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1. Kapitel

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»Ich habe erst soeben vom Ableben Eures Gatten erfahren, Mistress Kimberly. Darf ich Euch und Eurer Familie mein aufrichtiges Beileid aussprechen?«

»Ihr dürft, Kapitän Young, Ihr dürft«, hauchte Oralia Kimberly, deren braune Augen sich schon wieder mit Tränen zu füllen drohten. »Aber sagt mir doch, was führt Euch nach St. Timothy? Ich habe Euch nicht mehr gesehen, seitdem Robert und ich vor zwei Jahren – oder waren es drei? – unsere letzte Reise nach Jamaika antraten.«

»Es ist drei Jahre her, Ma’am«, entgegnete der Kapitän, erinnerte sich dann an den eigentlichen Grund seines Kommens und überreichte Oralia Kimberly einen Brief. »Man hat mir dieses Schreiben in Plymouth anvertraut, Mistress Kimberly. Es ist an Euren verstorbenen Gatten gerichtet und trägt ein ungemein beeindruckendes Wappen – wenn ich mir die Freiheit erlauben darf, das anzumerken.«

»Aber ja, Kapitän, und Ihr habt Recht.« Ein Lächeln umspielte Oralia Kimberlys Lippen. Barnabas Young war zwar berüchtigt für seine Klatschsucht, aber nur durch Leute wie ihn erfuhr sie überhaupt, was jenseits ihrer Insel vor sich ging. »Die Handschrift sagt mir gar nichts«, stellte sie nun fest und fügte gleich darauf hinzu: »Ich glaube, ich lasse Aurora den Brief öffnen, als Erbin ihres Vaters.«

»Ich hoffe, er hat Missy Calandra und Master George auch ein bisschen etwas hinterlassen«, sagte der Kapitän, der eindeutig darauf spekulierte, auf diese Weise weitere Neuigkeiten zu erfahren.

»Oh, aber natürlich«, versicherte ihm Oralia. »Robert hat sich meinen Kindern gegenüber sehr großzügig erwiesen, auch wenn sie nicht sein eigen Fleisch und Blut waren. Calandra, etwa, bekommt eine Apanage von fünftausend Pfund im Jahr und erhält vorab eine Summe von tausend Pfund aus dem Nachlass. Und selbstverständlich hat es George noch besser getroffen, Kapitän Young. Immerhin ist er der junge Mann der Familie«, erklärte Oralia und dachte: So, da hat der alte, geschwätzige Seebär etwas zu erzählen, wenn er mit seinem Schiff von Insel zu Insel schippert, und meine Kinder kommen als gute Partie ins Gespräch.

Oralia und Robert waren so zufrieden mit ihrem Familienleben gewesen, dass sie gar nicht über die Zukunft ihres Sohnes und ihrer beiden Töchter nachgedacht hatten. Aber nun, verwitwet, die Kinder ohne väterlichen Beistand, musste Oralia Kimberly nach vorn sehen. Aurora war zwar nicht ihr leibliches Kind, aber sie hatte das Mädchen in ihre Obhut genommen, als es drei Jahre alt gewesen war und betrachtete es mittlerweile als ihre eigene Tochter. Und Aurora erinnerte sich bestimmt nicht mehr an ihre leibliche Mutter.

»Werdet Ihr zum Dinner bleiben und bei uns übernachten?«, fragte Oralia nun den Kapitän, da es die Höflichkeit gebat.

»Vielen Dank für die Einladung, Mistress Kimberly, aber es ist ja noch nicht einmal Mittag. Ich muss noch einige Inseln anlaufen, bevor ich in Jamaika meine Ladung aufnehme und wieder gen England segele. Ich hoffe, die Reise noch einige Male machen zu können, bevor in diesen Gewässern die stürmische Jahreszeit anbricht.« Er tippte sich an die Kapitänsmütze und verbeugte sich leicht. »Den Brief habt Ihr Ma’am, ich muss nun weiter. Schönen Tag noch!«

»Euch auch, Kapitän, und vielen Dank.« Oralia Kimberly sah dem Seemann noch eine Weile nach, wie er die Hügelstraße hinab dem Hafen zustrebte. Dort unten in der Bucht von St. Timothy lag sein großmastiges Schiff vor Anker und bewegte sich sacht auf den Wellen. Schließlich wandte Oralia ihre Aufmerksamkeit wieder dem Schreiben zu, das ihr der Kapitän überbracht hatte. Es trug in der Tat ein äußerst beeindruckendes Wappen, welches sich auch auf der Rückseite im Siegel wiederfand, das Oralia nun brach.

Es war nur eine Ausflucht gewesen, mit dem Lesen der Mitteilung auf Aurora warten zu wollen, damit Oralia den Brief nicht in Gegenwart des Kapitäns öffnen musste. Denn bei seiner Neugierde wäre es ihr sicher schwer gefallen, den Inhalt des Schreibens für sich zu behalten.

Nun ließ sie den Blick über die Zeilen gleiten und rief schließlich entsetzt aus: »Gütiger Gott!«, bevor sie auf einen Sessel sank und sich mit dem Pergamentpapier Luft zufächelte. »Oh, Robert, warum hast du mir bloß nichts davon erzählt?«, sagte sie dann, als wäre ihr geliebter Gatte noch am Leben.

In diesem Augenblick betrat ihr Sohn George das luftige Frühstückszimmer. »Na, Mama, schimpfst du schon wieder mit Papa?«, neckte er sie liebevoll und nahm den breitkrempigen Hut ab, den er gegen die bereits um diese Uhrzeit heftige Sonneneinstrahlung getragen hatte. »Ich glaube nicht, dass er dich noch hören kann.«

Wortlos reichte Oralia Kimberly ihrem Sohn den Brief.

Nachdem er das Schreiben gelesen hatte, fluchte er leise vor sich hin. »Weiß Aurora schon davon, Mama?«

Seine Mutter schüttelte den Kopf. »Ich erinnere mich, dass Robert mir gegenüber einmal erwähnt hat, er habe für sie eine Heirat arrangiert. Aber das ist Jahre her, und er hat nie wieder davon gesprochen. Wenn ich ehrlich sein soll, war es mir auch entfallen.« Oralia senkte den Kopf, sah ihren Sohn aber gleich darauf freudestrahlend an. »Oh, George, stell dir doch einmal vor: Aurora wird Herzogin!«

Doch George teilte die Begeisterung seiner Mutter darüber nicht und brach stattdessen in schallendes Gelächter aus.

»Aber, George!« Entrüstet sah Oralia Kimberly ihren Sohn an, der sich das Lachen schließlich nur mühsam verbeißen konnte.

»Nun, Mama, du wirst schon zugeben müssen, dass das Ganze etwas sehr Erheiterndes hat. Ich will unbedingt dabei sein, wenn du Aurora die Neuigkeit überbringst, dass ihr zukünftiger Gemahl sich bereits auf hoher See befindet, um in ihre weit geöffneten Arme zu segeln, dort vor Anker zu gehen und ihr unschuldiges Mädchenherz im Sturm zu erobern.« Wieder schüttelte sich George vor Lachen und konnte sich diesmal auch nicht so schnell beruhigen.

»George, du bist einfach unmöglich! Verstehst du denn gar nicht, welche Auswirkung dieses Arrangement für uns alle hat? Aurora wird Herzogin von Farminster. Die Insel ist ihre Mitgift. Was wird denn dann aus uns, und besonders aus dir?«

George Spencer-Kimberly zuckte die Achseln. »Ich bezweifle doch stark, dass der Herzog uns von hier vertreibt, nur weil er durch eine Heirat mit Aurora in den Besitz der Insel gelangt, Mama. Ich bin sicher, dass er mir auch weiterhin die Aufsehertätigkeit der Plantage überlässt. Außerdem habe ich noch die großzügige Summe, die Papa mir hinterlassen hat, von der jährlichen Apanage ganz zu schweigen. Und du kannst sicherlich auch bleiben. Unser Verwandter in spe schickt seine hübsche Schwiegermutter wohl kaum packen.«

»Wie immer hast du Recht«, erklärte Oralia schon viel gelassener und lächelte sogar bei der Vorstellung, dass Calandra Aurora nach England begleiten und ebenfalls einen adligen Gemahl finden konnte, wenn sie dort in die Gesellschaft eingeführt wurde.

Dies äußerte sie auch gleich ihrem Sohn gegenüber und fügte dann noch hinzu: »Natürlich darf sie nicht auch auf einen Herzog hoffen. Aber ein nicht ganz so vermögender Graf wäre sicher entzückt, ein Mädchen zu ehelichen, das eine jährliche Pension von fünftausend Pfund erhält. Auch wenn ich sehr ungehalten darüber bin, dass Robert – Gott habe ihn selig! – mir nichts von dieser Heiratsvereinbarung erzählt hat, ist sie für uns letztendlich doch ein Glücksfall. Meinst du nicht auch, George?«

»Nur, wenn Aurora sich nicht querstellt.«

»Warum sollte sie das tun? Kein Mädchen, das klar bei Verstand ist, würde einem Herzog einen Korb geben.«

»Aurora schon«, entgegnete der junge Mann seiner Mutter, bevor er sich zu ihr setzte. »Du und Papa habt die beiden Mädchen ganz schön verzogen. Cally sieht entzückend aus und kann sehr charmant sein, aber im Grunde ist sie eine eitle, geldgierige kleine Hexe. Und was Aurora betrifft: Sie ist mit Sicherheit das starrköpfigste Mädchen der Welt. Wenn ihr diese Heirat nicht passt, geht sie sie auch nicht ein. Gott helfe dem Mann, der eines Tages das Schicksal herausfordert, und Aurora vor den Traualtar führt. Ohnehin glaube ich, dass sie nur heiraten wird, wenn sie es selbst für richtig hält, Mama. Aurora ist kein Mädchen, das schüchtern abwartet, bis irgendjemand um ihre Hand anhält.«

»Oh, George, was sollen wir bloß tun?« Wieder standen Oralia Tränen in den Augen. »Der Herzog kommt doch den ganzen weiten Weg von England hierher, um deine Stiefschwester zur Frau zu nehmen. Es wäre ein Skandal, wenn sie ihn nun zurückwiese, besonders nachdem Robert das alles arrangiert hat.«

»Mit welchem Schiff ist er gleich wieder unterwegs?«

»Mit der Royal George. Sie soll am zehnten Februar von Plymouth aus in See gestochen sein.«

»Dabei handelt es sich um ein sehr elegantes, wendiges Passagierschiff, das kaum Fracht an Bord hat«, stellte George fest. »Es wird sicherlich spätestens am neunten März hier einlaufen, vorausgesetzt, es gerät in kein Unwetter. Aber da sie südwärts segeln, müssen sie um diese Jahreszeit wohl nichts befürchten, und die Reise wird glatt verlaufen. Nachdem der Kapitän hier Station gemacht hat, um den Herzog von Bord zu lassen, segelt er gewiss weiter nach Barbados, St. Kitts und Tobago.«

»Wie lange wird der Herzog wohl bei uns bleiben?«, überlegte Oralia nun laut, bevor sie sich die Frage selbst beantwortete. »Wahrscheinlich will er so schnell wie möglich nach England zurückkehren. Das bedeutet, uns bleibt nicht viel Zeit, um die Hochzeit vorzubereiten und Auroras Aussteuer und Callys Besitztümer zusammenzupacken. Mein Gott, George, das ist einfach unmöglich!«

George belächelte die Bedenken seiner Mutter und fragte: »Wann willst du Aurora davon erzählen, Mama?«

»Sofort, George!« Oralias hübsches Gesicht hatte einen entschiedenen Ausdruck angenommen. »Deine Stiefschwester muss auf der Stelle davon erfahren, damit sie sich an den Gedanken gewöhnen kann. Sicherlich wird ihr diese Neuigkeit zunächst einen Schrecken einjagen. Aber wenn alles besprochen und in die Wege geleitet ist, erkennt sie bestimmt, dass ihr Vater mit diesem Arrangement nur ihr Bestes wollte. Du hast gewiss Recht damit, George, dass Aurora ziemlich starrköpfig sein kann, aber sie ist auch ein sehr intelligentes Mädchen und wird schon vernünftig sein. Bestimmt will sie ihren Vater nicht enttäuschen, selbst wenn er nun nicht mehr unter uns weilt.«

»Ich kann nur beten und hoffen, dass du Recht hast, Mama«, antwortete George, der die Zuversicht seiner Mutter nicht teilte.

Ja, Aurora war blitzgescheit, und genau darin lag seiner Meinung nach das Problem. Ein einfaches, gehorsames Mädchen würde einige Tränen vergießen, wenn man ihm erzählte, dass es einen Fremden heiraten und seine Familie verlassen sollte. Aber dann würde es sich in sein Schicksal fügen. Selbst Calandra, seine jüngere Schwester, die auch nicht einfach war, würde erkennen, welche Vorteile sich aus einer derart arrangierten Ehe ergaben. Mit Freuden würde sie einen Herzog zum Manne nehmen, aber Aurora nicht. Sie würde die Situation abwägen und selbst entscheiden, was für sie und ihre Familie das Beste war.

Und was war dann mit der getroffenen Vereinbarung?, überlegte George, bevor er seiner Mutter zunickte und davoneilte, um sich frisch zu machen, da es bald Zeit zum Mittagessen war.

Auf dem Flur des ersten Stocks begegnete er Calandra.

»Sally hat mir erzählt, Kapitän Young sei heute Morgen hier gewesen«, sagte sie. »Stimmt das, George?«

Ihr Bruder nickte. »Er hat einen Brief gebracht, Cally.«

»Von wo denn? Von England? Und von wem? Was steht drin?« Calandra Spencer-Kimberly war ein besonders hübsches Mädchen und gewohnt, Antworten auf ihre Fragen zu bekommen.

»Ich habe absolut keine Ahnung«, log ihr Bruder deshalb, der seiner Mutter nicht vorgreifen wollte. »Ich glaube, Mama, beabsichtigt, uns beim Essen davon zu erzählen.«

»Dann muss es ja etwas ganz Wichtiges sein, George«, stellte Calandra fest.

»Ich will mich rasch frisch machen. Draußen auf den Feldern ist es verdammt heiß, und du solltest dich auch besser anziehen, Schwesterchen. Oder willst du nicht wissen, welche Neuigkeiten Mama für uns hat? Wo ist eigentlich Aurora?«

»Schwimmen mit Martha«, erklärte Calandra in einem Ton, der ihr Missfallen darüber zum Ausdruck brachte, noch bevor sie fortfuhr: »Ich finde es anstößig, dass Aurora nach wie vor nackt im Meer badet. Das ist doch nur etwas für kleine Kinder. Sie wissen es schließlich nicht besser. Ich verstehe gar nicht, was Aurora daran findet! Ich habe mich immer so klebrig gefühlt, nachdem ich im Salzwasser geschwommen bin.«

»Du hast doch nur ein bisschen herumgeplantscht, Cally«, neckte George sie nun, »und Schwimmen nie wirklich gemocht so wie Aurora und ich. Nun, wenn Martha bei ihr ist, wird sie sicherlich rechtzeitig zum Essen zurück sein und sich Mamas Neuigkeiten anhören können.«

Daraufhin verschwanden Bruder und Schwester jeweils in ihrem Zimmer, um sich kurze Zeit später im Speisezimmer des Hauses wiederzutreffen, wo ihre Mutter und Stiefschwester sie bereits erwarteten.

»Wie kannst du an einem derart heißen Tag nur so frisch aussehen?«, murrte Calandra, als sie Aurora beim Hereinkommen maß.

Aurora Kimberly lachte. »Weil ich den Morgen damit verbracht habe, mich nackend im Meer zu vergnügen, Cally. Es war ganz herrlich, und du solltest mich das nächste Mal lieber begleiten, anstatt bis kurz vor zwölf im Bett zu liegen.«

»Meine Haut ist viel zu zart, um sie der sengenden Sonne auszusetzen«, entgegnete Calandra. »Du weißt doch, dass ich dann immer ganz rot werde und aussehe wie gekochter Hummer.«

Wieder musste ihre Stiefschwester lachen. »Du brauchst ja nicht so lange draußen zu bleiben wie ich, Cally. Nur ein kurzes Bad im Meer zur Abkühlung, und dann wieder hinein in die Kleider. Du könntest auch spät nachmittags schwimmen gehen, wenn die Sonne nicht mehr so hoch steht, oder ganz früh morgens, kurz vor Sonnenaufgang.«

Nun war es an Calandra, zu lachen. »Du weißt doch, dass ich nicht so eine Wasserratte bin wie du. Unabhängig davon, würde ich vor Scham im Erdboden versinken, wenn mich jemand dabei sähe. Eines Tages wird dich irgend so ein gottloser Pirat beim Baden im Meer entdecken und mitnehmen. Du solltest lieber vorsichtig sein, Aurora.«

»Da, wo ich bade, kommt bestimmt kein Piratenschiff hin«, erwiderte Aurora gelassen, »und dort sieht mich auch sonst niemand, Cally. Stimmt doch, George? Du weißt ja, wo meine kleine Bucht ist, nicht wahr?«

»Ja, da bist du sicher«, pflichtete ihr ihr Stiefbruder bei, bevor alle an dem schönen Mahagonitisch Platz nahmen – Oralia am Kopfende, ihr Sohn zu ihrer Rechten und ihre Töchter zu ihrer Linken. Ein Diener schöpfte klare Schildkrötensuppe in die Teller.

Der Stirnseite des Tisches gegenüber standen die französischen Türen zur Veranda weit offen, und die zarten Musselinvorhänge wehten in der sanften Brise. Jenseits der Veranda erstreckte sich die ruhige blaugrüne See.

Nachdem Calandra rasch ihre Suppe gelöffelt hatte, fragte sie neugierig: »Von wem war der Brief, den du heute bekommen hast, Mama?«

Oralia überraschte die Frage ihrer Tochter nicht. Calandras Kammerzofe Sally hatte zweifellos beobachtet, wie Kapitän Young bei ihr vorgesprochen hatte. Dass George Calandra auf dem Flur begegnete war, konnte Oralia ja nicht wissen. »Der Brief war nicht an mich, sondern an deinen Vater gerichtet«, erklärte sie nun, bemüht, die Stimme ruhig zu halten. »Es scheint so, als habe euer Vater vor vielen Jahren in England mit einem alten Freund ein Abkommen getroffen, dass dessen Sohn eines Tages Aurora zur Frau nehmen soll.«

»Wie bitte?«, fuhr Aurora auf, aber ihre Stiefmutter ließ sich nicht beirren.

»Der junge Mann befindet sich bereits auf dem Weg hierher und wird in wenigen Wochen mit der Royal George bei uns eintreffen.«

»Am besten bleibt er gleich auf dem Schiff!«, sagte Aurora nun wütend.

»Aurora, das ist nicht irgendein junger Mann, der ein Auskommen sucht und dich heiraten will, weil du eine reiche Erbin bist. Bei ihm handelt es sich um Valerian Hawkesworth, den Herzog von Farminster. Er ist sehr reich und genau der Mann, den die Erbin einer Zuckerrohrplantage heiraten sollte.«

»Mein Gott, Aurora!« Mit großen Augen sah Calandra ihre Stiefschwester an, bevor sie nicht ohne Neid feststellte: »Du wirst Herzogin!«

»Nein, das werde ich nicht, Cally!« Aurora blieb stur, und ihre Stiefmutter schaltete sich wieder ein.

»Aurora, ich verstehe ja, dass das für dich sehr überraschend kommt. Es war äußerst unbedacht von deinem Vater, uns nichts von diesem Arrangement zu erzählen, zumal er jetzt nicht mehr unter uns weilt.«

»Papas Pferd hat ihn abgeworfen, Mama«, erinnerte Aurora sie da. »Das hat er wohl kaum vorhersehen können.«

»Nein, wohl nicht, aber aus der Heiratsvereinbarung geht hervor, dass du mit siebzehn die Ehe eingehen sollst, und am sechsten April ist dein Geburtstag. Da hätte dein Vater vorher doch wirklich etwas sagen können. Ich weiß nicht, wann er es dir hat erzählen wollen, meine Liebe. Aber er weilt jetzt nun einmal nicht mehr unter uns, und der Herzog befindet sich auf dem Weg hierher, um dich zur Frau zu nehmen. So, nun weißt du Bescheid, Aurora, und wir werden auch einige Tage nicht mehr darüber sprechen, damit du dich an den Gedanken gewöhnen kannst.« Oralia lächelte in die Runde und wandte sich dann an ihren Diener: »Du kannst den Kapaun jetzt auftragen, Hermes.«

»Ich werde mich niemals an diese Idee gewöhnen, Mama«, widersprach ihr da Aurora. »Ich habe nämlich keineswegs vor, einen englischen Herzog zu heiraten, den ich noch nie gesehen habe und wahrscheinlich auch kein bisschen mögen werde. Außerdem müsste ich dann die ganze Zeit in England leben und womöglich bei Hofe erscheinen, um diesem deutschen König zu huldigen. Ich hasse Deutsche, Mama! Kannst du dich noch an den Aufseher erinnern, den wir mal hatten? Das war doch ein schrecklicher Mensch!«

»Man kann doch nicht ein ganzes Volk wegen eines einzelnen Mannes verurteilen, Aurora! Ich dachte eigentlich, ich hätte dich eines Besseren belehrt. Abgesehen davon, ist der König ein alter Mann und wird wahrscheinlich nicht mehr lange leben. Sein Enkel, Prinz George, soll nett und wohlerzogen sein. Ein richtiger Engländer eben. Wenn er einmal König ist, wird er sich mit jungen Menschen umgeben und Hof halten, wie es sich geziemt. Es wird dir dort gefallen, meine Liebe.«

»Nein«, widersprach Aurora und klang sehr bestimmend.

»Wir reden in ein paar Tagen noch einmal darüber, mein Kind.«

»Nein, Mama, wir sprechen jetzt darüber! Ich werde keinen Fremden heiraten und mit ihm in ein Land gehen, das für sein nasskaltes Klima bekannt ist, um dort ein Leben zu führen, das ich jetzt schon verabscheue.«

»Das wäre mir einerlei«, sagte Calandra. »Wenn ich dadurch Herzogin werden könnte und bei Hofe vorgelassen würde, würde ich sogar den Teufel höchstpersönlich heiraten! Du bist wirklich töricht, Aurora. Papa hat dir diese wunderbare Zukunftsaussicht ermöglicht, und du zeigst dich so undankbar. Wenn er mich einem Herzog versprochen hätte, würde ich keine Sekunde zögern!«

»Aber Cally! Würdest du wirklich einen Mann heiraten, den du vorher noch nie zu Gesicht bekommen hast – einen völlig Fremden? Ich glaube, du bist hier die Törichte!«

»Heiraten werden immer arrangiert«, widersprach Calandra ihrer Stiefschwester, lenkte dann aber ein: »Also gut, du hast diesen Mann noch nie gesehen. Doch es wird sich bei ihm wohl kaum um ein Ungeheuer handeln! Und du darfst nicht vergessen: Auch er kennt dich nicht. Ich bin sicher, dass er sich während der langen Tage auf See überlegt, ob du wirklich das Mädchen bist, das er zu seiner Herzogin machen möchte. Aber er wird seiner Pflicht nachkommen, weil sein Vater diese Heiratsvereinbarung getroffen hat.«

»Für seine Bemühungen bekommt er immerhin eine Zuckerrohrplantage und diese Insel.«

»Und du die Würden einer Herzogin!«, entgegnete Calandra.

»Ich will sie nicht«, erwiderte Aurora gereizt.

»Du dummes Ding! Du bist wirklich total verzogen!«, fuhr Calandra ihre Stiefschwester nun an. »Ich wünschte, mir würde diese Möglichkeit gegeben.«

»Willst du den Herzog tatsächlich haben, Cally? Ich schenke ihn dir. Meinetwegen heirate du diesen Valerian Hawkesworth!«

»Aber, Aurora, das ist doch völlig unmöglich!«, warf nun ihre Stiefmutter ein.

»Warum denn?« Aufgebracht strich sich Aurora eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »Hast du diese Heiratsvereinbarung gesehen, die Papa arrangiert hat, Mama? Was steht denn da genau drin?«

»Das kann ich dir auch nicht sagen, mein Kind.«

»George, geh in Papas Bibliothek und sieh in der Metallkassette auf seinem Schreibtisch nach! Ich verwette eine Jahresernte Zuckerrohr, dass du die Vereinbarung darin findest. Und bring sie dann sofort her«, befahl Aurora ihrem Stiefbruder, bevor sie ihre Stiefmutter auf eine Art und Weise ansah, die die arme Frau völlig durcheinander brachte. »Wir werden ja sehen, ob es nicht doch eine Möglichkeit gibt, mich aus der Affäre zu ziehen. Dieser Herzog hat vielleicht Nerven! All die Jahre hat er sich kein einziges Mal gemeldet und bildet sich jetzt ein, er könnte mal eben hier vorbeikommen und mich heiraten!«

Calandra kicherte. »Ich könnte eine Jahresernte darauf verwetten, dass der Herzog entsetzt ist, wenn er feststellt, was du für ein Mädchen bist, Aurora. So weit man mir erzählt hat, mögen Männer es nicht, wenn eine Frau ihnen die Meinung sagt. Du wirst deine Umgangsformen wohl ändern müssen.«

»Pah!«, antwortete Aurora verächtlich. »Der Mann, der mich heiratet, wird mich schon so nehmen müssen, wie ich bin. Ich lasse mich nicht verformen wie eine Wachsfigur. Davon abgesehen, Cally, woher willst du überhaupt wissen, was ein Mann sich von einer Frau erhofft? Du hast St. Timothy doch nicht verlassen, seitdem du damals anlässlich der Hochzeit unserer Eltern hergekommen bist. Auch wenn du auf Jamaika geboren wurdest, weißt du nicht mehr von Männern als ich!«

»Du hast Recht, wir sind beide total rückständig und vereinsamt«, jammerte Calandra. »Ich verstehe überhaupt nicht, warum Papa darauf bestanden hat, dass wir erst mit siebzehn eine Ballsaison in England miterleben dürfen. Er hat uns ja nicht einmal Jamaika besuchen lassen. Wenn wir endlich unter die Leute kommen, denken die anderen bestimmt, wir seien Wilde.« Betrübt schob sie den Teller von sich. »Mir ist der Appetit vergangen, Mama.«

In diesem Augenblick kam George zurück und wedelte mit einem Blatt Papier. »Du hattest Recht, Aurora«, sagte er und gab ihr das Schriftstück, bevor er wieder Platz nahm. »Es war in Papas Metallkassette. Hat eigentlich seit seinem Tod niemand die Kassette durchgesehen? Das Ding ist voll gestopft mit irgendwelchen Unterlagen.«

Oralia und Calandra schüttelten den Kopf, während Aurora das Schreiben öffnete und aufmerksam durchlas. Plötzlich erhellten sich ihre Züge und sie lachte leise, bevor sie ausrief: »Da ist sie, die Lösung meines Problems, Mama! Nach dem Vertrag hier ist diesem Valerian Hawkesworth eine Charlotte Kimberly versprochen. Zwar bin ich auf den Namen Charlotte Aurora getauft, aber Callys erster Name ist ebenfalls Charlotte. Du weißt doch noch, Mama, dass Papa und du nach eurer Hochzeit beschlossen habt, Calandra und mich bei unserem zweiten Vornamen zu nennen, um keine zu bevorzugen und Eifersüchteleien von vornherein zu vermeiden. Hier ist nicht ausdrücklich die Rede von einer Charlotte Aurora Kimberly, sondern nur von einer Charlotte Kimberly. Wenn Cally den Herzog also heiraten möchte, steht dem nichts im Wege. Da er mich nie zuvor gesehen hat, bemerkt er den Unterschied bestimmt nicht.«

»Nein, nein, Aurora, so etwas dürfen wir nicht tun!«, widersprach Oralia.

»Wieso nicht, Mama?«

»Nun, ganz einfach«, erklärte ihre Stiefmutter und hoffte, Aurora eine logisch klingende Antwort zu geben. »Der Herzog erwartet, die Erbin von St. Timothy zu heiraten, und nicht ein Mädchen mit fünftausend Pfund Apanage im Jahr und einigen Juwelen. Calandras Mitgift wäre für einen Herzog von Farminster einfach nicht ausreichend.«

»Mama«, kam Aurora ihr nun mit einem ebenso logischen Einwand, »wenn dieser Herzog den ganzen weiten Weg von England hierher kommt, um eine Charlotte Kimberly zu heiraten, dann tut er das, weil er ein bestimmtes Ziel verfolgt. Er wird sicher nicht einfach so nach England zurückkehren, wenn er erfährt, dass Charlotte Kimberly ihn nicht heiraten will. Dabei geht es gar nicht um mich. Wie auch? Er kennt mich ja überhaupt nicht.

Die Insel und die Plantage sind der Anreiz für diesen Mann, herzukommen. Er wird sich nicht damit zufrieden geben, mit leeren Händen zurückzukehren. Also muss man ihm eine Charlotte Kimberly zur Frau geben. Cally will einen Herzog zum Gatten. Ich weiß nicht, was ich will, aber ich weiß, was ich nicht will: gegen meinen Willen vor den Traualtar geschleppt werden. Ich kann doch Callys Apanage von Papa bekommen. Zudem hätte ich gerne noch etwas: das Haus der Merediths bei den Feldern auf der anderen Seite der Insel, das der Familie meiner Mutter gehört hat. Cally kann dann die Charlotte Kimberly für den Herzog sein, und am Tag ihrer Hochzeit wird die Insel und die Plantage ihrem Gatten überschrieben. Der Herzog bekommt die Insel und Cally ihren Herzog. Das ist die perfekte Lösung unseres Problems, und alle sind glücklich.«

»Du bist wirklich clever, Aurora«, musste ihre Stiefmutter zugeben, »aber was, wenn der Herzog von dem Täuschungsmanöver erfährt? Angenommen, ich würde deinem Vorschlag zustimmen, könnte man das Ganze dann nicht als Betrug ansehen? Nein, nein, so etwas kann ich nicht befürworten. Es wäre unredlich!«

»Dann musst du leider die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass der Herzog trotz allem verlangt, St. Timothy überschrieben zu bekommen, und wir danach ohne Besitz dastehen und nicht einmal mehr ein Dach über dem Kopf haben. Immerhin hält der Herzog seinen Teil der Vereinbarung ein, indem er herkommt, um eine Charlotte Kimberly zu heiraten. Glaubst du denn wirklich, dass er uns in unserem Heim belässt, sich höflich verneigt und zurückzieht, wenn die Braut nicht mitspielt? Unsinn, Mama! Er wird tödlich beleidigt sein. Womöglich muss sich George noch mit ihm duellieren, damit die Ehre des Herzogs wiederhergestellt ist. Auch danach wird er Wiedergutmachung für die peinliche Situation fordern, in die wir ihn gebracht haben. Aber das ist dann nicht mehr meine Schuld, Mama. Ich habe dir eine vernünftige Lösung aufgezeigt.«

»Ach Kind, das geht doch nicht!«

»Willst du denn Cally diese Chance verwehren? Sie würde eine wunderbare Herzogin abgeben, mit ihren klassischen Gesichtszügen, der hellen Haut und dem rabenschwarzen Haar.«

Während Oralia Kimberly sich nachdenklich auf die Lippe biss, schüttelte George bewundernd den Kopf, ob der teuflischen Cleverness seiner Stiefschwester, und sah dann zu Calandra hinüber, die gespannt den Atem anhielt.

»Sag ja, Mama!«, flüsterte sie schließlich beinahe und klang richtig verzweifelt.

Aber Oralia Kimberly ließ sich nicht beirren. »Nein«, sagte sie, »so etwas kann ich nicht zulassen. Sei vernünftig, Aurora! Dein Vater hat diese Heirat bereits vor deiner Geburt in die Wege geleitet. Wenn er noch am Leben wäre, würden wir dieses Gespräch überhaupt nicht führen, und ich beabsichtige auch nicht, weiter über das Thema zu reden.« Mit diesen Worten erhob sie sich und eilte aus dem Esszimmer.

»Ich will aber Herzogin werden!«, jammerte Calandra, und Aurora versicherte ihr: »Das wirst du auch, verlass dich darauf.«

»Aber ihr habt doch gehört, was Mama gesagt hat!«, warf George ein.

»Mama wird ihre Meinung schon noch ändern, das verspreche ich euch.« Aurora grinste schelmisch. »Sie wird wohl kaum eine andere Wahl haben, wenn das Schiff des Herzogs in den Hafen einläuft und ich mich immer noch weigere, ihn zu heiraten. Wenn es erst einmal so weit ist, wird Mamas Beharrlichkeit zusammenbrechen, zumal sie sich bis dahin mit Sicherheit Gedanken über meinen Vorschlag gemacht hat, George. Egal, wie aufrichtig und tugendhaft sie ist, wird sie doch nicht umhinkönnen, sich vorzustellen, wie bezaubernd Cally mit den Juwelen einer Herzogin aussieht. Außerdem würde Mama es genießen, Jamaika zu besuchen und mit ihrer Tochter, der Herzogin von Farminster, anzugeben.« Aurora lachte und stand dann ebenfalls auf. »Wir sollten uns wirklich schon einmal Gedanken über dein Hochzeitskleid machen, Cally.«

Auch Calandra schob ihren Stuhl zurück. »Glaubst du wirklich, dass wir Mama überzeugen können, Aurora?«

»Überlass das nur mir, kleine Schwester.«

»Nenn mich nicht so, Aurora! Wir werden dieses Jahr beide siebzehn.«

»Aber ich habe am sechsten April Geburtstag und du am ersten Juni. Dadurch bin ich die Ältere, wenn auch nur um zwei Monate«, erklärte Aurora und knuffte ihre Stiefschwester freundschaftlich in die Seite.

»Ach, du!«, kicherte Calandra. »Was glaubst du, wie der Herzog sein wird, Aurora?«

»Zweifellos äußerst arrogant und hochnäsig«, kam sofort die Antwort. »Kein einziges Mal in meinem ganzen Leben hat er mir geschrieben, und Papa hat bestimmt auch keinen Brief von ihm bekommen.«

»Wer weiß?«, gab George zu bedenken. »Ich habe euch ja schon gesagt, dass ich nicht glaube, dass irgendjemand seit Vaters Tod einen Blick in die Kassette geworfen hat. Mama bestimmt nicht. Womöglich wusste der Herzog auch nichts von dieser Heiratsvereinbarung. Vielleicht sind in Papas Kassette noch weitere Briefe, die uns darüber Aufschluss geben. Und wer weiß, was wir darin noch alles finden werden! Wollen wir nicht nachsehen gehen?«

»Ja, ja!«, riefen seine Schwestern einstimmig, und die drei verließen das Esszimmer, um das schöne holzgetäfelte Büro ihres verstorbenen Vaters aufzusuchen.

Dort ließen sie sich auf dem Boden nieder und stellten die Kassette in ihre Mitte. George Kimberly öffnete sie und entnahm ihr ein Bündel Briefe. Nachdem er die Schleife gelöst hatte, öffnete er den zuunterst liegenden Brief und las ihn aufmerksam durch.

Schließlich sagte er: »Das ist der erste Brief von einem gewissen James Hawkesworth. Anscheinend ist er der dritte Herzog von Farminster. In diesem Schreiben setzt er Papa davon in Kenntnis, dass sein Sohn Charles zusammen mit seiner Frau und seiner Tochter bei einem Schiffsunglück ums Leben kamen. Sein Enkel Valerian sei nicht bei ihnen gewesen, schreibt er weiter, und obgleich der Junge durch den Verlust erschüttert sei, würde er sich davon erholen. James Hawkesworth erklärt noch, er sei froh, dass sein Sohn dieses Arrangement zwischen den beiden Familien getroffen hat. Außerdem wolle er, nun, nachdem sein Sohn leider verstorben ist, dafür Sorge tragen, dass die zwischen den beiden Familien eingegangene Vereinbarung eingehalten wird, wenn Klein Charlotte erwachsen ist. Er fragt nach dir, Aurora.«

»Wie rührend«, bemerkte Aurora spöttisch, und Calandra stellte fest: »Ich finde, er hört sich an wie ein netter alter Mann.«

»Nun wissen wir also«, sagte Aurora, »dass die Eltern und die Schwester von Valerian Hawkesworth ertrunken sind und er von seinem Großvater aufgezogen wurde.«

»Und von seiner Großmutter«, berichtigte George sie, denn er hatte unterdessen auch einige andere Briefe überflogen. »James Hawkesworth erwähnt eine Gattin. Er hat Papa zweimal im Jahr geschrieben, im Juni und im Dezember. Dem Wortlaut der Briefe nach zu urteilen, hat Papa ihm geantwortet und Neuigkeiten über uns berichtet und wie du aufwächst, Aurora.«

»Bezieht sich der alte Herzog auf mich eigentlich als Aurora?«

»Um diese Frage zu beantworten, muss ich die Briefe zuvor richtig lesen«, entgegnete George, »aber so weit ich das bisher beurteilen kann, wohl nicht.«

»Was schreibt er von seinem Enkel?« Auroras türkisfarbene Augen bückten nachdenklich, und sie hatte die Stirn leicht in Falten gelegt.

»Nicht viel. Warte, hier steht etwas! In dem letztjährigen Brief vom Juni. Vom Dezember gibt es keinen.«

»Wahrscheinlich ist der alte Mann inzwischen verstorben«, überlegte Aurora laut, bevor sie ihren Stiefbruder ungeduldig aufforderte: »Los, George, sag uns jetzt endlich, was in dem Junibrief steht!«

»Er ist nicht sehr lang und die Schrift ganz zittrig. Anscheinend hat der Herzog die Briefe selbst aufgesetzt und keinen Sekretär damit beauftragt. Er schreibt:

»Mein lieber Robert,

seit einigen Monaten fühle ich mich nicht ganz wohl. Man könnte fast meinen, dass das Begehen des siebzigsten Geburtstags einem gesundheitlich eine Menge abverlangt. Aber sei’s drum... Meinen Berechnungen zufolge müsste die kleine Charlotte gerade ihren sechzehnten Geburtstag gefeiert haben. Der Vertrag zwischen unseren Familien schreibt fest, dass die Hochzeit Eurer Tochter und meines Enkelsohnes nächstes Jahr an Charlottes siebzehntem Geburtstag stattfinden soll Valerian ist zu einem feinen jungen Mann herangewachsen, wie man ihn sich besser nicht wünschen könnte. Ich werde ihm schon bald von dem Arrangement erzählen, das mein Sohn und Ihr vor all den Jahren getroffen habt. Valerian wird nächstes Frühjahr zu Euch kommen, um Eure Tochter zur Frau und danach mit sich nach England zu nehmen. Aber natürlich werden wir zuvor noch einmal korrespondieren. Meine treu sorgende Gattin schickt Euch und Eurer Familie liebe Grüße, und ich verbleibe wie immer, Euer James Hawkesworth, der dritte Herzog von Farminster.«

George legte den Brief beiseite. »Siehst du, Aurora, dein Herzog wusste auch nichts von dem Hochzeitsarrangement. Man hat ihn da genauso im Ungewissen gelassen wie dich.«

»Kam danach kein Brief mehr?«, fragte Aurora, und George antwortete: »Nur der, den Mama heute Morgen erhalten hat.«

»Wo ist er?«, wollte Aurora wissen, als Calandra, die aufgesprungen war, auch schon rief: »Hier, auf Papas Schreibtisch! Mama hat ihn dahin gelegt. Macht der Gewohnheit.« Mit ihren haselnussbraunen Augen überflog Calandra nun rasch den Brief, bevor sie ihn laut vorlas.

»An Robert Kimberly.

Mit Trauer im Herzen muss ich Euch mitteilen, dass mein Gemahl letzten November von uns gegangen ist Sein Erbe, unser Enkel Valerian, hat seine Nachfolge als vierter Herzog von Farminster angetreten. Der Heiratsvereinbarung zwischen unseren Familien entnehme ich, dass der Zeitpunkt der Eheschließung von Charlotte und Valerian näher rückt. Mein Enkelsohn wird am zehnten Februar von Plymouth aus mit der Royal George in See stechen. Wir freuen uns schon darauf, Charlotte in unserer Familie begrüßen zu dürfen. Ich werde mein Bestes tun, damit sie sich hier wohl fühlt. Und bitte versichert ihr, dass ich mich persönlich darum kümmern werde, sie in den Pflichten einer Herzogin zu unterweisen. Selbstverständlich seid auch Ihr und Eure Familie auf Hawkes Hill Hall immer herzlich willkommen. Damit verbleibe ich, Eure Mary Rose Hawkesworth, Witwe des dritten Herzogs von Farminster.«

»Oh«, seufzte Calandra, »hört sich das nicht alles ganz großartig an? Ich frage mich, was wohl zu den Pflichten einer Herzogin zählen mag. Glaubst du, ich werde ihnen nachkommen können, Aurora?«

»Bestimmt, du musst dich wahrscheinlich nur ein bisschen besser benehmen«, versicherte Aurora ihrer Stiefschwester lächelnd. »Aber du bist ja, was das Erlernen von Umgangsformen und Etikette angeht, immer schon ganz besonders aufnahmefähig gewesen, Cally. Mir braucht man mit so einem Unsinn gar nicht erst zu kommen.«

Unterdessen hatte George auch noch die anderen Briefe des Herzogs durchgesehen und sagte nun: »Nirgendwo wird erwähnt, dass man dich inzwischen Aurora nennt, meine clevere kleine Schwester. In sämtlichen Briefen ist von der Braut lediglich als Charlotte die Rede.«

»Aber«, gab Calandra zu bedenken, »was machen wir, wenn Papa Aurora in seinen Briefen so genannt hat?«

»Da dieser Valerian Hawkesworth keine Ahnung von den Heiratsplänen seiner Familie hatte«, sagte Aurora bedächtig, »ist es unwahrscheinlich, dass er Vaters Briefe an seinen Großvater je zu Gesicht bekommen hat. Ich frage mich, ob der alte Herzog die Korrespondenz überhaupt aufgehoben hat, da auch seine Witwe über die Situation nicht allzu gut unterrichtet zu sein scheint.«

»Aber Papa hat die Briefe des Herzogs doch auch aufgehoben«, sagte Calandra nun.

»Ja«, stimmte Aurora ihr zu, »aber es war ja auch in Papas Interesse, sie aufzubewahren, für den Fall, dass die Familie Hawkesworth das Eheversprechen lieber vergisst, weil es ihr passender erscheint, ihren Erben an eine noch wohlhabendere Erbin zu verheiraten. Die Briefe des Herzogs hätten Papa vor Gericht als Beweismaterial dienen können, wäre er der Meinung gewesen, dass man die Ehre der Kimberlys beschmutzt hätte. Du erinnerst dich doch noch, wie stolz er auf seine Familie war.«

»Wir haben keinerlei Hinweis, dass der Herzog weiß, dass ihm eine Charlotte Aurora versprochen wurde«, sagte George nun. »Ich denke, wir können es wagen, Cally mit ihm zu vermählen. Wie sollte er auch herausfinden, dass die Bräute vertauscht wurden?«

»Und falls doch«, sagte nun Aurora, »können wir nur hoffen, dass er Cally bis dahin lieb gewonnen und sie ihm einen Erben geboren hat. Abgesehen davon, wird ihm ohnehin die Plantage von St. Timothy gehören. Welchen Schaden sollte er also durch unsere kleine Finte nehmen?« Sie lächelte ihrem Stiefbruder zu. »Ich bin so froh, dass du in dieser Sache meiner Meinung bist, George.«

»Ich weiß nicht, ob ich tatsächlich mit dir darin übereinstimme, Aurora. Aber ich weiß, dass man dich, wenn du dir erst einmal etwas in den Kopf gesetzt hast, nicht leicht umstimmen kann. Ich glaube allerdings, dass deine Entscheidung vorschnell ist, weil du Angst vor einer so plötzlichen Veränderung in deinem Leben hast. Papa wird schon seine Gründe gehabt haben, warum du diese Ehe eingehen sollst. Aber wenn du den Herzog partout nicht heiraten willst, werde ich dafür sorgen, dass unsere Familie durch deine Dummheit nicht in Gefahr gerät. Der Herzog bekommt eine Charlotte Kimberly, die er vor den Traualtar führen kann, auch wenn es nicht die richtige Charlotte Kimberly ist.«

»Papa wäre sehr stolz auf dich, George«, erklärte Aurora. »Er hat immer gesagt, er wünschte, er sei dein richtiger Vater und nicht nur dein Stiefvater. Er hat dich und Cally genauso lieb gehabt wie mich. Deshalb hat er euch auch an Kindes statt angenommen und seinen Namen gegeben sowie den eures verstorbenen Vaters behalten lassen. Ich wünschte, George, er hätte dir und nicht mir St. Timothy hinterlassen. Dann hätte sich jetzt nichts geändert.«

George ergriff Auroras Hand. »Ich mag Papas Namen tragen, kleine Schwester, aber ich bin nicht von seinem Fleisch und Blut. Das ließ ihn diese Entscheidung treffen. Wie du schon gesagt hast, war er stolz auf seine Familie. Auch für mich hat er weiß Gott mehr als genug gesorgt und in seinem Letzten Willen verfügt, dass ich als Leiter und Aufseher von St. Timothy eingesetzt werden muss. Ich bin gut darin, Aurora! Und es gibt keinen Grund, warum sich der Herzog über Vaters Wunsch hinwegsetzen sollte. Solange die Plantage Gewinn abwirft, hat er keinen Grund zur Klage, oder?«

Calandra setzte sich wieder zu ihren Geschwistern und lehnte den Kopf an Georges Schulter. Die drei waren fast ihr Leben lang zusammen gewesen und einander liebevoll zugetan. Oralias und Robert Kimberlys anfängliche Sorge, dass ihre Kinder nicht miteinander auskommen würden, war in den ersten Minuten ihres Zusammentreffens zerstreut worden. Aurora hatte sich sofort von der Hand ihres Kindermädchens losgerissen, um ihre neue Stiefmutter und ihre Geschwister willkommen zu heißen. Die Begrüßung war so herzlich ausgefallen, dass die Umstehenden davon ausgehen mussten, das Kind begrüßte seine leibliche Mutter und Geschwister, die nur eine Weile von zu Hause fort gewesen waren. Auch danach hatte es niemals Eifersüchteleien zwischen Aurora und ihren neuen Geschwistern gegeben.

»Dann wären wir uns also einig«, sagte Aurora. »Cally heiratet den Herzog und bringt die Plantage als Mitgift mit in die Ehe. Ich bekomme Callys Apanage von Papa und das Haus der Familie meiner Mutter. George behält, was Papa ihm hinterlassen hat, und bleibt Geschäftsführer der Plantage.«

»Bist du dir auch ganz sicher, Aurora, dass du das willst?«, fragte George jetzt noch einmal. »Wenn Cally dem Herzog erst einmal als seine Braut vorgestellt wurde, gibt es kein Zurück mehr. Das ist dir doch klar?«

Aurora nickte. »Ich will einen Mann heiraten, der mich liebt, George, und nicht einen, der durch ein Eheversprechen dazu gezwungen ist, mich zur Frau zu nehmen. Ich weiß, dass mich manche deswegen für eine Närrin halten mögen. Aber das ist mir egal. Ich gehe mit Cally und dem Herzog nach England und werde ja sehen, ob ich dort nicht einen Gentleman finde, der mich liebt. Und wenn nicht, kehre ich in mein Haus auf St. Timothy zurück.«

»So sei es denn«, sagte George Spencer-Kimberly. »Dann ist es also beschlossene Sache. Ich kann nur hoffen, dass der Herzog uns niemals auf die Schliche kommt.«

»Was ist mit Mama?«, fragte Cally nun. »Sie hat gesagt, sie mache da nicht mit.«

»Zerbrich dir darüber mal nicht den Kopf, Cally«, beruhigte sie George. »Aurora hat ganz Recht. Wenn der Herzog hier erst einmal vor Anker geht, bleibt Mama gar nichts anderes übrig, als sich uns anzuschließen. Denn wenn nicht, riskiert sie alles. Es widerstrebt mir, ihr Kummer zu bereiten, aber wenn Aurora den Herzog nicht haben will, dann ist unsere Entscheidung der beste Weg, um die Interessen der Familie zu schützen.«

Die Geschwister fassten sich bei den Händen.

»Zusammen«, sagte George, »für immer«, fügte Calandra hinzu, und Aurora ergänzte: »Wie ein Mann!« Damit besiegelten sie den Treueschwur, den sie sich als Kinder ausgedacht und auch später immer wieder verwendet hatten, wenn sie etwas zusammen ausheckten.

»Dann ist es also abgemacht«, sagte Cally nun mit glänzenden Augen.

»Ja«, pflichtete Aurora ihr bei.

»Und du wirst die Braut des Herzogs sein, Cally«, sagte George und lachte leise. »Da kann sich die Londoner Gesellschaft ja auf etwas gefasst machen!«

»Ich werde eine wundervolle Herzogin abgeben«, widersprach ihm Calandra, »und all die herrlichen Kleider und Juwelen tragen, die ich immer haben wollte, und jede Nacht mit den gut aussehendsten Gentlemen durchtanzen!«

»Zuvor wirst du dem Herzog allerdings einen Erben schenken müssen«, erinnerte sie da ihr Bruder an ihre zukünftigen Pflichten. »Ein Kind ist deine Versicherung, Schwesterchen, falls Valerian Hawkesworth jemals herausfinden sollte, dass du nicht die bist, die du zu sein vorgibst.«

»Unsinn, George! Es ist völlig unerheblich, wenn er es eines Tages herausfindet. Dann gehört ihm St. Timothy ja trotzdem. Ich habe noch genug Zeit, um Kinder zu bekommen, und in irgendeinem Herrenhaus auf dem Land eingesperrt zu sein, das genauso weitab von allem liegt wie unser Zuhause hier auf der Insel. Das entspricht nicht meiner Vorstellung des Lebens einer Herzogin. Jede Frau kann Kinder bekommen. Ich will nach London und den König sehen! Aber habt keine Angst. Ich bringe meinen Herzog schon dazu, dass er sich wahnsinnig in mich verliebt. Dann kann ich tun und lassen, was ich will. Weil er sonst Angst haben muss, dass ich ihn mit Liebesentzug bestrafe.« Sie kicherte. »Oh, ich kann’s kaum erwarten, endlich Herzogin zu sein!«

»Was für ein herzloses freches Ding du doch bist.« Aurora lachte. »Solche Reden schwingst du besser nicht in Mamas Gegenwart, sonst bekommt sie bestimmt ganz furchtbar Migräne.«

»Ich mag Mama wirklich sehr«, gestand Calandra nun ein, »aber es wird ganz wundervoll sein, wenn sie mir nicht mehr die ganze Zeit vorschreibt, was ich zu tun und zu lassen habe.«

»Dafür kommandiert dich dann die Witwe des verstorbenen Herzog von Farminster herum«, neckte sie ihr Bruder.

»Ein Grund mehr, in London zu bleiben«, entgegnete Calandra.

Die drei lachten, während sich draußen vor dem Büro ein plötzlicher Nachmittagssturm erhob und vom Meer her warme Regentropfen gegen die Fensterscheiben trieb.

Paradies der Sehnsucht

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