangenheit stets als besonders umsichtig und besonnen erwiesen hat und auch in schwierigsten Situationen immer einen kühlen Verstand bewahrt hat. Nun aber, wo es um eine Angelegenheit geht, die nicht nur für dich und für uns, sondern auch für die Zukunft der Menschen in Rom von existenzieller Bedeutung ist, scheint dein Verstand offenbar gänzlich zu versagen. Eben weil du für diese Menschen den Traum ihrer Freiheit verkörperst, ist es von unabdingbarer Wichtigkeit, dass du am Leben bleibst. Sollte nun allerdings Tarchunies deiner habhaft werden und dich töten, bevor die Planung des Umsturzes so weit gereift ist, dass zur Tat geschritten werden kann, dann würden sie all ihres Mutes beraubt sein und der Widerstand würde hoffnungslos in sich zusammenbrechen. Mit dir würden auch alle anderen deiner Freunde ihr Leben verlieren, denn Tarchunies würde gewiss nicht ruhen, bevor er nicht alle, die an diesem Aufstand beteiligt sind, ausfindig gemacht und zur Strecke gebracht hätte. Überdies hätte er, da er ja weiß, dass du offiziell in meinen Diensten stehst, endlich seinen heiß ersehnten Grund, Velcal den Krieg zu erklären, da er mich natürlich wegen deiner Anwesenheit in Rom der Anstiftung zum Aufruhr und der Spionage bezichtigen wird. Aber genau das gilt es zum jetzigen Zeitpunkt zu vermeiden, da wir, wie du ja weißt, noch nicht für einen Krieg gerüstet sind.«

Cilnie schloss die Augen und ließ das Gesagte auf sich wirken. Er musste sich, ob er es nun wollte oder nicht, eingestehen, dass die Argumente Avles absolut vernünftig waren. Es blieb ihm allem Anschein nach tatsächlich nichts anderes übrig, als hier zu bleiben und einfach nur abzuwarten, bis die Zeit zum Losschlagen gekommen war. Aber der Gedanke, den Vorbereitungen eines für ihn so bedeutsamen Ereignisses fernzubleiben und in ohnmächtiger Tatenlosigkeit zu verharren, war wider seine Natur, und genau das war es, was ihn jetzt zunehmend in Wut, aber auch in Verzweiflung versetzte.

Er ballte seine Fäuste und blickte wie gehetzt zwischen Avle und Caile, der bei dieser Unterredung ebenfalls zugegen war und neben seinem Bruder an der Wand lehnte, hin und her.

Der Fürst von Velcal spürte den Konflikt, der in der Brust seines Feldherren tobte, schon fast körperlich, und so erhob er sich mit einem leichten Seufzer von seinem Stuhl, um sich, während er mit seinem Bruder einen ergebenen Augenaufschlag tauschte, an die Seite Cilnies zu stellen.

»Es ist andererseits nicht so, dass du hier zur Untätigkeit verdammt bist«, versuchte er ihn zu beschwichtigen und legte ihm dabei einen Arm um die Schultern. »Wie wir ja gesehen haben, gestaltet es sich offenbar nicht als allzu schwierig, geheime Botschaften von und nach Rom zu übermitteln. Du könntest also auf diese nunmehr bewährte Art und Weise mit Cassius ständig Kontakt pflegen und so dennoch deinen Beitrag zum Gelingen des Planes leisten. Im Übrigen«, fügte er schmunzelnd hinzu, »erwartet dich in diesem Zusammenhang hier eine nicht minder wichtige Aufgabe, die es zeitgleich zu bewerkstelligen gilt und die deinem ungeduldigen Tatendrang gewiss vollauf Rechnung tragen wird.«

Cilnie schaute ihn stirnrunzelnd an.

»Was könnte das wohl sein?«, fragte er in lauernder Atemlosigkeit.

»Nun, du sollst so schnell als möglich unser Heer kriegsbereit machen, denn du wirst es nach Rom führen, wenn der Tag gekommen sein wird, an dem der Ruf an dich ergeht, die Stadt von der Gewaltherrschaft des Tarchunies zu befreien. Es wird dir außerdem helfen, deinen Thronanspruch gegebenenfalls schlagkräftig durchzusetzen.«

Nach diesen unverhofften Worten spiegelte sich in Cilnies Miene Verblüffung, zugleich aber auch eine dankbare Erleichterung wieder.

»Das … das hätte ich nie zu hoffen gewagt, Herr«, murmelte er nur und sah verlegen auf seine Fußspitzen.

»Ja, hast du denn wirklich geglaubt, wir hätten dir unseren Beistand bei diesem riskanten Unterfangen verweigert?«, lachte Avle und stieß ihm mit der Faust aufmunternd gegen die Schulter. »Du hast dich schon so oft mit deinem Leben für Velcal eingesetzt, und nun habe ich endlich Gelegenheit, dies gebührend zu würdigen. Zudem sind wir Freunde, und Freunde lassen einander nicht im Stich.«

»Es ist uns deshalb nicht nur eine Ehre, sondern geradezu eine Pflicht, dich auf deinem schweren Weg zu begleiten«, meldete sich nun auch sein Bruder Caile zu Wort, der das Gespräch bislang schweigend verfolgt hatte. »Wir haben bei vielen Kämpfen Seite an Seite gefochten, warum sollte es diesmal anders sein? Und gerade diesen Kampf würde ich mir um keinen Preis entgehen lassen!«

Caile hatte von seinem Äußeren her nur wenig Ähnlichkeit mit seinem um sechs Jahre älteren Bruder. Er überragte ihn um fast Haupteslänge, und sein Körperbau besaß alle Merkmale, die einem wohl trainierten Athleten zuzusprechen waren. Allein die Farbe seines dicht um den Kopf wuchernden Lockenschopfes hatte er mit Avle gemein. Ein kurz geschnittener und unter dem Kinn spitz zulaufender Bart, der an den Schläfen ansetzte, umrahmte seine vollen Lippen. Ein sanftes, dunkles Augenpaar und eine schmale, nur ganz leicht gebogene Nase vollendeten das Ebenmaß seiner stets ernst wirkenden Züge. Wie Cilnie war auch sein breiter Brustkorb von einem, allerdings aus purem Silber getriebenen Panzer umhüllt, auf welchem erhaben zwei steigende Pferde inmitten eines vergoldeten Lorbeerkranzes abgebildet waren. Im Gegensatz zu seinem offenherzigen und zur Genusssucht neigenden Bruder war er eher von zurückhaltender und schweigsamer Natur, doch wenn er sich einmal zu etwas äußerte, dann tat er es schnörkellos und mit kühlem Sachverstand, sodass man seinen ausgewogenen Einschätzungen und Urteilen blind vertrauen konnte.

Während Cilnie immer noch um seine Fassung rang, wurde ihm mit einem Male jäh bewusst, was für weit reichende Konsequenzen dies nach sich ziehen würde.

»Aber wenn du gegen Tarchunies offen zu Felde ziehst«, folgerte er vorsichtig, »dann müsstest du damit rechnen, dass dir die mit ihm verbündeten Städte des Bundes, allen voran das mächtige Tarchnal, den Krieg erklären werden!«

»Das glaube ich nicht«, erwiderte Avle gedehnt und mit einem verschmitzten Lächeln. »Natürlich hat ihm sein Trachten, Rom dem Städtebund der Rasna anzugliedern, zu Anfang die Sympathien nicht weniger Lukomonen eingebracht, immerhin ist die Stadt mit ihrem Hafen Ostia strategisch äußerst günstig an der südlichen Grenze des Bundes gelegen. Doch als es im Verlauf der letzten Jahre im ganzen Lande ruchbar wurde, mit welch menschenverachtender Aggressivität gegen die eigene Bevölkerung er dieses Ziel verfolgt, haben einige dieser Stadtfürsten, darunter sogar seine Verwandten aus Tarchnal, nach reiflicher Überlegung damit begonnen, auf Abstand zu ihm zu gehen. Während der diesjährigen Versammlung der Lukomonen im Heiligtum Velthunes haben wir lange und erschöpfend über dieses Thema gesprochen, und bis auf Rutile Arcmsnas von Sveanna und Vel Papathnas von Velznal sind wir einhellig zu der Überzeugung gelangt, dass dem gefährlichen Treiben Tarchunies Rumachs mit allen Mitteln Einhalt geboten werden muss.«

Cilnie schüttelte den Kopf.

»Das ergibt doch keinen Sinn«, wandte er argwöhnisch ein. »Zum einen haben die Rasna bisher noch nie Interesse oder gar Mitleid für das oft leidvolle Schicksal der Ulthese gezeigt, denn dafür verachten sie diese Menschen zu sehr, zum anderen, wie du schon erwähnt hast, wäre Rom, wenn es denn erst einmal zum Bund gehören würde, aufgrund seiner Lage eine nützliche Bereicherung und Tarchunies damit ein wertvoller Bundesgenosse. Ich verstehe daher nicht, was für ein Grund die Lukomonen so gegen Tarchunies einnimmt, dass sie ein so wohlfeiles Geschenk ablehnen, das er ihnen, ohne dass sie dafür einen Finger rühren müssten, gleichsam als Morgengabe in den Schoß legt.«

Avle antwortete darauf zunächst nicht, sondern schnippte mit den Fingern an eine kleine hängende Silberschale, auf deren hell schwebenden Klang hin ein Sklave erschien, der ihnen drei mit Wein gefüllte Trinkschalen aus schwarz gebranntem, metallisch schimmerndem Ton reichte.

»Ich bin eigentlich davon ausgegangen, dass du nach allem, was du in den letzten Jahren über deinen Halbbruder hast in Erfahrung bringen können, den Charakter des Mannes kennen müsstest, der auf dem Thron Roms sitzt!«, begann er ihm ein wenig ungehalten den Entschluss der Lukomonen zu erläutern, nachdem er zuvor mit verzückter Miene von seinem Wein getrunken hatte. »Auf den ersten Blick erscheint sein Angebot in der Tat verlockend, und hätte Tarchunies auch nur ansatzweise etwas von dem edlen Wesen geerbt, das euer beider Vater zu seinen Lebzeiten ausgezeichnet hat, dann hätten wir es ohne zu zögern angenommen. Der Mensch aber, so heißt es, sollte sowohl nach seinen Taten als auch nach seinen Freunden und Ratgebern, mit denen er sich umgibt, bemessen werden. Wenn wir also diesem altbewährten Prinzip folgen, dann ergibt sich im Falle deines Halbbruders bei näherer Betrachtungsweise ein wenig schmeichelhaftes Bild, was überdies für uns alle in höchstem Maße Besorgnis erregend ist.«

»Welche den Bund gefährdende Bedrohung kann nur von Tarchunies ausgehen, da er doch, wie auch all die anderen, die er um sich geschart hat, von reinstem Rasnablute ist?«, hakte Cilnie immer noch verständnislos nach, als Avle seine Rede kurz unterbrach, um erneut von seinem Wein zu kosten.

Diese so unbedarft gestellte Frage löste bei Avle einen derartigen Lachanfall aus, dass er sich verschluckte und es eine Weile dauerte, bis er wieder zu Atem gekommen war.

»Cilnie, mein Guter«, hustete er schließlich. »Ich frage dich: Wann, zu welcher Zeit in der langen und wechselvollen Geschichte unseres Volkes hat die hehre Erkenntnis, dass wir eines Blutes sind, je dazu geführt, dass zwischen den Rasna so etwas wie Frieden und Einigkeit geherrscht hat? Der viel beschworene Zwölfstädtebund ist das Gold der Tafeln nicht wert, auf denen der Vertrag einst unter den Augen Velthunes so feierlich festgeschrieben wurde! Im Grunde macht doch jede Stadt ihre eigene Politik, in deren Vordergrund einzig Handelsinteressen und Profite stehen. Um diese Interessen zu wahren und wenn möglich auszudehnen, war und ist ihnen jedes Mittel recht, selbst wenn es, wie es nur zu häufig geschieht, auf Kosten der ›brüderlichen‹ Nachbarn geht. Wenn zwei Städte sich verbünden, dann dient das nur dem Zweck, sich gemeinsam an dem Besitz einer dritten zu bereichern, und wenn dies gelungen ist, zerbricht der Bund so schnell, wie er geschlossen wurde. Selbst gegen unsere äußeren Feinde, die Craeces und Phoiniki, die uns schon so lange bedrängen und uns unsere Bodenschätze und unseren Handel streitig machen, will es uns nicht gelingen, in Eintracht vorzugehen. Stattdessen nutzen sie unsere innere Zerstrittenheit dazu aus, um ihren Krieg, den sie selbst miteinander führen, auf unserem Rücken auszutragen. Sie haben rasch erkannt, wie empfänglich unsere Lukomonen für Gold und Luxusgüter sind, und so buhlen sie seither um deren wohlwollenden Beistand, indem sie ihnen großzügige ›Geschenke‹ anbieten, was dazu führt, dass die Herren sich an den jeweils Meistbietenden verkaufen. So ist es also in Wahrheit um den Zusammenhalt des Blutes bestellt, und auch ich muss – und gar nicht zu meinem Bedauern – bekennen, dass ich dem Reiz des auf diese Weise so leicht gewonnenen Wohlstandes erlegen bin.«

»Sehr schön!«, nahm Cilnie diese Erklärung gleichgültig zur Kenntnis. »Das, was du gesagt hast, ist mir nicht fremd. Doch lass uns nun wieder von den vermeintlichen Gefahren sprechen, die uns von Tarchunies drohen.«

»Die Gefahr, von der Avle spricht, besteht darin, dass Tarchunies und die Seinen sich, entgegen deiner Meinung, nicht mehr zu uns zählen!«, ergriff unvermittelt Caile statt seines Bruders das Wort. »Sieh mal … Wenngleich sie alle, wie du richtig bemerkt hast, mehr oder weniger von den angesehensten Familien unseres Landes abstammen, so wurden ihre Vorfahren oder sie selbst doch irgendwann von uns zu Recht oder Unrecht vertrieben. Diese Demütigung hat über die Generationen bei ihnen einen unüberbrückbaren Hass gegen uns wachsen lassen, der sie nun bereit macht, sich für die erlittene Schmach zu rächen. Sie wissen um die von Avle soeben geschilderten Zustände, die bei uns herrschen, und deshalb wissen sie auch, dass das ausschweifende Leben in Luxus und Reichtum, an das wir uns mittlerweile gewöhnt haben, uns träge gemacht und unsere Wehrhaftigkeit, wegen der wir früher gefürchtet waren, in hohem Maße zersetzt hat. Dafür verachten sie uns und trachten danach, uns zu beweisen, dass allein sie noch das Recht haben, sich mit Stolz Rasna zu nennen, da sie, wie sie glauben, als Einzige nach den ehernen Tugenden leben, die unsere kämpferischen Vorfahren zu Zeiten des legendären Tarkon ausgezeichnet haben.«

»Womit sie leider gar nicht einmal so Unrecht haben!«, warf Avle da verdrossen ein. »In den vielen Schlachten, die Tarchunies sich seit seiner Machtübernahme mit den Nachbarn geliefert hat, ist er immer als Sieger hervorgegangen und hat auf diese Weise das Einflussgebiet Roms erheblich erweitern können. Dieser wagemutige Kampfgeist ist aber auch alles, was an Tarkon, von dem er im Übrigen als Familienangehöriger der Tarchna in direkter Linie abstammt, erinnert.«

»Mit diesem wertvollen Hinweis, lieber Bruder, hast du mir die Idee für ein Beispiel gegeben, mit welchem ich Cilnie unsere Befürchtungen im Folgenden bildhaft darlegen kann!«, fing Caile dankbar den Ball auf, den Avle ihm unbewusst zugespielt hatte. »Wie allgemein bekannt ist, haben sich die Tarchna seit jeher den Wolf zu ihrem Wappentier erkoren, und in seiner bösartigen Variante kommt dieses Raubtier dem Charakter Tarchunies’ auch sehr nahe. Seiner Meinung nach sind wir längst keine Wölfe mehr, sondern ähneln eher einer Herde Schafe, die satt und fett auf üppigen Weiden grast. Wenn er und die anderen ›wahren‹ Rasna uns treuherzig anbieten, Rom in den Schoß des Mutterlandes zurückzuführen, dann ist das in etwa mit einem wilden Rudel Wölfe zu vergleichen, dass sich in Schafspelze hüllt, um unerkannt unter die Lämmer zu fahren und alles zu reißen, was ihnen zwischen die Lefzen gerät. Ich will damit sagen, dass, wäre Rom Mitglied des Bundes, Tarchunies sich auf Dauer bestimmt nicht damit zufrieden geben würde, allenfalls als Gleicher unter Gleichen zu gelten. Nein, er würde sich in seinem wahnwitzigen Machtstreben sofort daran begeben, die Lukomonen geschickt gegeneinander auszuspielen, was ihm nicht schwer fallen wird, da er ja, wie schon gesagt, um ihre Rivalität, die so offenkundig zwischen ihnen schwelt, weiß. Und wenn die Fürsten erst einmal damit begonnen haben, sich in blutigen Fehden so zu zermürben, dass sie am Ende viel zu geschwächt sind, um ihm noch Widerstand zu leisten, dann wird er lachenden Auges beiseite stehen und in aller Ruhe darauf warten, bis er sich unangefochten die Krone des unumschränkten Alleinherrschers aufs Haupt setzen kann.«

Cilnie starrte nach dieser Schilderung in seinen Kelch und dachte angestrengt nach.

»Vielleicht«, sinnierte er dann leise vor sich hin, »vielleicht täte es in dieser Lage dem Bund der Rasna ganz gut, von einem einzigen Mann beherrscht zu werden, der ihnen Frieden und Eintracht schaffen würde. Aber«, fuhr er dann mit lauter Stimme weiter fort und richtete seinen Blick wieder fest auf Avle und Caile, »dieser Mann kann und wird nicht Cnaeve Tarchunies Rumach sein! Das, so sehe ich ein, muss unter diesen Umständen um jeden Preis verhindert werden.«

»Wohl gesprochen, Cilnie, mein Guter!«, lobte ihn Avle und erhob seine Trinkschale. »Es ist gut zu wissen, dass du unsere Ansichten teilst. Lasst uns nun also auf das Gelingen des Aufstandes trinken – und auf den zukünftigen König von Rom!«

Nachdem sie getrunken hatten, runzelte Cilnie unvermittelt die Stirn und rieb sich fahrig den Nasenflügel.

»Wir können nicht einfach so nach Rom marschieren, ohne uns zuvor ein genaues Bild davon zu machen, wie es dort wirklich steht.«, gab er zu bedenken. »Ich meine … nun, die Nachrichten, die wir von Cassius möglicherweise übermittelt bekommen, mögen ja für den Anfang ganz hilfreich sein, aber ich möchte schon vorab einen möglichst persönlichen Eindruck zumindest von der momentanen Lage und den örtlichen Gegebenheiten bekommen, bevor ich mich mit einem ganzen Heer dorthin in Bewegung setze.«

»Aus dir spricht der geborene Feldherr! «, entzückte sich Avle eine Spur zu emphatisch. »Kein unnötiges Wagnis eingehen und den Feind im Vorfeld auskundschaften! Das nenne ich weitsichtiges Handeln! Welch ein Jammer, dass ein solch begnadetes Talent aus meinen Diensten Abschied nehmen will! Aber ich habe selbstverständlich, da ich dich so gut kenne, vorausgesehen, dass du auf diese in der Tat nicht zu vernachlässigende Problematik zu sprechen kommen würdest, und ich denke, ich habe dafür auch schon die geeignete Lösung gefunden. Über zwei Dinge müssen wir uns allerdings vorab im Klaren sein: Zum einen kannst du selbst dich, wie wir schon erörtert haben, auf gar keinen Fall in Rom sehen lassen, und zum anderen ist es auch, wie uns in diesem Zusammenhang ebenfalls bewusst geworden ist, zu riskant, zu diesem Zweck Spione nach Rom zu senden. Ich habe mich deshalb dafür entschieden, etwas zu tun, womit Tarchunies in dem angespannten Verhältnis, das zwischen Velcal und Rom nun schon so lange besteht, wohl am allerwenigsten rechnen wird. Ich werde, um bei der Metapher meines Bruders zu bleiben, dem Wolf gleichsam mit Honig den Bart kraulen!«

Er hielt inne und trank genüsslich seine Schale leer, während er zu seiner Belustigung über den Rand des Gefäßes beobachten konnte, wie den beiden Männern vor Entgeisterung buchstäblich die Kinnladen herabfielen.

»Wie … äh … dürfen wir das nun wieder verstehen?«, erkundigte sich schließlich Caile unsicher, da er auch nicht die Spur einer Ahnung hatte, auf was sein Bruder eigentlich hinaus wollte.

»Nun denn!«, verkündete Avle triumphierend, während er es sich wieder mit einem selbstzufriedenen Grinsen auf seinem Stuhl bequem machte. »Ich gedenke eine hochrangige Gesandtschaft nach Rom zu schicken, die den Auftrag hat, mit Tarchunies darüber zu verhandeln, ob und wie die Unstimmigkeiten, die zwischen uns herrschen, beigelegt werden können. Das wird ihm schmeicheln, denn es wäre das erste Mal, dass eine offizielle Delegation eines Lukomonen des Bundes ihn in diplomatischer Mission aufsucht, was für ihn ja fast schon der von ihm lang ersehnten Anerkennung seiner Person gleichkommt. In diesem unverfänglich gestalteten Rahmen können sich unsere Leute dann unauffällig in der Stadt umsehen, ohne dass dies Misstrauen erwecken würde. Vielleicht gelingt es ihnen dabei sogar, ein persönliches Gespräch mit Cassius zu führen, um sich so einen direkten Einblick in die Pläne der Aufständischen zu verschaffen.«

Während er ihnen dies in aller Gemütsruhe offenbarte, hellten sich ihre Mienen merklich auf, und aus ihren Augen sprühte es am Ende förmlich vor Begeisterung.

»Das ist … wie soll ich es ausdrücken?«, sprudelte es aus Cilnie hervor. »Es ist genial! Es ist ganz einfach …«

»Avle Vipinas!«, ergänzte Avle gar nicht bescheiden, wobei er sich selbst lobend in die Hände klatschte.

»Und wer, bitte, soll diese Gesandtschaft anführen?«, wollte da Caile mit einem plötzlichen Anflug von Argwohn wissen.

»Natürlich du!«, säuselte Avle unschuldig. »Wer sonst, außer dir, würde sich wohl für diese heikle Aufgabe besser eignen? Außerdem bedenke doch, dass du immerhin mein Bruder bist, und wenn du mit Tarchunies sprichst, dann ist das so, als ob ich ihn selbst mit meiner Anwesenheit ehren würde!«

»Verdammt, ich ahnte, dass du mir dieses schmutzige Geschäft zuschieben würdest!«, begehrte Caile zuerst grimmig auf. »Doch sei’s drum!«, fügte er sich seufzend in sein Los. »Irgendeinen musste es ja treffen, warum also nicht mich, zumal du dafür aller Wahrscheinlichkeit nach wirklich keinen Besseren hättest finden können. Wann soll ich aufbrechen?«

»Oh, das hat noch Zeit!«, beeilte sich Avle ihm zu versichern. »Wir müssen deine Mission gewissenhaft vorbereiten. Du wirst vor allem noch deine Begleitung auszuwählen haben, doch dabei lasse ich dir freie Hand, da du es wie kein anderer verstehst, die Menschen nach ihren Befähigungen zu beurteilen. Außerdem wird es notwendig sein, dass du dich mit Cilnie besprichst, damit er dir sagt, welchen Teilen der Stadt dein besonderes Augenmerk gelten soll. Kurz, es wird vollkommen ausreichen, wenn ihr euch erst morgen früh auf den Weg macht!«

»Oh, das hat noch Zeit!«, äffte Caile ihn nach und rollte mit den Augen. »Aber wie immer wird dein Wunsch mir Befehl sein. Morgen, bei Tagesanbruch, werden wir bereit sein!«

»Wunderbar!«, freute sich Avle und strahlte zuversichtlich über das ganze Gesicht. »Ich wusste, dass ich mich auf dich verlassen kann! Nachdem dieses leidige Thema nunmehr erledigt ist, lasst uns jetzt auf ein erfolgreiches Gelingen trinken, und wenn ihr bis heute Abend alles geregelt habt, dann erwartet euch ein ausgiebiges Mahl, welches ich euch zur Feier dieses vielversprechenden Unternehmens ausrichten werde.«

»Ich hätte da noch eine Frage, Herr!«, meldete sich Cilnie noch einmal zu Wort. »Warum unterstützt du es, dass ich König von Rom werde? Fürchtest du denn gar nicht, dass ich denselben Weg wie Tarchunies einschlagen könnte?«

Avle, der schon an der Tür stand, wandte sich langsam zu ihm um und sah ihn aus schmalen Lidern an.

»Du meinst, ich und die anderen Lukomonen würden dich lediglich als ein mir willfähriges Werkzeug benutzen, nicht wahr?«, erriet er den unterschwelligen Gedankengang seines Freundes. »Dem ist aber mitnichten so, da kannst du beruhigt sein! Sieh es einmal so: Rom hat zwar eine Oberschicht, die hauptsächlich von Rasnastämmigen gebildet wird, der größte Teil der Bevölkerung jedoch sind Ulthese, Fremde also, die uns und unsere Lebensart nicht sonderlich schätzen. Wenn diese Menschen nun gezwungen werden, in einem von Rasna beherrschten Bundesgefüge zu leben, dann brächte uns das einen weiteren Unruheherd in den sowieso schon von Zwistigkeiten geschüttelten Städtebund ein. Eines fernen Tages vielleicht, wenn die Menschen beider Stämme gelernt haben, sich gegenseitig zu achten und zu akzeptieren, dann mag Rom darum ersuchen, in unseren Bund aufgenommen zu werden, aber es muss diese Wahl aus freien Stücken treffen. Ich unterstütze dich also deshalb, weil ich fest davon überzeugt bin – und damit stehe ich nicht alleine –, dass du es bist, der den langen Weg der Versöhnung unserer beiden Völker bereiten wird.«

»Ich danke dir für dein Vertrauen, Herr«, schluckte Cilnie tief berührt. »Und ich gebe dir mein Wort, dass ich alles, was in meiner Macht steht, tun werde, um diesen hohen Erwartungen gerecht zu werden!«

»Davon gehe ich aus!«, erwiderte Avle mit einem feinen Lächeln. »Was dabei aber am meisten zählt, Cilnie, mein Guter, ist unsere Freundschaft, denn ein Freund auf dem Throne Roms ist mir in diesen Zeiten lieber als ein Mann wie Tarchunies, der durch seine zweifelhafte Loyalität für uns unberechenbar ist!«

Die Könige der Wölfe

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