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Kapitel 1

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»Du wirst also nicht mit ihnen ziehen?«

In den Worten des älteren der beiden Männer oben auf dem hohen Dünenkamm schwang unverhohlene Enttäuschung.

Der Jüngling neben ihm zeigte keine Reaktion, sondern zog es vor, seinen Blick weiter über den flachen, breiten, mit vielen Prielen durchzogenen Strand zum jetzt noch weit entfernten Meer schweifen zu lassen, dessen nahezu spiegelglatte, bleigraue Oberfläche in der Ferne mit dem Horizont zu verschmelzen schien.

Es war die Zeit zwischen Ebbe und Flut, und gerade begann es im Osten allmählich hell zu werden.

Mit dem Morgengrauen setzte eine laue Brise ein, die den würzigen Geruch von Salz und Tang landeinwärts trug und die einsetzende Flut ankündigte.

Der junge Mann war von schlanker, hoch gewachsener Statur.

Sein volles, schwarzlockiges Haar fiel ihm über die Schultern.

Aus den leicht schräg gestellten Lidern leuchteten große, hellblaue Augen, die das ebenmäßig geschnittene und glatt rasierte Gesicht beherrschten.

Unter der schmalflügeligen, geraden Nase schien ein zynisches Lächeln das volle Lippenpaar zu umspielen.

Um die Hüften trug er ein zu einem knielangen Rock gewickeltes Tuch aus grober, weißer Wolle, welches von einem breiten Ledergürtel mit einer scheibenförmigen Bronzeschließe gehalten wurde.

Um die Schultern des bloßen Oberkörpers lag ihm ein bis zu den Waden fallender Mantel aus dem gleichen Stoff, der auf der linken Schulter mit einer wulstigen Bronzefibel befestigt war.

Ganz ähnlich war die Tracht des alten Mannes, nur dass er zusätzlich noch mit einem langärmeligen grauen Leinenhemd bekleidet war und seine Füße in einfachen Stiefeln aus Seehundleder steckten.

Das hohe Alter – er mochte die sechzig weit überschritten haben – und das Leben hatten ihn gezeichnet, denn unzählige Falten prägten sein von Wind und Wetter gegerbtes Gesicht, dessen Züge denen des Jünglings nicht unähnlich waren.

Es waren vor allem die Augen, welche unter den buschigen, schlohweißen Brauen gerade seinen Begleiter nachdenklich musterten, die auf die Verwandtschaft der beiden schließen ließen.

Schlohweiß war auch das kurz geschnittene, immer noch volle Haupthaar und der sorgfältig gestutzte Vollbart, der das markante Antlitz umrahmte.

»So kann dich nichts von deinem törichten Entschluss abbringen?«, versuchte der alte Mann noch einmal in den Jüngling zu dringen.

Dieser wandte nun sein Gesicht dem Alten zu und sah ihm mit klarem Blick in die Augen.

»Nein, Großvater! Es bleibt dabei! Ich werde Laruna nach der Sonnenweihe heiraten und Vaters Hof übernehmen.«

Der alte Mann schaute daraufhin leise mit dem Kopf schüttelnd zu seinen Füßen, wobei er resignierend aufseufzte.

Heute sollte das drei Tage währende alljährliche Frühlingsfest beginnen, bei dem traditionsgemäß alle Mädchen und Jungen, die in diesem Jahr ihren siebzehnten Geburtstag feierten, ihre letzte, heilige Sonneninitiation erhielten, die sie zu mündigen Mitgliedern der Dorfgemeinschaft machte.

Danach sollten einige ausgewählte Jungmänner zusammen mit erfahrenen Händlern unter der Führung von Luknies ihre beschwerliche Reise in den Süden antreten, um dort mit den Kostbarkeiten aus den Essen der Bronzeschmiede, vor allem aber mit dem seltenen, nur an dieser Küste vorkommenden Schatz des Meeres, dem Bernstein, Handel zu treiben.

Die Menschen, die hier lebten, waren von jeher Fischer und Bauern gewesen, doch vor einigen Generationen waren Fremde aus dem Süden gekommen, die nach Bernstein suchten. Sie erzählten den Ältesten, dass vor einiger Zeit Seefahrer, deren Heimat die Gestade am großen westlichen Ozean seien, den Bernstein mitgebracht, aber über seine genaue Herkunft geschwiegen hätten. Man wüsste nur, dass er im hohen Norden zu finden sei. Sie sagten, dass die Völker im Mittag ihn als Schmuck begehrten und ihn sogar mit Gold und Silber aufwiegen würden, welches hierzulande wiederum selten war.

Seit dieser Zeit zogen nun alle zwei Jahre die Wagemutigsten aus den Dörfern an der Küste hinaus, um den Bernstein in die heißen Länder der Südvölker zu bringen. Oft blieben sie über mehr als ein Jahr aus, aber wenn sie dann endlich zurückkamen, waren ihre Ledersäcke immer prall gefüllt mit Barren aus Gold, Silber und Bronze. Natürlich kam es auch vor, dass keiner oder nur wenige wieder in die Heimat gelangten, sei es, dass sie räuberischen Menschen in die Hände fielen oder an unheilbaren Krankheiten oder Seuchen, die sie sich in der Fremde zuzogen, starben. So erging es vor vier Jahren auch dem Sohn des alten Mannes, dem Vater des störrischen Jünglings neben ihm. Die Zurückgekehrten berichteten, er sei – kurz bevor sie den Heimweg wieder antreten wollten – von einem heftigen Fieber befallen worden, und man habe ihn aus Angst vor einer Ansteckung zurücklassen müssen. Wahrscheinlich sei er am Fieber gestorben.

Wehmütig dachte der alte Mann an die Zeit zurück, als er so jung war wie sein Enkel und das erste Mal mit den Händlern mitziehen durfte. Seine Vorfahren zählten seinerzeit zu den ersten, die mit dem Fernhandel begonnen hatten und so war es eigentlich schon zu einer Tradition geworden, dass der Erstgeborene seiner Familie der Zunft der Bernsteinhändler angehörte. Über Generationen hatte man diesen Brauch gepflegt, und die Familie war darüber zu einer der reichsten im Lande geworden.

Nun, da sein Sohn Lareth nicht mehr da war, hatte der alte Mann all seine Hoffnung in seinen Enkel Tarkon gesetzt. Nicht nur, dass er seinem unglücklichen Vater äußerlich ähnlich war, er verfügte auch über dessen Kraft und Willensstärke.

Anfänglich schien sich der Wunsch des Großvaters auch zu erfüllen, denn das, was die Reisenden nach ihrer Rückkehr an Abenteuern und Wunderdingen, die sie in der Fremde erlebt hatten, zu erzählen wussten, begeisterte den Jungen über alle Maßen.

Mit ungläubigem Staunen hörte Tarkon, dass die Menschen im Süden in großen Ansammlungen von dicht beieinander stehenden Häusern lebten, die sie Städte nannten. Die Häuser der Reichen waren aus Stein gebaut, mit großen Fenstern und mit tönernen Ziegeln gedeckt.

Aus Stein gebaut waren auch die riesigen Heiligtümer, in denen sie ihre unzähligen Götter verehrten, die zumeist die Gestalt von Tieren hatten.

Noch weiter im Mittag, über dem großen Meer des Südens, lebte ein Volk an einem Strom, das seinen Herrscher als Sohn des Sonnengottes verehrte. Starb der König, dann wurde sein Leib mit Binden umwunden und in einem aus dem Felsen gehauenen, prächtig mit Gold und Edelsteinen ausgestatteten Grab beigesetzt.

In früheren Zeiten hatten sie ihren Königen sogar gewaltige Grabberge aus tausenden von Quadersteinen errichtet, die so hoch waren, dass sie den Himmel zu berühren schienen.

Dies alles ließ Tarkon den Traum hegen, dereinst mit seinem Vater auf die Reise zu gehen, und so begann er schon frühzeitig, sich im Gebrauch von Waffen zu üben.

Doch dann kehrte Lareth nicht mehr aus der Fremde zurück, und Turna, seine Frau, beschwor in ihrem Schmerz den Jungen, sich doch den Gedanken aus dem Kopf zu schlagen und hier bei ihr auf dem Hof zu bleiben.

Zu Anfang fruchteten die Bemühungen Turnas allerdings wenig, bis Tarkon vor einem Jahr diesem Mädchen aus dem Nachbardorf über den Weg gelaufen und sich Hals über Kopf in sie verliebt hatte. Verständlicherweise wurde sie daraufhin zur natürlichen Verbündeten seiner Mutter, sodass er bald seinen Traum aufgab und seither nur noch an ein beschauliches Leben mit Frau und Kindern auf dem väterlichen Hof dachte.

Ärger stieg in dem alten Mann auf, während er so darüber nachdachte, und schließlich rammte er unvermittelt seinen Stab mit einer heftigen Bewegung in den Sand.

»Weißt du eigentlich, was du dir entgehen lässt, Junge?«, fragte er zornig.

»Ja, das Schicksal meines Vaters!«, entgegnete Tarkon trocken.

»Ach, sie haben gesagt, sie hätten ihn zurücklassen müssen, doch ob er wirklich tot ist, wissen wir nicht. Aber selbst wenn: Jeder, der sich auf diese zweifellos gefahrvolle Reise begibt, muss damit rechnen, dabei ums Leben zu kommen, aber dafür wird ihm, wenn er Erfolg hat, unermesslicher Lohn zuteil. Sieh mich an! Habe ich nicht ...«

»Lohnt es sich deiner Meinung nach also, sein Leben für Gold und Silber aufs Spiel zu setzen? Sieh lieber meine Mutter an! Ich möchte nicht, dass Laruna dereinst um mich weinen muss, wie sie es jetzt Vaters wegen tut!«, wurde er von seinem Enkel rüde unterbrochen.

»Du Narr!«, fuhr ihn der Alte unbeherrscht an. »Wenn das alles wäre! Nein, ich spreche von den vielen wunderbaren Dingen, die du im Süden sehen und erfahren würdest. Denke an die weißen Handelsstädte der Kreter mit ihren Tempeln und Palästen, oder denke an jenes reiche Land Khemet mit seinem Gottkönig ...«

»Ja, ja, und an die steinernen Grabhügel, die den Himmel berühren und deren Spitze aus purem Gold besteht. Ich will gerne zugeben, dass diese abenteuerlichen Geschichten, die Vater und du mir erzählt haben, mich früher ungemein beeindruckt haben – aber nun, da ich Laruna begegnet bin, verspüre ich nicht die geringste Lust, den Preis, den mein Vater für dieses zweifelhafte Vergnügen gezahlt hat, ebenfalls zu zahlen. Halte dich doch an meinen Bruder Kieruns! Der ist zwar etwas jünger als ich, aber vielleicht begeisterst du ihn für deine Sache. Ich für meinen Teil habe mich entschieden.«

Eine Weile herrschte eisiges Schweigen zwischen den beiden.

»Kieruns wollte immer schon Bauer werden. Nie hat ihn das, was ich, dein Vater oder die anderen Händler von ihren Fahrten zu berichten wussten, sonderlich interessiert. Außerdem verfügt er nicht über den Mut und die Ausdauer, die notwendig wären, um die Strapazen unterwegs zu meistern«, sagte der alte Mann mehr zu sich selbst.

Dann wandte er sich in einer plötzlichen Bewegung seinem Enkel zu, packte ihn mit beiden Händen an den Schultern und schüttelte ihn heftig.

»Tarkon! Überlege, was du tust! Mit deiner Weigerung beschmutzt du das Andenken deines Vaters! Du vergehst dich an der Tradition unserer Familie«, schrie er ihn mit zornbebender Stimme an.

Tarkon löste die klammernden Hände seines Großvaters mit einer sanften, schnippenden Bewegung seiner Fingerspitzen, und sein Antlitz wirkte wie versteinert.

»Wage es nicht noch einmal, mich anzufassen, du gieriger alter Mann!«, zischte er dabei gefährlich leise.

Der Alte erbleichte und wich zwei Schritte zurück. Er fuhr sich mit verkrampften Händen mehrmals nervös über Augen und Wangen, wie um das Geschehene abzuwischen.

»Ich mache dir einen Vorschlag«, lenkte er dann hastig ein. »Du gehst dieses eine Mal mit, und wenn du zurückkommst, magst du dich endgültig entscheiden. Das Mädchen wird doch ein Jahr auf dich warten können?« Er leckte sich über die Lippen und die List verengte seine Lider.

Tarkon fing lauthals an zu lachen.

»Wenn ich zurückkomme ... Gib dir keine Mühe, Großvater! Deinen Sohn mochtest du seinerzeit vielleicht mit deinen verführerischen Erzählungen von Abenteuern in fremden Ländern überzeugen können, bei mir stößt dein Gerede auf taube Ohren.«

»Ach, Tarkon! Weißt du, ich glaube, dass du einfach nur feige bist«, sagte der alte Mann scheinbar leichthin, doch in seiner Stimme lag höhnende Verachtung.

Tarkon schaute ihm daraufhin mit einem Blick, in dem gleichermaßen Scham und Hass zu lesen waren, lange und intensiv in die Augen. Doch dann entspannten sich seine Züge, und seine Lippen formten sich zu einem feinen Lächeln.

»Großvater, du weißt in deinem Herzen, dass das nicht wahr ist. Es ist der Schmerz der Enttäuschung, der dich dies hat sprechen lassen. Deshalb kann und will ich dir das nicht übel nehmen«, erwiderte er gelassen.

»Schon als Kind bin ich mit den Fischern selbst bei stürmischem Wetter hinausgefahren, um den Wal zu erlegen«, fuhr er weiter fort. »Was du für Feigheit nimmst, nenne ich Vernunft.«

Diese in sachlicher Form vorgebrachten Worte Tarkons verfehlten ihre Wirkung nicht, denn der alte Mann musterte daraufhin seinen Enkel mit einer Mischung aus Erstaunen und aufkeimendem Verständnis. Schmerzlich wurde ihm hierbei bewusst, wie sehr der Enkel auch in seiner beharrlichen und überlegenen Haltung seinem Vater glich.

Nein, der Junge hatte seinen Weg mit Bedacht gewählt, und nichts würde ihn davon abhalten können, ihn zielstrebig bis zum Ende zu gehen.

»Hm, nun gut«, räusperte er sich nach einer Weile verlegen. »Ich werde deine Entscheidung von nun an respektieren. Ob dein Entschluss der Richtige ist, wird die Zukunft dich lehren.«

Die beiden schauten wieder schweigend hinaus auf das Meer, wobei sich Tarkon ein heimliches Grinsen nicht verbeißen konnte.

Die Flut hatte inzwischen eingesetzt, und die flachen, sich sanft kräuselnden und bis dahin bleigrauen Wellenkämme begannen sich allmählich zartrosa zu verfärben.

Hinter ihnen, über den Dünentälern, war gelbrot leuchtend die Sonne aufgegangen.

Die Kinder der Sonne

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