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Kapitel 3

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Die Abendsonne berührte schon fast die Meeresoberfläche, als sich das Schiff mit den dreizehn jungen Pilgern der heiligen Insel näherte.

Der frische, stets aus Ost wehende Wind hatte ihre Fahrt begünstigt, und so hatten sie das Ziel ihrer Reise früher erreicht als vermutet.

Anfänglich, nachdem sie in See gestochen waren, sangen und scherzten sie noch miteinander, doch je näher sie der Insel kamen, desto stiller wurde es an Bord, und ein jeder hing seinen Gedanken nach.

Tarkon hatte eine Weile am Heck neben Laruna gestanden und sich am Achtersteven festgehalten, da sich das Boot, bedingt durch den hohen Wellengang, immer wieder aufbäumte, gleich einem jungen Pferd, das zum ersten Mal seinen Reiter auf dem Rücken spürt.

Trotz der Tatsache, dass Tarkon seit seiner Kindheit mit der See vertraut war, blieb er dennoch anfällig für diese tückische, schon beim geringsten Schlingern des Bootes auftretende Übelkeit, die man gemeinhin Seekrankheit nannte. Von seinem Vater wusste er jedoch, dass nur das beständige Fixieren des Horizontes hilfreich war, um sich gegen dieses lästige Ungemach zu behaupten.

Diesen guten Rat hatte er auch jetzt befolgt, indem er seinen Blick beharrlich auf jene Linie in der blau dunstigen Ferne gerichtet hielt und darüber nachsann, was ihn und die anderen wohl auf der heiligen Insel erwarten würde.

Das Ritual der Initiation hatte seine Wurzeln in einer Zeit, als die Menschen noch heimatlos im Lande umherzogen und sich von der Jagd und dem Sammeln von Früchten ernährten. Sie wussten noch nicht Häuser zu bauen oder Äcker anzulegen, und ihr Leben wurde allein von dem Wechsel der Jahreszeiten und von Sonne und Mond bestimmt.

Sonne und Mond aber waren die Geschöpfe des großen, namenlosen Schöpfergeistes, der selbst vor Anbeginn aller Zeit aus der Ewigkeit und der Unendlichkeit geboren wurde.

Aus der liebenden Vereinigung zwischen Sonne und Mond war dann die Erde hervorgegangen. Die warmen, fruchtbaren Böden zeugten von der Mutterschaft der Sonne, die kühlen Wasser sowie die Felsen und Berge indes von der Vaterschaft des Mondes.

Und nachdem der Schöpfergeist den Samen des Lebens auf der Erde ausgesät hatte, teilten sich Sonne und Mond in elterlicher Pflichterfüllung die Aufgabe, das nun in Fülle aufkeimende Leben auf dem Land und in den Gewässern zu ernähren und zu behüten.

Auch der Mensch, der als letztes aller Lebewesen dem Samen des Schöpfers entsprossen war, lebte zunächst, genau wie die anderen Tiere und Pflanzen, in Harmonie mit den Gesetzen, die die allgegenwärtige Natur, jener kleine Teil seines Ichs, welches der Namenlose zum Schutze seiner Saat zurückgelassen, ihnen vorgegeben hatte.

Doch als der ewige Geistwanderer wieder einmal auf Erden erschien, bemerkte er mit Freude, dass die Menschen sich als verständiger und klüger vor allen anderen Wesen ausnahmen.

Er beschloss deshalb, ihnen mehr Anteil an seinem Geist zu geben, sodass sie in der Lage wären, fürderhin ihr Geschick und damit das der Erde selbst in die Hand zu nehmen und sorgsam zu verwalten.

Er zeigte ihnen die Macht des Feuers und ermahnte sie, nicht zu vergessen, dass sie die Kinder der Sonne und des Mondes seien, und dass sie es an Demut vor den Naturgeistern nicht mangeln lassen sollten, denn ihr Körper sei, wie der ihrer Mitgeschöpfe, allein deren Gesetzen unterworfen.

Da sie nun Anteil an seinem Geist hätten, sei zwar ihre Seele unsterblich geworden, nicht aber ihr Leib.

Und obwohl sie nun über ein eigenes Bewusstsein und Verstand verfügten, so blieben sie doch mit den Tieren und Pflanzen verwandt und sollten nie deren Sprache vergessen, damit sie sie benennen könnten, denn jedes Lebewesen hatte einen eigenen, nur ihm bekannten Namen, und wenn irgendjemand um diesen Namen wüsste, so hätte er die Möglichkeit, sich des in dem Namen innewohnenenden Zaubers im Guten zu bedienen. Aber der Geistwanderer hatte es außerdem so gefügt, dass neben dem jeweiligen Menschen noch ein weiteres Lebewesen, es konnte aber auch ein Stein oder ein Stern sein, denselben Namen in sich trug, sodass die beiden gleichsam Geistgeschwister in ihrem untrennbar verbundenen Schicksal waren.

Und seit dieser Zeit musste ein jeder Mensch, wenn er auch späterhin gelernt hatte, in Häusern zu leben, die Äcker zu bestellen und sich die Schätze des Bodens nutzbar zu machen, beginnend mit dem fünften Lebensjahr sich dem langwierigen Ritual der Initiation unterziehen, um so seinen eigenen, geheimen Namen in der Natur zu suchen und zu finden und damit auch seinen Geistbruder oder seine Geistschwester.

Doch war es ein langer Weg bis dorthin, und nicht alle erreichten das Ziel.

Die sich über viele Jahre hinziehende Unterweisung nahm ihren Anfang zunächst im Elternhaus, wobei die Eltern den kleinen Mädchen und Jungen Schritt für Schritt das wunderbare Wirken der Natur begreiflich machten.

Tarkon erinnerte sich daran, wie er einst mit seiner Mutter durch die Wiesen und Wälder in der Umgebung des Dorfes gewandert war. Sie hatte ihm dabei all die Bäume und Pflanzen, die sie fanden, und auch die vielen großen und kleinen Tiere, auf die sie bei diesen Streifzügen trafen, gezeigt und ihre Lebensweise erklärt. Mit der Zeit begann er so zu verstehen, dass jedes Geschöpf, und sei es auch noch so klein und unscheinbar, eine wichtige Aufgabe in dem ihm anfangs so kompliziert und verwirrend erscheinenden, aber in seinem sich am Ende als sinnvolle und harmonische Ganzheit darstellenden Gefüge der Natur, übernommen hatte.

In dem Maße, wie er sein Wissen um die Geheimnisse, die das Leben barg, vermehrte, wuchs auch seine Achtung vor der Kreatur, sodass er selbst den Käfer, der seinen Pfad während seiner ausgedehnten Wanderungen kreuzte, sorgsam auflas und ihn am Wegesrand absetzte, damit er nicht zufällig zertreten würde.

Und als er später mit auf die Jagd ging oder zum Fischen hinausfuhr, lernte er sich bei dem Geist des Tieres, das er notwendigerweise zu seiner Ernährung hatte töten müssen, zu entschuldigen, um damit seine Demut vor der Schöpfung zu zeigen.

Irgendwann aber begann sich das Interesse für den eigenen Körper zu regen – und für den des anderen Geschlechtes.

Damit war die Zeit gekommen, die eigene Persönlichkeit und deren Aufgabe im ewigen Kreislauf der Natur zu erkennen.

Dabei konnten die Eltern nur noch bedingt Hilfestellung leisten, zumal sie wussten, dass damit auch die allmähliche Loslösung vom Elternhaus eingeleitet wurde, die sie, so schmerzlich das oftmals war, zu unterstützen hatten.

Von diesem Zeitpunkt an begann die eigentliche Initiation, und die Unterweisung der Heranwachsenden wurde deshalb auch weitgehend von einigen älteren Frauen und Männern des Dorfes übernommen, die wegen ihrer weisen Erfahrung eigens dafür von der Dorfgemeinschaft erwählt wurden. Auch wurden die Jungen und Mädchen nun immer öfter getrennt voneinander unterrichtet, da es trotz der völligen Gleichstellung der Geschlechter gewisse Geheimnisse um das Frau- beziehungsweise Mannsein gab, die nur von Frau zu Frau oder eben von Mann zu Mann weitergegeben werden durften. So mussten sich die Mädchen in dieser letzten und wichtigsten Phase ihrer Initiation mit den uralten Mysterien, die sich um das Entstehen neuen Lebens und die Mutterschaft rankten, vertraut machen, wohingegen die jungen Männer in die nicht minder geheimnisvollen Riten der Jagd und des Kampfes eingeführt wurden.

Einige wenige durften zudem noch das hoch geachtete Handwerk der Bronzeschmiede erlernen, die ihre Kunstfertigkeit und das damit verbundene geheime Wissen um die Seele der Metalle ansonsten mit einem strengen Tabu für alle Außenstehenden belegten, dessen Bruch mit dem Tode bestraft wurde.

Die Initiation der Frauen stand naturgemäß unter dem Zeichen der Sonne, deren segnende Strahlen alljährlich aufs Neue das Leben zum Keimen brachte, während die Männer ihre Initiation unter dem Zeichen des Mondes erlebten, dessen kühles, silbernes Licht an den Tod, aber auch an die Gesetze des Metalls erinnerten. Doch wie die Frau etwas Männliches in sich trug und der Mann etwas Weibliches, so nahmen die beiden Gestirne in diesem Maße auch Einfluss auf die Initiation der beiden Geschlechter. So wurde der Regelzyklus der Frau vom Mond bestimmt, das schmelzende und formende Feuer der Essen hingegen hatte seinen Ursprung in der nie erlöschenden Glut der Sonne.

Gleichwohl aber erfuhr die Sonne von allen Menschen die höchste Verehrung, gab sie ihnen doch neben ihren Leben spendenden Strahlen auch noch Wärme und nahm ihnen die Angst vor den unheimlichen Schatten der Nacht.

Um dieser kindlichen Verehrung Ausdruck zu verleihen, hatten ihre Vorfahren vor langer, langer Zeit jenes geheimnisumwitterte Heiligtum auf der einsamen, mitten im Meer gelegenen Insel errichtet, welches die Jungen und Mädchen nun ansteuerten, um dort ihre Initiation zu einem wie auch immer gearteten, endgültigen Abschluss zu bringen.

Absichtlich wurden sie von ihren Eltern und auch später von ihren Lehrern über das, was sie dort vorfinden würden, im Unklaren gelassen. Man hatte ihnen lediglich erklärt, auf welchem Kurs sie ihr Ziel erreichen würden.

Zuletzt, nachdem das Schiff fertig gestellt worden war, hatte sich noch ein jeder, der an der Fahrt teilnehmen würde, weitab vom Dorf einen einsamen Ort gesucht, an dem er für drei Tage und drei Nächte ohne zu essen und zu trinken, ganz alleine mit sich und der Natur ausharren musste, um sich in Ruhe auf diesen großen Moment in seinem Leben vorzubereiten.

Dies alles war gerade an Tarkon vorbeigezogen, als er unvermittelt durch den Ruf: Land in Sicht! aus seinen Gedanken gerissen wurde.

In der Tat war die Insel, die im Wesentlichen von einem einzigen, gewaltigen Felsblock aus rotem Sandstein gebildet wurde, dessen hohe, steile Seitenwände schroff und abweisend in den Himmel ragten, am Horizont aufgetaucht.

Laruna ließ daraufhin beidrehen und das Segel reffen. Für einen Moment verharrte die Besatzung in ehrfürchtig staunendem Schweigen und versenkte sich in den Anblick der heiligen Insel, die sich in dem vom Abendrot gefärbten Meer schattenhaft vor der untergehenden Sonne abhob.

Doch dann unterbrach die Stimme Larunas die andächtige Stille. Sie ordnete an, dass nun alle wieder die Riemen aufzunehmen hätten. Erneut stimmte sie ein Ruderlied an und, wie um ihre aufsteigende Unruhe und Beklemmung zu besiegen, begannen sie alle in gleichmäßig kraftvollem Takt zu rudern.

Laruna wusste von ihrem Vater, dass es an der im Westen zugewandten Seite der Insel eine kleine Bucht geben müsste, die als Ankerplatz infrage kam.

Die Insel war umsäumt von schmalen Stränden und hohen Dünen, hinter denen sich karges, flachwelliges Grasland befand, welches sanft ansteigend bis zum Fuße des Felsens reichte.

Nur im Südwesten galt es Obacht zu geben, da es dort keinen Strand gab und der Felsen nahezu übergangslos aus der Brandung ragte, sodass der Bootsführer allenthalben mit Untiefen oder, schlimmer noch, mit tückischen, scharfkantigen Klippen dicht unter der Wasseroberfläche zu rechnen hatte.

Doch Laruna manövrierte das Schiff geschickt und unbeschadet um die Gefahrenstelle herum und bald hatten sie die kleine, seichte Bucht entdeckt, in die sie hineinruderten und hernach das Schiff an Land zogen.

Nachdem sie die Dünen erklommen und sich umgesehen hatten, gewahrten sie, dass noch zwei weitere Schiffe langsam um die gefährliche Felsnase bogen und auf die Bucht zusteuerten, worauf sie beschlossen, zurück zum Strand zu gehen, um die Neuankömmlinge zu begrüßen und ihnen beim Festmachen ihrer Boote behilflich zu sein.

»Ist euch aufgefallen, wie still es hier ist?«, fragte Tarkon, bevor sie hinuntergingen.

Tatsächlich lastete eine ungewohnte, aber nicht unangenehme und fast physisch spürbare Lautlosigkeit auf diesem seltsamen Ort, in der selbst das leise Geräusch der Brandung, das der Wind gelegentlich herübertrug, zu einem Teil verschmolz. Auch fehlte das laute und penetrante Gekrächze der Seevögel, die ansonsten die Inseln in weißbunter Vielzahl bevölkerten.

Außer ihnen selbst und den zwei Besatzungen, die gerade mit ihren Booten in die Bucht einliefen, war weit und breit nichts Lebendiges zu hören oder zu sehen.

»Das Heiligtum muss irgendwo da oben sein«, flüsterte Marths, der Sohn des Schmiedes Nums, und wies auf die steile Felswand hinter ihnen.

»Und es muss auch irgendwo einen Weg geben, der da hinaufführt«, ergänzte Laruna spitz. »Aber lasst uns zunächst zu den anderen gehen, dann sehen wir weiter«, ermunterte sie ihre Gefährten und sprang übermütig lachend den weichen Sand der Dünen hinunter.

Mit einer gewissen Erleichterung im Herzen folgten sie ihr daraufhin zurück zum Strand, fühlten sie sich doch seit der Ankunft der beiden anderen Boote nicht mehr so allein mit diesem für den im Augenblick so unlösbar erscheinenden Problem.

Inzwischen hatten die zwei Schiffe die seichte Uferzone erreicht und ihre Besatzungen wurden von den am Strand Wartenden freudig begrüßt, denn wenn sie auch aus verschiedenen, zum Teil entlegenen Ortschaften des Landes stammten, so kannten sie sich doch alle von den Festen her, die die Gemeinden im Laufe des Jahres ausrichteten und zu denen man sich in gut nachbarschaftlicher Art und Weise gegenseitig einlud.

Für die Fahrt zu der heiligen Insel war ein hochseetüchtiges Fahrzeug vonnöten, welches gegebenenfalls auch widrigen Wetterverhältnissen standzuhalten vermochte. Deshalb wurden die Boote auch in einer Größe gebaut, die eine Besatzung von mindestens zehn Leuten notwendig machte, um sie an den Wind zu bringen.

Nun fiel die Anzahl der Jugendlichen, die sich dieser Prüfung unterziehen sollten, in den einzelnen Dörfern naturgegeben alljährlich unterschiedlich aus, sodass es bisweilen nicht möglich war, dass jedes Dorf jedes Jahr aufs Neue ein Schiff, welches ausschließlich mit den eigenen Söhnen und Töchtern bemannt war, zu der heiligen Insel entsenden konnte.

So war es zum guten Brauch geworden, dass sich die jungen Leute aus denjenigen Gemeinden, bei denen dies in dem jeweiligen Jahr zutraf, zusammentaten, um gemeinsam ein Schiff zu bauen. Da sich nach der erfolgten letzten Initiaton auf der Insel traditionsgemäß das Wettrennen der Boote zur heimatlichen Küste anschloss und man jeder Mannschaft die gleichen Chancen zum Sieg einräumen wollte, war für diesen Anlass sowohl die Größe des Fahrzeugs als auch die Besatzungsstärke – sie durfte die Zwanzig nicht überschreiten – streng festgelegt worden.

In diesem Jahr gab es nur im Dorfe Beruns so viele Prüflinge, um ein eigenes Boot zu bemannen, während die Besatzung der zwei gerade einlaufenden Schiffe von den Jungen und Mädchen aus sechs anderen Dörfern gebildet wurde.

Das eine wurde von Rullo, dem wortkargen und stets mürrisch dreinblickenden Sohn des Dorfältesten einer großen, weiter im Norden gelegenen Siedlung geführt, das andere von Urms, dem Sohn eines Fischers aus dem Nachbardorf. Tarkon und Urms verband seit einigen Jahren eine innige Freundschaft, nachdem letzterer ihm einmal während einer Jagd auf einen Pottwal das Leben gerettet hatte. Die Fluke des harpunierten Tieres hatte damals das Boot, in dem Tarkon saß, in seinem wütenden Todeskampf zerschmettert, und Tarkon wurde dabei von einem zerbrochenen Ruderblatt derart am Kopf getroffen, dass er besinnungslos in dem vom Blut des Wales rot gefärbten, gischtenden Wasser zu ertrinken drohte. Geistesgegenwärtig hatte Urms sich darauf, jede Gefahr missachtend, aus seinem Boot, welches sich zu diesem Zeitpunkt glücklicherweise dicht hinter dem Tarkons befand, in das brodelnde Chaos gestürzt, um den ohnmächtigen Körper des ihm bis dahin nur oberflächlich bekannten Menschen unter Aufbietung all seiner Kräfte vor dem sicheren Tod zu bewahren.

An dies und an so manches andere Abenteuer, welches die beiden danach noch miteinander erlebt hatten, musste Tarkon denken, während er seinem Freund dabei zusah, wie dieser in aller Seelenruhe seiner Mannschaft letzte Anweisungen zum bevorstehenden Landemanöver gab.

Sobald die zwei Boote Sand unter den Kiel bekamen, sprangen ihre Besatzungen ins hüfthohe Wasser und zogen, unterstützt von Larunas Leuten, ihre Fahrzeuge mit vereinten Kräften auf den Strand, wo sie sie an mitgeführten Pfählen sorgsam vertäuten.

Hoch oben auf dem Felsplateau stand indes ein einsamer Mann und beobachtete aufmerksam, die muskulösen Arme vor der breiten Brust verschränkt, das emsige Treiben auf dem Strand zu seinen Füßen.

Er mochte etwa vierzig Jahre alt sein, und außer einem dunkelrot gefärbten wollenen Rock trug er nichts weiter an seinem athletischen Körper.

Sein von Askese geprägtes Gesicht und die Handflächen waren ebenfalls tiefrot gefärbt.

Dichtes, schwarzes, an den Schläfen schon leicht angegrautes Haar quoll ihm, nur von einem schmalen goldenen Reif auf der Stirn gebändigt, bis zu den Schultern.

Große mandelförmige, graugrüne Augen blickten wach über die scharfe, hochgezogene Wangenpartie.

Der anfänglich schmal verlaufende Rücken der geraden Nase verbreiterte sich im letzten Drittel merklich zu den Flügeln hin.

Das ungleiche Lippenpaar – die Unterlippe war wulstiger als die Oberlippe – gab den an sich angenehmen Zügen etwas Spöttisches.

Es war Moruns, der Erwählte, der Diener des namenlosen Schöpfergeistes und dessen strahlender Tochter, der Leben spendenden Sonne.

Moruns lebte ganz allein auf der Insel, um sich mit Leib und Seele dem Dienst des Namenlosen und der Sonnengöttin zu widmen.

Er war der alleinige Wahrer des letzten Geheimnisses der Schöpfung, welches ihm der Namenlose, indem er seinen Erwählten einst mit seinem Blitz berührte, anvertraut hatte.

So war es seit Urzeiten, und Moruns wusste, dass auch er kurz vor seinem Tod durch einen neuen Erwählten ersetzt würde, denn als er damals durch die Weisung des Gottes zur Insel gelangte, fand er seinen Vorgänger stumm und sterbend vor.

Es gab nur zwei Anlässe im Verlauf eines Jahres, zu denen Menschen die Insel besuchen durften, ansonsten unterlag das Anlaufen oder gar Betreten der Insel einem strikten Verbot, welches nur in extremen Notzeiten seine Gültigkeit verlor.

Der eine Anlass war die immer zur Wintersonnwende stattfindende Zusammenkunft der Dorfältesten, während der man die Ereignisse des vergangenen Jahres besprach und Pläne für das kommende schmiedete. Bei dieser Gelegenheit wurde der Erwählte auch mit Holz und Lebensmitteln versorgt, die bei dessen asketischer Lebensweise für ein Jahr ausreichten.

Der andere Anlass war die heilige Initiation, zu deren geheimnisvollem Abschluss sich alljährlich, wie auch jetzt, die Jungen und Mädchen versammelten, um ihre Bestimmung zu erfahren.

Moruns vermisste zwar die Gesellschaft anderer Menschen nicht sonderlich, freute sich aber dennoch, wenn er zweimal im Jahr Besuch erhielt, von dem er über all das unterrichtet wurde, was im Lande gerade geschah.

»Diese da werden den Weg hierher finden«, murmelte er, nachdem er sich einen ersten Eindruck von den jungen Leuten gemacht hatte, und warf einen letzten Blick hinunter zum Strand.

Dann wandte er sich um und schlenderte leise singend zum Heiligtum zurück.

Dieses Gotteshaus war zwar auch aus Holz gebaut worden, aber in seinen Abmessungen und seiner Pracht übertraf der Tempel der Sonne alle Bauten, die von Menschen je in diesem Land errichtet worden waren.

Sein äußeres Erscheinungsbild war dem profanen Versammlungshaus, wie es in jedem Dorf stand, angeglichen, doch war allein die zentrale Halle in ihrer Mitte so hoch, dass zehn Männer aufeinander stehen müssten, um den First berühren zu können.

Ihre Länge maß über fünfzig Schritte, und von Seitenwand zu Seitenwand konnten bequem mehr als dreißig Männer Schulter an Schulter stehen.

Die schwere Balkenkonstruktion des breiten, ausladenden Walmdaches wurde von acht, parallel zur Firstlinie angeordneten Säulenpaaren getragen, von denen jede einzelne Säule einen solchen Durchmesser besaß, dass zwei Männer Mühe hatten, sie mit ausgestreckten Armen zu umfassen.

Sie – wie auch die schlanken, die Seitenschiffe tragenden viereckigen Stützbalken – waren aus Eichenstämmen gezimmert und mit üppigem Schnitzwerk versehen worden.

In der Mitte der Halle stand ein ganz aus Bronze gefertigter dreiachsiger Wagen mit sechs hohen vierspeichigen Rädern und einer langen Deichsel. Auf seiner Lastfläche war eine zwölf Fuß im Radius messende Sonnenscheibe aus massiver, blank polierter und mit reichlich Gold intarsierter Bronze aufgestellt.

Das Kostbarste aber, was dieser Tempel in seinem Inneren barg, waren zweifellos seine ursprünglich mit hellem Lehm verputzten und mit der Zeit über und über mit Bernstein besetzten Innenwände.

Seit Anbeginn des Bernsteinhandels schon hatten die Menschen dieses Landes Jahr für Jahr einen Teil ihrer Ausbeute zu ihrem Heiligtum gebracht, um es zu Ehren der Sonnengöttin damit zu schmücken.

Dieser prachtvolle Wandschmuck bewirkte aber noch ein Schauspiel von ganz besonderer Art. In die beiden Giebel der in seiner Längsachse genau von Ost nach West ausgerichteten Halle, wie auch in der Mitte des Daches, war jeweils eine große runde Öffnung eingelassen worden, durch die an klaren Tagen am Morgen, am Mittag und am Abend die Sonnenstrahlen fielen, sich in den mattgoldenen und nahezu durchsichtig geschliffenen Steinen brach und so das Innere der Halle für einige Augenblicke in ein überirdisch, golden funkelndes Licht getaucht wurde.

Für Moruns waren diese, wenngleich auch nur kurzen Momente, die schönsten und erfüllendsten in seinem einsamen, kontemplativen Leben.

Jedes Mal, wenn er sie erleben durfte, war ihm, als wäre es das erste Mal, da sich die Lichteffekte in Farbe und Intensität immer wieder aufs Neue völlig anders darstellten.

Moruns hatte unterdessen die Halle betreten, welche, bedingt durch die einsetzende Abenddämmerung, nur noch spärlich erhellt wurde.

Trotzdem glimmte es an den Wänden hie und da noch manchmal golden auf.

An den seitlichen Stützpfeilern waren einfache Bronzehalterungen befestigt, in denen mit Waltran getränkte Kienspäne steckten. Moruns entzündete sie mittels eines dünnen Holzes, das er in dem vor dem Sonnenwagen stehenden, mit glühender Holzkohle gefüllten Feuerbecken in Brand gesetzt hatte.

Die unruhig flackernden Flammen der Fackeln bewirkten im Gegensatz zu dem hellen, steten Licht der Sonnenstrahlen, dass die Wände der Halle, bedingt durch die ungleichmäßige Reflektion der Steine, zu einem rotgold wabernden Leben erwacht zu sein schienen.

Als er damit fertig war, setzte er sich auf seinen auf einem Podest unterhalb der westlichen Giebelöffnung stehenden Lehnstuhl, dessen hölzerne Teile vollständig mit Goldblech überzogen waren.

In die lange Rückenlehne war über Haupteshöhe eine Verzierung in Form eines Strahlenkranzes in das Blech gehämmert, in dessen Mitte ein besonders großer, rund geschliffener Bernstein eingelassen worden war, welcher nun ebenfalls das tanzende Licht der Kienspäne zurückwarf.

Als Moruns auf seinem Sessel Platz genommen hatte, spiegelte sich der warme, flackernde Schein des Steines in dem Goldreif, den Moruns auf seiner Stirn trug, auf eine wundersame Weise wieder, sodass die Illusion entstand, das Haupt des Erwählten würde von einer schimmernden Krone aus lebendigem Licht geziert.

Moruns lehnte sich entspannt zurück, schloss die Lider und erwartete so in sich versunken die Ankunft seiner jungen Gäste.

Die Kinder der Sonne

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