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Kapitel 4

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Die, die Moruns erwartete, hatten zu diesem Zeitpunkt ganz andere Sorgen, mussten sie doch einen Weg finden, der zu dem Hochplateau hinaufführte. Ihre Eltern und Lehrer hatten ihnen nicht verraten, auf welche Art und Weise sie diese hohen und schroffen, zumeist sogar überhängenden Steilwände des Felsens überwinden konnten.

Diesen Weg zu finden gehörte zu den letzten Aufgaben, die sie zu lösen hatten, um sich ihrer letzten, großen Initiation würdig zu erweisen.

Dass es einen Pfad nach oben gab, wussten sie, nur wie – und vor allem, wo – sollten sie ihn finden?

So standen sie eine Weile ratlos zu Füßen des steil vor ihnen aufragenden Kliffs und schauten ein wenig beunruhigt in die Schwindel erregende Höhe.

Die Zeit begann ihnen nämlich davonzulaufen, denn nicht nur, dass sie bei Einbruch der Nacht im Heiligtum eingetroffen sein mussten, es schien ihnen auch ein hoffnungsloses Unterfangen zu sein, den Pfad in der Dämmerung zu finden und ihn dann womöglich im Dunkeln auch noch zu begehen.

Hektisch begannen sie über einige meist waghalsige Lösungsmöglichkeiten zu debattieren.

»Bei der Herfahrt habe ich festgestellt, dass sich die Nordostseite der Insel weniger steil zeigt als an dieser Stelle. Wie wäre es, wenn wir dahin aufbrächen, und den Aufgang dort versuchen?«, schlug Rullo vor.

»Ach ja? Bis wir dorthin gelangt sein werden, ist es wahrscheinlich schon dunkel«, verwarf Virina, ein Mädchen aus Urms Boot, den Plan.

»Und wenn wir hier einfach den Morgen abwarten würden ...«, fragte Ethra, eine Freundin Larunas, zaghaft.

»Hast du vergessen, was man uns gesagt hat? Wir müssen noch heute Abend das Heiligtum betreten, sonst war alles, was wir bisher getan und erkannt haben, umsonst«, wurde Ethra sofort von Urms unwirsch zurechtgewiesen.

»Ich glaube, ich habe die Lösung gefunden«, meldete sich da Tarkon zu Wort. »Es gibt auf dieser Insel nur einen einzigen Ort, der für eine Landung in Frage kommt, und das ist dieser hier. Ich habe mir nämlich die Insel, während wir sie umrundeten, sehr genau angeschaut. Und wenn dem so ist, dann bleibt uns nur übrig, genau hier nach dem ominösen Aufstieg zu suchen.«

»Genau hier, meinst du, hm?«, erwiderte Rullo lachend. »Genau hier, mein neunmalkluger Freund, ist zufällig die Stelle, an der der verdammte Felsen am höchsten und am steilsten ist!«

»Na und?«, kam Laruna ihrem Freund zu Hilfe. »Mir leuchtet Tarkons Gedanke ein. Erinnert ihr euch an unsere Unterweisungen? ›Wenn du denkst, deine Lage ist hoffnungslos, und du willst dich schon verloren geben, so schaue noch einmal genau hin, und du wirst letztlich doch einen Ausweg finden.‹ War es nicht so?«

»Genau daran musste ich denken«, nahm Tarkon den Faden Larunas dankbar auf. »Wir sollten ausschwärmen und jeden Fußbreit dieses Kliffs vor uns untersuchen. Ich bin mir sicher, dass der Pfad hier ist, ganz in unserer Nähe. Wir ...«

Er verstummte plötzlich und sah mit zusammengekniffenen Lidern angestrengt nach oben, während alle anderen, bis auf Laruna, die das plötzliche Stocken in seiner Rede wohl bemerkt hatte, von der Idee Tarkons überzeugt, johlend zum Fuße des Felsens liefen und fieberhaft mit ihrer Suche begannen.

»Komm, Laruna, ich möchte mir da etwas anschauen«, sagte er kurz und ging eiligen Schrittes zurück zu den Dünen.

Nachdem sie eine der höchsten erklommen hatten, begann Tarkon die Wand aufmerksam und intensiv zu mustern.

»Kannst du mir vielleicht erklären, was du da so interessiert betrachtest?«, fragte ihn Laruna ungeduldig nach einer Weile.

»Ich weiß nicht, Liebes, aber als ich vorhin den anderen meinen Vorschlag unterbreitete, glitt mein Blick wie zufällig an der Felswand entlang. Dabei bemerkte ich plötzlich eine Art Schatten oder feinen Riss, der stetig ansteigend quer zur Wand verläuft und der mir vorher nicht aufgefallen war. Der Riss ist, wie ich meine, erst bei Sonnenuntergang, gleichsam mit den letzten Sonnenstrahlen sichtbar geworden, und jetzt will ich wissen, wo er seinen Ursprung hat, denn ich bin mir fast sicher, dass dieser Riss unser Pfad nach oben ist!«

»Du hast Recht, Tarkon. Jetzt sehe ich ihn auch. Aber die anderen können ihn ja gar nicht bemerken, da sie viel zu dicht am Felsen suchen!«, rief Laruna aufgeregt.

»Ja, die anderen suchen nach einem Teil, während ich zuerst das Ganze sehen möchte«, zitierte Tarkon lachend einen Spruch Beruns’, dessen Stimme er dabei imitierte.

Dann, wieder ernst geworden, versuchte er noch für einen kurzen Moment den in seinem Verlauf wegen des Schattens, den der Fels in der aufkommenden Dämmerung warf, nur noch schwer auszumachenden Riss, bis zu dessen unterem Ende mit den Augen zu verfolgen.

»Ich meine, wir sollten unsere Suche dort hinten, bei den Büschen beginnen«, sagte er schließlich und wies auf eine rechts von ihnen, etwas weiter entfernt und unterhalb des Kliffs gelegenen Senke, die mit dichtem, etwa mannshohem Strauchwerk bewachsen war.

Sie rannten Hand in Hand zu der genannten Stelle und mussten sich zunächst durch das zum Teil dornige Unterholz quälen, bis sie endlich, ein wenig außer Atem gekommen und aus einigen Kratzern blutend, vor dem nackten Fels standen.

Aber da hatte ihre Suche auch schon ihr erfolgreiches Ende gefunden, denn als sie sich endlich aus dem wuchernden Gestrüpp herausgearbeitet hatten, gewahrten sie schon einen Lidschlag später zu ihrer Linken den Aufgang zu einem sehr schmalen und an seinem Rand schon leicht verwitterten Saumpfad, der sich vom Fuße des Kliffs ziemlich steil ansteigend in die Höhe zog.

Laruna konnte ihre Freude kaum verbergen und küsste Tarkon überglücklich auf den Mund.

Dann bahnten sie sich, so schnell sie eben konnten, wieder einen Weg durch das widerspenstige Buschwerk und riefen mit ihren Armen winkend die Gefährten herbei.

Kurz darauf hatten sich alle vor dem Aufgang versammelt.

»Es ist hier unten zwar schon recht dunkel geworden, aber ich denke, wir sollten jetzt dennoch den Aufstieg wagen. Wir werden einzeln, einer hinter dem anderen, gehen. Ich gehe als Erster, und du, Rullo, wirst als Letzter gehen und dafür sorgen, dass niemand zu Schaden kommt oder zurückbleibt. Der Pfad ist, wie ihr sehen könnt, nicht nur sehr schmal, sondern an seinem Saum auch ein wenig brüchig. Achtet also auf eure Füße!«, bestimmte Tarkon knapp und begann dann ohne Zögern seinen Aufstieg.

Wie viele Menschen mochten wohl diesen Pfad schon vor ihnen benutzt haben, musste sich Tarkon unwillkürlich fragen, als er bemerkte, wie ausgetreten der Weg doch war.

So stiegen sie eine geraume Weile schweigend hintereinander her, wobei sie sich an einigen Stellen, die nur wenig mehr als Fußesbreite maßen, nur ganz vorsichtig vorantasten konnten.

Aber endlich hatten sie es geschafft und standen schwer atmend auf der Hochfläche.

Die Dunkelheit war zwar schon hereingebrochen, doch hoben sich die Umrisse der mächtigen Halle, die auf einem kleinen, ziemlich in der Mitte des Plateaus befindlichen Hügels errichtet worden war, deutlich gegen den sternenübersäten Himmel ab. Warmes, freundliches Licht, welches aus den Giebelöffnungen und dem großen, zweiflügeligen Eingangstor strömte, wies ihnen außerdem noch den Weg.

Als befürchteten sie, vielleicht doch zu spät zu kommen, rannten sie wie ein Mann los und hielten erst vor dem Tor inne.

Sie nahmen in drei Reihen hintereinander Aufstellung und gingen dann, geführt von Laruna, Rullo und Urms, gemessen in das Innere des Heiligtums.

In der Mitte der Halle blieben sie stehen, und es dauerte einen Moment, bis sie Moruns wahrnahmen, der immer noch meditierend auf seinem Sessel saß.

Das durch den Bernstein goldrot gefärbte, funkelnde Licht ließ die statuenhafte Gestalt auf dem Stuhl für den Betrachter überirdisch erscheinen, was von der schimmernden Aureole um Moruns’ Haupt noch unterstützt wurde.

Von diesem Anblick völlig überwältigt, verharrten die jungen Leute eine kleine Ewigkeit in stummer Gebanntheit.

Es war Moruns, der das Schweigen brach.

»Sagt mir, wer ihr seid und was ihr hier wollt. Es sollen die sprechen, die dazu befugt sind«, ließ er leise seine melodische Stimme vernehmen, wobei er die Augen immer noch geschlossen hielt.

Natürlich wusste er, wer vor ihm stand und was man von ihm wollte, doch das uralte Ritual der Initiation verlangte diese Formel.

Die drei Sprecher traten vor, neigten den Kopf und erhoben ihre Arme zum heiligen Gruß, der allein dem Erwählten entgegengebracht werden durfte.

»Wir haben unsere Namen verloren und sind gekommen, unsere wahren Namen zu finden«, antworteten sie gemeinsam.

Jetzt öffnete Moruns seine Lider und begann jeden einzelnen der fünfunddreißig jungen Männer und Frauen nacheinander prüfend anzusehen. Tarkon fühlte ein leichtes Erschauern, als ihn der unwiderstehliche Blick Moruns traf.

Er spürte geradezu physisch, wie die machtvolle Aura dieser charismatischen Persönlichkeit in seine Seele und sein Bewusstsein drang und kurzzeitig von ihm Besitz zu ergreifen schien.

Gleichzeitig aber merkte er auch, dass seiner sich überschlagenden Gedankenflut Einhalt geboten wurde und eine nie gekannte Ruhe in seinem Herzen Einzug hielt.

Als sich der Geist Moruns aus Tarkons Bewusstsein zurückgezogen hatte, waren mit einem Male all seine Ängste und Sorgen verschwunden, und es blieb in ihm nur dieses wunderbare Gefühl einer ruhevollen Leichtigkeit.

Wie aus weiter Ferne hörte er auf einmal die klare Stimme des Erwählten.

»Zieht jetzt eure Kleider aus und seid, wie ihr geboren wurdet. Kniet euch nieder und wendet euer Gesicht nach Osten. Harrt so in Erwartung aus, bis der Morgen anbricht und die Strahlen der Sonne euch zu neuem Leben erwecken.«

Mechanisch befolgte Tarkon diese Anordnung – dann zogen sich Nebel in seinem Kopf zusammen, und sein Geist war von einer angenehmen Leere erfüllt.

Plötzlich war da ein gleißender Lichtpunkt, der aus dem Nichts heraus mit atemberaubender Geschwindigkeit auf ihn zuraste.

Längst hatte Tarkon jedes Gefühl von Raum und Zeit verloren, und willenlos gab er sich dem, was das Schicksal für ihn bestimmt haben mochte, hin.

Der Lichtpunkt hatte ihn nun erreicht und drang in sein Gehirn, wo er mit ohrenbetäubender Lautlosigkeit explodierte.

Als die grelle Helligkeit gewichen war, fand Tarkon sich schwebend in einer grenzenlosen Schwärze.

Irgendwann – für Tarkon schien eine Ewigkeit vergangen zu sein – materialisierten sich zwei spiralförmige und fast durchsichtige Nebelgebilde, das eine eisblau, das andere in zartem Rosa schimmernd, in der schwarzen Unendlichkeit und bewegten sich langsam rotierend aufeinander zu.

Als sie sich endlich berührten, hielten sie in ihrer Bewegung für einen Moment inne, um dann, wie in inniger Zärtlichkeit tanzend, ineinander zu fließen.

Dabei dehnte sich das nun zu einer Einheit gewordene Nebelwesen stetig im Rhythmus des Herzschlages pulsierend aus, wobei es sich ständig in Form und Farbe veränderte.

Schließlich hatte es sich zu einem gewaltigen, purpurrot leuchtenden Ball aufgebläht, welcher sich wie irrwitzig um die eigene Achse drehte, bis er mit einem Male abrupt zum Stillstand kam.

Der Nebelball begann sich nun einige Male konvulsivisch auszudehnen und wieder zusammenzuziehen, um sich dann noch ein letztes Mal zu einem gigantischen Volumen aufzublähen und danach lautlos unter ungeheuren Kaskaden aus Myriaden rot glühender Funken zu vergehen.

Tarkon wurde unvermittelt von einer Woge unbeschreiblichen Glücks und tiefer, in ihrer Hingebung von ihm fast schon als schmerzhaft empfundener, Liebe durchflossen, als einer der Funken seine Seele traf.

Geblendet von den gleißenden Entladungen und überwältigt von den intensiven, innige Geborgenheit vermittelnden Gefühlen, die sie aussandten, schloss Tarkon die Augen und ließ sich treiben in dem tiefen Frieden, der seine Seele umfing.

Als er die Augen wieder öffnete, sah er, dass das schwarze Nichts erhellt wurde von unzähligen funkelnden Lichtpunkten, und mitten darin schwebte die rotgoldene Scheibe der Sonne, die von dem weißsilber leuchtenden Mond begleitet wurde.

Und dann sandte die Sonne einen einzelnen feurigen Strahl aus, und der Mond sandte diesem einen kräftigen dunkelblauen Strahl entgegen.

An der Stelle, an der sich die Strahlen im Nichts trafen, vereinigten sie sich zu einer kreisenden, blaurot pulsierenden Sphäre.

Doch bald verebbte das Pulsieren, und die Sphäre löste sich allmählich bis auf wenige weiße Flocken auf. Aus ihrem Inneren aber war die Erde geboren worden, die nun, geformt aus rotem Land und blauem Wasser, ihren Platz zwischen Sonne und Mond einnahm. Die Flocken der Sphäre aber bildeten sich zu Wolken, die über die Erde zogen, um das Land mit ihrem Regen zu befruchten.

Tarkon spürte, wie er zuerst ganz sachte, dann aber immer schneller auf die Erde zuflog, bis sein Fall von den Wolken gebremst wurde und er gleich einer Feder sanft dem Boden entgegenschwebte.

Das Letzte, was er bewusst wahrnahm, war, dass sein Geist, von einem Sonnenstrahl eingehüllt in das Innere des Heiligtums gezogen wurde, wo er eintauchte in die in der Morgensonne rotgold glühende Pracht der Bernsteine und im Schoß vollkommener Harmonie in einen friedvollen Schlaf gewiegt wurde.

Um die Lippen Meruns spielte ein zufriedenes, wissendes Lächeln, als er wieder einen der vor ihm liegenden Bernsteine in seinem Inneren kurz und intensiv aufleuchten sah.

Die Kinder der Sonne

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