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3.3.3 Kommunikationssituation

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WikipediaartikelWikipediaartikel werden kollaborativkollaborativ in einem WikiWiki erstellt, weswegen sich ihre Kommunikationssituation von derjenigen gedruckter Enzyklopädieartikel unterscheidet. Insgesamt unterliegen WikipediaartikelWikipediaartikel zwar mehrheitlich den Bedingungen der DistanzkommunikationDistanzkommunikation, allerdings rückt die Ausprägung einiger Parameter die Diskurstradition tendenziell in die Richtung des nähesprachlichenNähesprachlichkeit Pols (cf. Reutner 2013b: 236). Bei WikipediaartikelnWikipediaartikel handelt es sich um Produkte einer öffentlichen Massenkommunikation, da diese weltweit und kostenlos abgerufen werden können. In den meisten Fällen kennen sich die Autoren und die Rezipienten der Artikel nicht, selbst wenn einige der Autoren Profilseiten mit persönlichen Informationen in Wikipedia angelegt haben und sich ein relativ kleiner Kreis von Wikipedianern gebildet hat, die überproportional aktiv sind und sich zumindest unter Pseudonym kennen. Die Richtlinien fordern, dass beim Erstellen der Artikel die eigenen Emotionen zugunsten einer sachlich-neutralen Darstellung von Fakten zurückgehalten werden, jedoch ist stellenweise trotzdem eine emotionale BeteiligungEmotionalität der Wikipediaautoren zu beobachten (cf. Reutner 2013b: 236f.). Zudem sollen die Inhalte eine situationsunabhängige Gültigkeit besitzen. Der Artikel soll keine Handlungs- und SituationseinbindungHandlungs- und Situationseinbindung aufweisen. Dies trifft auf Themen ohne Aktualitätsbezug zu. Allerdings können WikipediaartikelWikipediaartikel durch ihre einfache Erstellung und schnelle Abänderung auch auf Ereignisse des situativen Kontexts reagieren, wodurch sie in die Nähe zu aktuellen Nachrichten geraten. In solchen Fällen wird häufig der Artikel simultan zum Ereignis angelegt, wobei mit der Darstellung einzelner Abschnitte so lange gewartet wird bis etappenweise gesicherte Informationen zur Verfügung stehen, die dann in den Artikel integriert werden. Ein Beispiel für eine derartige Artikelentstehung ist der Eintrag zum Stichwort Vol 9525 Germanwings, der simultan zum Ereignis entstand. Auf diesen Umstand verweist das angebrachte Banner mit der Information „Cet article concerne un événement récent ou en cours“ (WPF 2015: s.v. Vol 9525 Germanwings). In den ersten Versionen des Artikels finden sich Vermutungen wie „Dans l’hypothèse d’une absence de survivant, il s’agirait de l’accident aérien le plus meurtrier qui se soit produit sur le territoire français […]“ (WPF 2015: s.v. Vol 9525 Germanwings). Zudem wird im Versionsverlauf ersichtlich, wie Informationen aus Nachrichten in den Artikel integriert und mit zunehmender zeitlicher Distanz einem enzyklopädischen Stil angepasst werden:

 (6) Dès la mi-journée le 24 mars, le président de la République française, François Hollande, annonce que « les conditions de l’accident laissent penser qu’il n’y a aucun survivant » (WPF 2015: s.v. Vol 9525 Germanwings, 24. März 2015, 14:16).

 (7) Dès la mi-journée du 24 mars, le président de la République Française, François Hollande, ainsi que le secrétaire d’État aux Transports, Alain Vidalies, ont annoncé qu’il n’y avait aucun survivant (WPF 2015: s.v. Vol 9525 Germanwings, 27. Juli 2018, 12:10).

So enthält der erste Beleg durch die Nutzung des Präsens und eines wörtlichen Zitats, das zudem eine vorsichtige Vermutung enthält, einen zeitlich näheren Bezug zum Ereignis als der zweite Beleg, der das passé composé nutzt, das wörtliche Zitat streicht und ein gesichertes Faktum präsentiert. Die Verlässlichkeit der Informationen wird in der VersionsgeschichteVersionsgeschichte kommentiert, wobei das Statement Hollandes aus manchen Versionen mit der folgenden Begründung gelöscht wird:

Questions chiffres, il n’y a encore rien d’officiel pour l’instant; Hollande s’est borné à déclarer qu’il est vraisemblable que tous les occupants sont morts, mais à vrai dire on en sait encore rien personne n’ayant encore accédé au site du crash (WPF 2015: s.v. Vol 9525 Germanwings).

Bei einem solchen Prozess kann es vorkommen, dass auf Gegenstände referiert wird, die sich in der Nähe der Sprecher-origoSprecher-origo befinden, insbesondere was die zeitliche Nähe der Ereignisse in einem Jetzt betrifft. Mit zunehmendem Alter des Wikipediaartikels treten jedoch die Bedingungen der kommunikativen Distanz in Kraft und der Artikel bezieht sich auf entfernte Gegenstände. Die Rezeption von Wikipediaartikeln am Bildschirm eines PCs oder am Smartphone bringt es mit sich, dass Produzent und Rezipient in der Regel sowohl zeitlich als auch räumlich getrennt sind, obwohl durch den Aufenthalt in einem gemeinsamen virtuellen Raum ein Gemeinschaftsgefühl entstehen kann. Dies trifft besonders auf registrierte Wikipedianer zu, die aus Rücksicht auf den Artikelautor sehr vorsichtig mit der Abänderung von Artikeln umgehen. Trotz der physischen Distanz der Kommunikationspartner macht die Wikitechnologie eine intensive KooperationKooperation bei der Artikelerstellung möglich, was auch das herausragende Merkmal der Wikipedia darstellt. Die Kooperation über ein WikiWiki dynamisiert den Text und stellt somit das wesentliche Abgrenzungsmerkmal zu gedruckten Enzyklopädieartikeln dar (cf. Reutner 2013b: 236; Mederake 2016, die aufgrund der Überschreibungspraktik von digitalen Palimpsesten spricht). Bezogen auf die Parameter von Koch/Oesterreicher lässt sich zudem sagen: „Kooperationsmöglichkeit definiert Wikipedia geradezu und ist damit das einzige nähesprachliche Merkmal, das komplett zutrifft“ (Reutner 2013b: 236). KooperationKooperation erfolgt in Wikipedia „im Sinne eines parallel erfolgenden, arbeitsteiligen Schreibens“ (Kallass 2015: 324), wobei die Technologie dem Rezipienten erlaubt, zu jedem beliebigen Zeitpunkt den Bearbeiten-Button zu drücken und selbst an der Gestaltung des Diskurses mitzuwirken.1 Im Gegensatz zum Face-to-Face-Gespräch ist Kooperation jedoch keine Voraussetzung für die Existenz der Diskurstradition, denn ein WikipediaartikelWikipediaartikel könnte theoretisch von einem einzelnen Autor allein verfasst werden, während ein Gespräch ohne die Kooperation des Kommunikationspartners schnell abbricht. Ein Face-to-Face-Gespräch ist jedoch schon aufgrund seines dialogischen Charakters sehr viel stärker auf die Mitarbeit des Kommunikationspartners angewiesen als dies bei einem monologischen Wikipediaartikel der Fall ist. WikipediaartikelWikipediaartikel werden zwar kooperativ erstellt, das Ergebnis soll jedoch nach wie vor ein monologischer Enzyklopädieartikel sein, in dem kein Wechsel der Sprecherrolle stattfindet, und der zudem so wenig wie möglich von der PolyphoniePolyphonie der Autoren geprägt ist. Dementsprechend ist zwar in Wikipedia die kollaborativekollaborativ Beteiligung an der Artikelerstellung möglich, diese reicht jedoch nicht bis zum regelmäßigen, sichtbaren und aufeinander angewiesenen Wechsel der Sprecher im Sinne einer DialogizitätDialogizität, da die KooperationKooperation dazu auch zeitlich zu stark zerdehnt wäre (cf. Reutner 2013b: 236). Die Möglichkeit der kooperativen Erstellung und der Abänderung von Enzyklopädieartikeln kann jedoch dazu führen, dass Modifikationen durchgeführt werden, die eher spontanSpontaneität und weniger sorgfältig geplant erfolgen, obwohl in den Richtlinien die Reflektiertheit bei der Artikelerstellung einen hohen Stellenwert einnimmt (cf. Reutner 2013b: 236f.). Zudem finden sich Artikel im Entwurfsstadium, deren Struktur im Vorhinein nicht vollständig von den Autoren geplant worden ist, sondern die auf Vervollständigung warten. Ebenso kann in WikipediaartikelnWikipediaartikel teilweise ein tendenziell geringerer Grad der ThemenfixierungThemenfixierung als in PrintartikelnPrintartikel festgestellt werden, was erstens daran liegt, dass es für das Thema und dessen Ausführung keine redaktionellen Vorgaben gibt, und dass zweitens mehr Platz für Exkurse zur Verfügung steht, die jedoch in einigen Fällen in selbstständige Artikel ausgelagert werden (cf. Reutner 2013b: 237).

Neben den Parametern nach Koch/Oesterreicher (2011) spielt zudem eine Rolle, in welchem hierarchischen Verhältnis der Produzent und der Rezipient eines Wikipediaartikels stehen. Dies lässt sich im Falle der Wikipediaartikel kaum sagen, da eine Vielzahl anonymer Autoren, die unter ihrer IP-Adresse oder einem Pseudonym firmieren, einem noch größeren Kreis anonymer Rezipienten gegenüberstehen. In Wikipedia ist nicht klar, auf welcher Seite sich die Experten oder die Laien befinden, ebenso wird die Grenze zwischen Autor und Leser aufgeweicht, indem jeder Leser auch sofort zum Autor werden kann.

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