Читать книгу Die Geschwister Bourbon-Conti - Ein fatales Familiengeheimnis - Bettina Reiter - Страница 10
6. Kapitel
ОглавлениеHenriette blickte in den goldumrahmten Spiegel, der im Gang des ersten Stockes hing. Sie trug ein hellgrünes einteiliges Seidenkleid, das sich an der Taille teilte. Darunter schimmerte der dunkelgrüne Unterrock hervor. Der Saum war mit goldenen Rosenbordüren bestickt. Ihren Ausschnitt verzierte filigrane Spitze aus Weißstickerei, ebenso wie die ellenlangen Flügelärmel. Es war eines der neuen Kleider, die Lotti in Auftrag gegeben hatte und sie musste zugeben, dass es wunderschön war. Allerdings hatte es bestimmt seinen Preis gehabt.
Flüchtig betastete Henriette ihr Haar. Wie üblich hatte sie es zu einem Zopf geflochten und hochgesteckt, an den Seiten kräuselten sich Locken herab. Auf Schmuck hätte sie gern verzichtet, doch Lotti hatte die Familienschatulle gebracht und erbost darauf bestanden, dass sie die dreireihige Goldkette mit den grünen Smaragden trug und die dazu passenden Ohrringe. Den Spruch, sie wolle sich nicht blamieren, konnte Henriette inzwischen nicht mehr hören, hatte sich aber gefügt.
Der Schmuck funkelte im fahlen Abendlicht, das durch die hohen Rundbogenfenster fiel. Hinter ihr öffnete sich die Tür und sie fing Élisabeths Blick im Spiegel auf. Henriette drehte sich um, gleichzeitig verließ Charlotte ihre Kammer.
„Wie hübsch du bist, Élisabeth“, entfuhr es Henriette. Die Angesprochene drehte sich lächelnd um die eigene Achse. Sie trug ein kirschrotes Taftkleid, das je nach Lichteinfall an die frische Farbe reifer Orangen erinnerte. Auf ihren Schultern lag ein rotes Tuch und ihren Kopf schmückte eine weiße Haube mit roter Verzierung.
„Ich schätze, das Kompliment hat mir gegolten“, mokierte sich Charlotte und zog Élisabeth mit sich, ohne Henriette eines Blickes zu würdigen, der es schwerfiel den Mund zu halten. Krankheit hin oder her. „Im Gegensatz zu dir, Élisabeth, sehe ich nämlich wie eine Dame aus“, hörte sie Charlotte, deren Kleid eher an ein Nachtgewand erinnerte. Der tiefe Ausschnitt hätte ebenso in ein Bett gehört. Ihre Haare hatte sie über eine Fontange hochgekämmt. Das blaue Seidentuch hielt sie in der Hand, statt züchtig die Blöße zu verdecken.
Neuerlich öffnete sich die Tür und flog gleich darauf wieder lautstark ins Schloss. Maria trippelte der Mutter nach. Das Mädchen war in ein viel zu enges Gewand gezwängt, mit einem Ausschnitt nicht weniger tief als Charlottes. Fürchterlich, wie konnte sie ihrem Kind das antun?
Henriette schaute ihnen nach, bis sie über die Treppe verschwunden waren. Dann schlenderte sie zum Fenster. Fingerabdrücke übersäten das zerkratzte Glas. Wie Zuckerguss lag Schnee auf der Landschaft. Manchmal glitzerte er, denn viele Fackeln brannten vor dem Schloss. Diener eilten von einer Kutsche zur anderen. Überall lagen Pferdeäpfel.
Ein ihr unbekannter Mann spazierte zum Pavillon, der im Sommer von weißen Rosen förmlich überwuchert war. Sogar jetzt standen einige in voller Blüte. Es waren Dianas Lieblingsblumen. Eine zähe Sorte, die dem Wetter trotzte. Vielleicht war auch Diana zäher als gedacht? Ob sie tatsächlich eine Lösung finden würde?
„Henriette, wie nett Euch alleine anzutreffen.“
Sie erstarrte und drehte sich unwillig um. „Philippe.“ Mehr brachte sie nicht heraus. Weil sie Angst hatte, obwohl er sie freundlich anlächelte und nicht gefährlich wirkte. Das wenige Haar am Stirnansatz hatte er zur linken Seite hin gekämmt, das füllige am Hinterkopf war zu einem Zopf geflochten. Er trug einen dunkelblauen Samtanzug mit einem weißen Hemd darunter. Auch der herbe Duft, der ihn umwehte, war nicht aufdringlich. „Verzeiht“, bat sie hastig. „Ich muss mich um unsere Gäste kümmern.“ Sie wollte an ihm vorbei, doch er hielt sie jäh am Arm zurück. Nicht grob, dennoch mit Nachdruck. Ihre Nackenhaare sträubten sich, weil er so nahe war und sie anstarrte – mit einem seltsamen Funkeln in den Augen.
„Ein paar Minuten solltet Ihr mir gönnen, schließlich bin ich bald Euer Mann.“ Sein Atem roch nach Minze.
Henriette fixierte sein Muttermal unter dem rechten Auge. „Wie gesagt, ich muss mich um die Gäste kümmern.“
„Ich bin auch ein Gast.“
„Lasst mich gefälligst los! Sofort!“
„Wie Ihr wollt.“ Er gab sie frei. Henriette trat zwei Schritte zurück. „Nun, wir können es uns einfach machen – oder schwer.“
„Wir machen gar nichts. Erst recht feiern wir keine Hochzeit.“
„Weshalb? Gefalle ich Euch etwa nicht?“ Seine Frage klang spöttisch und erwartungsvoll zugleich.
„Mit gefallen hat das weniger zu tun“, erwiderte Henriette. „Mir geht es vielmehr um Euren Ruf, der denkbar schlecht ist.“ Hoffentlich bemerkte er nicht das Zittern in ihrer Stimme.
Philippes Augen wurden zu schmalen Schlitzen. „Sagt wer?“
„Der gesamte Hof, ganz Paris“, rief sie aus. „Was sage ich, ganz Europa!“
„Und das glaubt Ihr natürlich?“
„Immerhin ist Euer Vater Euer größter Kritiker und der muss es ja wissen. Im Übrigen besteht meine Großtante auf diese Hochzeit, weil sich keine andere Frau dazu bereit erklärt. Oder lasst es mich anders ausdrücken: Françoise tut alles, um meine Familie zu beleidigen.“
Plötzlich packte er sie an beiden Armen. „Wofür haltet Ihr Euch?“, zischte er.
„Aua, Ihr tut mir weh!“ Sie wand sich unter seiner harten Umklammerung. Als er sie losließ, wich sie erneut zurück und rieb sich die schmerzende Stelle. „Ihr seid ja verrückt.“
„Wenn Ihr das sagt.“ Sein Blick war undurchschaubar. „Eigentlich hatte ich gehofft, dass unser Kennenlernen anders verläuft. Immerhin werden wir unser restliches Leben miteinander verbringen. Je eher Ihr Euch damit abfindet, desto besser. Diese Ehe ist nichts anderes als ein Geschäft, das von beiden Seiten geschlossen wurde. Bindend. Doch glaubt mir, ich leide nicht weniger als Ihr, denn auch ich bin alles andere als begeistert von Françoises Wahl. Ihr seid weder schön noch ansprechend, obwohl mein Vater hingerissen ist, seitdem er ein Familienportrait von Euch auf Versailles gesehen hat. Allerdings kann es mit seinen Augen nicht zum Besten stehen, wie mir scheint. Oder er hat gelogen wie alle anderen. Hinzu kommt Euer wohlgehütetes Familiengeheimnis, das ich auf mich nehmen muss. Wenn Ihr es uns also unbedingt schwermachen wollt, werde ich eine Bombe platzen lassen, die ganz Paris erschüttert. Nein, was sage ich, ganz Europa!“
„Was wollt Ihr damit andeuten?“ Ihr Puls raste förmlich.
Einige Sekunden starrte Philippe sie an, dann lächelte er. „Ihr habt keine Ahnung?“
„Wovon?“
Seine Miene wurde starr. „Wie gesagt, legt Euch besser nicht mit mir an. Ihr würdet es bitter bereuen.“
„Wollt Ihr mir drohen? Ihr? Für den sich sogar der eigene Vater schämt? Weil er einen Sohn hat, der sich überall wichtigmachen muss, damit man ihn wahrnimmt? Oder der die Hand gegen andere erhebt, wenn ihm die Argumente fehlen?“, verhöhnte sie ihn. „Wenn es nicht so traurig wäre, würde ich jetzt lachen.“
„Tut Euch keinen Zwang an.“ Philippe deutete eine Verbeugung an. „Wir sehen uns vor dem Altar und danach werdet Ihr am eigenen Leib erfahren, ob ich tatsächlich der bin, für den Ihr mich haltet.“ Ohne dass sie darauf gefasst war, beugte er sich näher. „Oder ob ich noch schlimmer bin, als alle bisher geahnt haben“, flüsterte er unheilvoll und machte auf dem Absatz kehrt. Seine schweren Schritte dröhnten in ihren Ohren. Henriette blickte ihm nach, bis sich seine Zimmertüre schloss.
Unbeweglich stand sie da. Unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen. Alles, was sie fühlte, war Angst. Blanke Angst. Ermattet sank sie an die Mauer. Was sollte sie jetzt tun? Und was hatte seine kryptische Anspielung zu bedeuten? Sollte Diana etwa recht haben und an der Sache war tatsächlich etwas faul?
Lautstarkes Gelächter drang zu ihr und schreckte sie auf. Entschlossen raffte Henriette ihr Kleid und eilte zur Galerie hinunter. Die Zeit für eine Erklärung war gekommen. Egal, wie viele Gäste sich im Haus befanden, die Mutter musste ihr Rede und Antwort stehen! Doch das war leichter gedacht als getan. Der Saal platzte fast aus allen Nähten. Henriette musste sich durch Menschentrauben drängen und kam nur langsam voran. Suchend blickte sie sich um. Viele trugen hohe Perücken und versperrten die Sicht. Schrille Stimmen und grelles Gelächter verstärkten die Wut in ihrem Bauch.
„Henriette, hier bin ich!“ Ihre Mutter stellte sich auf Zehenspitzen und winkte sie zu sich. Henriette zwängte sich zwischen zwei korpulenten Männern hindurch, die den Teufel taten und ihr Platz machten. Das anzügliche Lachen widerte sie an. Dass ausgerechnet die spindeldürre Marquise de Lion und die füllige Madame de Rohan der Mutter Gesellschaft leisteten, gab ihr den Rest. Neben diesen Tratschtanten war an ein Gespräch nicht zu denken.
„Wo bist du gewesen?“, wollte die Mutter wissen, nachdem sie es zu ihr geschafft hatte.
„Ein sehr aufschlussreiches Gespräch hat mich aufgehalten.“
„Oh, worum ging es?“ Die Marquise de Lion trat näher zu Henriette und stützte sich auf dem Stock auf. Diese Frau machte ihrem Namen alle Ehre. Wie eine Löwin nahm sie die Fährte ihrer vermeintlichen Beute auf. „Meine Ohren sind gereinigt und gespitzt. Also, ich höre?“
„Es ging um Familiengeheimnisse“, ließ sich Henriette zu einer Erwiderung hinreißen und blickte ihre Mutter auffordernd an. Mit zitternder Hand fasste sich diese an den Hals, den ein gelbes Band schmückte.
„Interessant!“, rief die Marquise aus. „In welchem Zusammenhang?“
„Nur allgemein“, hielt sich Henriette nun doch zurück. Ob sie Philippe glauben konnte oder nicht, das musste sie mit der Mutter alleine klären.
„Rosalie!“, begrüßte Madame de Rohan ihre Schwester, die sich schweratmend zu ihnen gesellte und ein Glas Wein in der knochigen Hand hielt. „Schön, dass du auch schon kommst.“ Rosalie zog ein grimmiges Gesicht, bevor sie wie üblich die Unterhaltung bestritt. Ihre Worte kamen wie ein Pfeil nach dem anderen aus dem Mund, sodass man ihr kaum folgen konnte. Dabei bohrte sie ständig mit dem Zeigefinger in ihren Ohren herum und äußerte sich kritisch über den Erbfolgekrieg. Zur Abwechslung mit gesenkter Stimme. Frauen, die über Politik sprachen, waren nicht gerade beliebt bei den Männern, was Rosalie sicherlich vermeiden wollte. „Übrigens“, wurde ihre Stimme lauter, „war ich bereits vor einigen Wochen hier im Loire–Tal, um mich von meiner Lungenentzündung zu erholen. Bei einem Spaziergang mit meiner Schwester“, sie warf Madame de Rohan einen kurzen Seitenblick zu, „kamen wir zufällig am Schloss Chambord vorbei und haben Hermann Moritz von Sachsen gesehen. Himmel, mir fielen fast die Augen heraus. Was für ein imposanter Mann!“
Henriette dachte an Luc, während ihr Blick immer wieder zur Mutter wanderte, die mit ihrem zitronengelben Kleid aus der Menge der überwiegend dunkel gekleideten Frauen herausstach. Starr schaute die Mutter auf Rosalies schnatternden Mund, als ob sie kein Wort versäumen wollte. Dabei wirkte sie meilenweit entfernt. Am liebsten hätte Henriette sie mit sich aus dem Saal gezogen, in dem ein ständiges Kommen und Gehen herrschte. Manche saßen bereits erwartungsvoll an den langen Tafeln, die sich am Rand des Saales aneinanderreihten. Einige Männer zeigten sich gegenseitig ihre Zigarren. Sie konnten es wohl kaum erwarten, sie nach dem Diner im Raucherzimmer oder im Park zu genießen.
Viele Höflinge hatten sich nicht zu ihnen verirrt. Nur neun Zimmer waren belegt. Die meisten waren aus den umliegenden Schlössern angereist. Auffällig gepudert, Frauen wie Männer, teils mit Perücken, die vermutlich die Köpfe etlicher Ahnen vor ihnen geschmückt hatten. Einige Männer trugen Westen und Kniebundhosen, dazu Halsbinden. Ihre Schuhe waren mit Messingschnallen oder mit Silber und Gold verziert. Nur wenige hatten sich in schwarze Kniestrümpfe gezwängt, die meisten trugen weiße. Die Frauen glänzten in Taftkleidern, edlem Satin oder Damast und schienen eine Vorliebe für großflächige Blumenmuster sowie Bänder und Juwelen im Haar zu haben.
„… und wundere mich, dass sich ein Marschall wie Hermann von Sachsen mit dem Dasein eines Junggesellen begnügt“, äußerte sich Madame de Rohan. Ihre Miene sprach Bände. Sofern möglich, würde sie vermutlich – trotz Rosalies Schwärmerei und der Tatsache, dass sie selbst seit Jahren verheiratet war – seinem Alleinsein nur zu gerne ein Ende bereiten. „Es ist ein Verbrechen, dass dieser Mann keine treusorgende Frau hat.“ Wie üblich stank sie penetrant nach Knoblauch. Henriette versuchte, nur durch den Mund einzuatmen. „Junggesellen sterben früher, das sollte Hermann von Sachsen dringend bedenken.“ Madame de Rohan schnaufte wie ein Walross, während Rosalie die Adlernase pikiert nach oben zog. „Wie gern wäre ich an Adriennes Stelle gewesen.“
„Dann würdest du jetzt am Ufer der Seine verfaulen“, stieß Rosalie aus und warf ihrer Schwester einen eifersüchtigen Blick zu. „Du hast ihn eklatant auffallend angestarrt“, empörte sie sich prompt. „Dabei bist du verheiratet!“
„Na und? Deswegen habe ich trotzdem Augen im Kopf.“
„Beruhigt euch, meine Lieben.“ Die Marquise legte sich den Handrücken an die Stirn, als wäre sie überfordert und würde kurz vor einer Ohnmacht stehen. Rosalie leerte ihr Weinglas mit einem Zug. „Der Mann weiß genau, welche Wirkung er auf Frauen hat und jede mit Verstand sollte einen weiten Bogen um ihn machen. Du findest schon noch einen Mann, Rosalie. Und du hast ja bereits einen“, sagte sie an Madame de Rohan gewandt, bevor sie Rosalies Arm tätschelte, die auf dem Heiratsmarkt herumgereicht wurde wie verschmähte Ware, was sicherlich auch an ihrem wenig ansprechenden Äußeren lag. Warzen drängten sich an Kinn und Stirn aneinander. Tiefe Augenringe ließen die Augen weit hervortreten und an den Mundwinkeln hing ständig Speichel. Vermutlich, weil sie so viel sprach. Und dass sie an Begräbnissen teilnahm, um sich den jeweiligen Witwer zu angeln, verschlimmerte das ohnehin angekratzte Renommee.
Henriette begann zu schwitzen. Die Luft wurde immer stickiger. Außerdem hatte sie Durst. Umso erleichterter registrierte sie, dass ihre Mutter die Hand in Richtung der Musiker hob. Sofort hörten sie zu spielen auf.
Dann klatschte die Mutter in die Hände. Allmählich verstummten die Gespräche. „Ich bitte zu Tisch“, rief sie. Ein Gedränge sondergleichen entstand, als hätten alle in den letzten Wochen gefastet. Trotzdem dauerte es, bis sich die Gäste an den Tafeln verteilten oder den entsprechenden Platz gefunden hatten, da es eine Sitzordnung gab.
Auch Henriette hatte Platz genommen. Ihre Mutter saß neben ihr, Françoise und deren Töchter gegenüber. Lotti und Diana setzten sich ebenfalls zu ihnen wie Alexandrine. Philippe hingegen ließ sich nicht blicken. Sein Stuhl würde hoffentlich den ganzen Abend leer bleiben.
Suchend schaute sich Henriette um. Jetzt, da alle saßen, war der Raum leichter zu überblicken. Doch so sehr sie sich bemühte, Jeanne war nicht zu sehen. Enttäuscht beobachtete sie die Diener beim Auftragen der Speisen oder wie sie die Gläser mit rubinrotem Wein füllten.
Die Marquise und ihre Freundinnen saßen in der Nähe und hatten hochrote Köpfe. Vermutlich diskutierten sie noch immer über Hermann Moritz von Sachsen. Der Ehemann der Marquise zupfte ständig an seinem gezwirbelten Bart, während der Mann von Madame de Rohan – ein wohlhabender Heereslieferant – ein finsteres Gesicht machte.
„Die Zeiten haben sich zu ihrem Vorteil verändert, findet ihr nicht auch?“, eröffnete Alexandrine die Tischkonversation. Sie saß Henriette gegenüber und aß ihre Suppe ausnahmsweise mit dem Löffel. „Was haben wir früher für ausschweifende Feste auf Versailles gefeiert! Aber nun besinnt man sich mehr auf das Private, obwohl ich einen Ball wie diesen um nichts in der Welt versäumen möchte.“ Sie sandte Henriettes Mutter einen lobenden Blick.
„Au diable“, erboste sich Françoise, „was gebt Ihr für dummes Zeug von Euch?“ Zornig warf sie ihren Löffel in den halbvollen Suppenteller. Die ´Olla podridaˋ spritzte nach allen Seiten und hinterließ fettige Flecken auf der weißen Damast–Tischdecke und an Françoises Kleid. „Wie könnt Ihr diese Zurückgezogenheit gutheißen?“, verschoss sie weiteres Pulver, während sich die Gäste an den anderen Tischen angeregt unterhielten. Scheinbar hatte niemand gemerkt, dass an ihrem Tisch ein Streit entbrannte, denn der Lärmpegel war so hoch, dass selbst das Klirren des Löffels niemanden aufgeschreckt hatte. „Seit Ludwigs Amtsantritt verwaist Versailles, da die Aristokratie bevorzugt auf das Land oder in Stadtschlösser zieht. Ich kann dieser neuen Privatsphäre nichts abgewinnen und fühle mich um frühere Annehmlichkeiten beraubt. Davon abgesehen: Die Suppe ist grauenhaft.“ Françoise blickte zornig zu Lotti. „Welches Fleisch hast du ihr beifügen lassen? Verdorbene Abfälle?“
Alexandrine wischte sich mit der weißen Serviette über die Wangen und betupfte dann ihr roséfarbenes Kleid. Erst jetzt bemerkte Henriette die winzigen Spritzer an Brust und Schulter.
„Wir Bourbonen verehren diese Suppe wie ein Heiligtum“, raffte sich Lotti zu einer Entgegnung auf, „beste Zutaten verstehen sich daher von selbst.“
„Was noch lange nicht heißt, dass wir denselben Geschmack teilen. Ich mochte diese Suppe noch nie!“
„Dann hast du bloß Vater zuliebe so getan als ob? Weil sie sein Lieblingsgericht war?“ Lotti zog die Augenbraue in die Höhe. „Du warst schon immer eine Denunziantin.“
„Und dir stets einen Schritt voraus.“ Françoise nahm den Löffel und aß weiter, als wäre nichts geschehen. Die Suppe war gehaltvoll, mit einer Einlage aus dem zarten Fleisch von Rebhühnern, Wachteln, verschiedenen Gemüsesorten und wunderbar gewürzt. Dennoch fehlte Henriette der Appetit. Lotti und die Mutter neben sich zu wissen und schweigen zu müssen, fiel ihr von Minute zu Minute schwerer. Außerdem fand sie diesen Streit immer lächerlicher. Nicht nur die Frisuren der Großmutter und Großtante waren heute aufeinander abgestimmt, beide Schwestern trugen ein karmesinrotes Seidenkleid mit Goldstickerei und hochgeschlossenem Kragen. Bespitzelten sie sich jetzt schon wegen der Kleidung?
„Nun ja, vielleicht habe ich Glück, Françoise, und dir bleibt ein Stück Fleisch im Hals stecken“, trumpfte Lotti auf und schlürfte demonstrativ. Henriette stieß einen genervten Laut aus. Charlotte tauschte ihren Teller mit dem vollen von Élisabeth. Die Mutter aß wie Diana mit gesenktem Kopf, ebenso Alexandrine. Gab es denn niemanden, der dem Ganzen endlich ein Ende bereitete?
„Das kann ich mir vorstellen. In deiner jetzigen Lage wäre es die einfachste Lösung, nicht wahr, Lotti? Aber den Gefallen tu ich dir nicht.“
„Schade.“
„Ich hasse dich!“ Der Löffel in Françoises Hand bebte plötzlich.
„Warum? Weil ich nicht wie Espenlaub zittere so wie du?“, fauchte Lotti.
Langsam ließ Françoise den Löffel sinken und legte ihn neben dem Teller ab. „Hör endlich damit auf, mir beweisen zu wollen, dass du mir ebenbürtig bist. Das warst du nie und wirst es nie sein. Auch in Vaters Gunst stand ich immer höher. Das beweist schon meine Mitgift“, redete sie sich in Rage.
„Legitimiert hat er dich aber lange Zeit nach mir. Woran das bloß liegen mag?“
„Sicher nicht daran, dass Vater dich lieber gemocht hat.“
„Das sehe ich anders. Er wusste, wer es ehrlich meinte und wer nicht.“
„Da muss ich leider passen, Lotti. Mit menschlichen Abgründen kennst du dich besser aus, da kann selbst ich dir nicht das Wasser reichen.“
Henriettes Sinne waren geschärft, vor allem da die Mutter kreidebleich geworden war und wie in Trance den Löffel ablegte.
„Lass sie endlich in Ruhe“, bat Élisabeth.
Françoise machte eine wegwerfende Handbewegung. „Du hältst am besten dein Schandmaul. Apropos Schandmaul: Wo ist eigentlich dein Mann, Diana? Vergnügt sich Louis lieber im Freudenhaus als hier zu sein?“
„Was erlaubst du dir?“, entfuhr es Lotti.
„Führst du jetzt schon die Gespräche anstelle meiner Tochter?“
„Tochter? Das setzt voraus, dass sie eine Mutter hat. Die hat sie aber leider nie gehabt.“
„Du sprichst mit einer völlig Unbeteiligten“, sagte Diana. Ihr Atem kam stoßweise, als würde sie kaum Luft bekommen. Das schwarze Samtkleid ließ sie noch blasser wirken. „Diese Frau hat uns zwar geboren, aber damit ist ihre Schuldigkeit getan. Außer meinen Bruder, für den sie alles tut, hörte sie uns Töchter weder noch stand sie uns bei, als es nötig war. Für sie sind wir nicht mehr wert als der Dreck unter ihren Schuhen.“
„Was erlaubst du dir, du undankbares Gör?“
„Fühlst du dich betroffen, Mutter?“
„Hör sofort auf in diesem vulgären Ton mit mir zu sprechen!“, befahl Françoise mit zusammengezogenen Augenbrauen.
„Ich passe mich dir nur an.“
„Das hast du schon als Kind getan und Pflichten erfüllt, die …“
Diana schoss vom Stuhl hoch. Die Serviette flatterte von ihrem Schoß auf den Boden. Ihr Glas war umgefallen. Der Wein ergoss sich über die weiße Tischdecke. „Mir ist übel und ich möchte mich zurückziehen.“
Die Gespräche waren verstummt. Viele starrten zu ihrem Tisch.
„Geh nur.“ Lotti nickte Diana zu.
„Du bleibst gefälligst!“ Françoise schlug mit der Faust auf den Tisch.
„Schluss jetzt!“, stieß Henriettes Mutter zwischen zusammengebissenen Zähnen aus. Nie zuvor hatte Henriette sie zorniger erlebt. „Wenn es dir bei uns nicht gefällt, Françoise, dann geh! Es wird dich niemand aufhalten. Solltest du bleiben, verschone uns mit weiteren Gemeinheiten. Ich habe es satt, wie du dich aufspielst und von jedermann erwartest, dass man deine Gehässigkeit wie ein stummer Sünder duldet.“
Diana murmelte eine Entschuldigung und verließ beinahe fluchtartig den Saal.
„Diesmal will ich dir die Beleidigung durchgehen lassen“, sagte die Großtante gefährlich leise. „Ein nächstes Mal wäre jedoch gleichbedeutend mit dem Ende deiner verdorbenen Sippe! Überlege dir also gut, wie du mich behandelst. Quid pro quo.“
Auf einmal erhob sich Jeanne in der hintersten Ecke und hielt ihr Glas in die Höhe. „Lasst uns auf Babette und ihre bezaubernde Familie trinken“, forderte sie und blinzelte Henriette verschwörerisch zu, die sich bei ihrem Anblick sofort besser fühlte. Die Gäste hoben ihre Gläser und bald darauf waren sie wieder in Gespräche versunken. Als hätten sie vergessen, was sich soeben vor ihren Augen abgespielt hatte. Doch der Schein trog. Heute wollten sie auf ihre Kosten speisen und trinken, morgen würden sie sich auf ihre Kosten lustig machen. Sie musste raus hier und zwar sofort!
Henriette zog die Fackel aus der Verankerung und öffnete die schwere Eisentür zum Bergfried. Jeanne war dicht hinter ihr. Sich hierher zu flüchten war die Idee ihrer Freundin gewesen, die ihr gefolgt war, nachdem sie den Saal tatsächlich verlassen hatte. Ein Affront, das war Henriette klar, doch sie wäre sonst geplatzt.
Der Bergfried, von dem sie ihrer Freundin schon bei ihrem Kennenlernen erzählt hatte, war genau der richtige Ort, um zur Ruhe zu kommen. Einträchtig stiegen sie bis ins vierte Geschoss hinauf. Jeanne keuchte, als sie oben ankamen und blickte sich um. An der gegenüberliegenden Mauer stand die Schatztruhe aus Zedernholz.
„Du hast nicht übertrieben. Ein zauberhafter Ort“, äußerte sich Jeanne. Henriette steckte die Fackel in die dafür vorgesehene Befestigung an der Wand. Die Flamme loderte, da aufgrund der Maschikulis ständig Luftzug herrschte. „Was ist da drin?“ Noch ehe Henriette antworten konnte, war Jeanne bei der Truhe. Plötzlich bekam sie einen Hustenfanfall und hielt sich die Hände vor den Mund. Henriette eilte an ihre Seite und wusste in ihrer Hilflosigkeit nichts anderes zu tun, als ihr unbeholfen auf die Schulter zu klopfen.
„Du erschlägst mich“, brachte Jeanne mühsam hervor und beruhigte sich allmählich. Als wäre nichts gewesen, hob sie den Deckel der Truhe an und lehnte ihn gegen die Wand.
Henriette erschrak zutiefst. „Da ist Blut an deinen Händen.“
Mit unbeteiligter Miene blickte Jeanne darauf. Im nächsten Moment nahm sie das braune Leinentuch heraus, das Henriettes Schätze verdeckte, und wischte sich damit ab. „Das habe ich von Zeit zu Zeit. Bisher konnte mir kein Arzt helfen, aber seitdem ich auf Mutters Rat hin eine Milchkur mache, bessert sich mein Zustand. Huch, wer um alles in der Welt ist dieser gutaussehende Grandseigneur?“ Jeanne ließ das Tuch auf den Boden fallen und griff zu Lucs Bild, das inzwischen in einem filigranen goldenen Rahmen steckte, den Henriette in den Umzugskisten gefunden hatte.
Staunend hob Jeanne das Portrait heraus, stellte sich nahe zur Fackel und besah es sich. „Hast du das gemalt?“
„Ja.“
„Diesen Mann würde ich sofort in mein Bett lassen“, verkündete sie, blickte aber gleich schuldbewusst zu Henriette. „Entschuldige, natürlich würde ich dir nie einen Mann abspenstig machen. Wer ist er, und vor allem, wo lernt man einen griechischen Gott wie ihn kennen?“
„Im Zweifelsfall wächst man mit ihm auf.“ Henriette trat neben sie. „Das ist Luc. Mein Bruder.“
„Etwas Charles’ Freund? Himmel, warum hat mir keiner gesagt, dass er so attraktiv ist?“ Jeanne lächelte verträumt. „Also verfolgst du keinerlei Absichten?“
„Wo denkst du hin? Wie gesagt, er ist mein Bruder.“ Henriette hörte selbst, wie mürrisch sie klang. Jeannes Schwärmen passte ihr ganz und gar nicht.
Ihre Freundin drückte sich das Bild an die Brust. „Hoffentlich sieht dein Cousin Luc ähnlich.“
Henriette runzelte die Stirn. „Welchen Cousin meinst du?“
„Ich spreche von Ludwig XV.“
„Ludwig? Unser König? Was hast du mit ihm zu tun?“
„Im Augenblick noch nichts, doch das wird sich ändern“, tat Jeanne geheimnisvoll, schloss den Deckel und setzte sich auf die Truhe. „Bisher konnte mir nämlich kein Mann widerstehen.“ Ein entschlossener Zug lag um ihren Mund. Louis’ Aussage kam Henriette in den Sinn. Was Männer betraf, hatte er vermutlich doch ins Schwarze getroffen. Ihre Freundin schien keine Heilige zu sein, die sie aber abgesehen davon nach wie vor bewunderte, denn Jeanne kletterte lieber auf Bäume und pflückte die Äpfel, statt darauf zu warten, dass sie herunterfielen. Nebenbei bildete sie sich unermüdlich weiter, liebte den Tanz und konnte dem Clavichord wunderbare Töne entlocken. Als wäre dem nicht genug, schien sie Schönheit und Liebreiz für sich gepachtet zu haben. Die braunen Augen funkelten und hoben sich im ovalen Gesicht wie zwei glänzende Edelsteine ab. Ihre Augenbrauen wirkten gleichmäßig geschwungen, als hätte sie ein Maler gekonnt verewigt. Selbst einige Pusteln am Kinn konnten dem Ebenmaß nichts anhaben. Und dann war da noch ihr blondes Haar, das sich über die Stirn auftürmte. Mit wertvollen Silberkämmen war es seitlich hochgesteckt, während sich die ungebändigte Lockenpracht über ihren Rücken ergoss. „Ich bereite mich Tag für Tag auf Ludwig vor.“
Henriette war wie vor dem Kopf gestoßen. „Wie bitte?“
„Versprich mir, dass niemals ein Sterbenswort deine Lippen verlässt“, verlangte Jeanne und Henriette nickte zaghaft. Wollte sie überhaupt eingeweiht werden? Lächelnd ordnete Jeanne die Falten ihres eierschalenfarbenen Kleides mit Brüsseler Spitze am Ausschnitt. „Als ich neun Jahre alt war, hat mich Mutter zu einer Wahrsagerin mitgenommen. Madame Lebon ist weitum bekannt für ihre Weissagungen.“ Jeanne schaute wieder auf Lucs Bild, bevor sie es sich auf den Schoß legte. „Auch mir sagte sie die Zukunft voraus.“
„Und die hat mit Ludwig zu tun“, kombinierte Henriette misstrauisch.
„Du zweifelst an der Hellsichtigkeit von Madame Lebon?“
„Erzähl weiter.“ Henriette wollte ihre Freundin nicht verletzen. Sie schien fest daran zu glauben.
„Nun ja, sie teilte mir mit, dass ich das Herz des Königs im Sturm erobern und es bis zu meinem Lebensende besitzen werde.“
„Aha.“ Henriette setzte sich neben Jeanne auf die Truhe.
„Sogar Mutter und mein Vormund sind davon überzeugt, dass es eines Tages genauso geschehen wird.“
„Ist euch nie in den Sinn gekommen, dass ihr auf eine Schwindlerin hereingefallen seid?“, konnte sich Henriette nun doch nicht zurückhalten. „Wieviel Geld hat sie verlangt?“
„Was spielt das für eine Rolle?“ Jeanne machte ein beleidigtes Gesicht. „Dass ausgerechnet du daran zweifelst, wundert mich wirklich. Du, die jedes Märchen für bare Münze nimmt.“
„Das war einmal. Jetzt bin ich erwachsen.“ Langsam wurde es Henriette zu bunt. Scheinbar dichtete ihr alle Welt Realitätsverlust an. Bloß, weil sie Märchen mochte.
„Wie auch immer, ich halte viel von Madame Lebon. Davon abgesehen habe ich dir viel von meinem Vormund erzählt. Insbesondere, dass er sehr gebildet und intelligent ist. Wenn er daran glaubt, mache ich es erst recht und warum denkst du, finanziert er meine umfassende Bildung, die im Übrigen ein Vermögen kostet? Aus Jux und Tollerei? Mit Sicherheit nicht.“
„Willst du damit sagen, dass er alles tut, um dich und Ludwig … aber dein Vormund ist der Onkel von Charles. Noch dazu bist du eine Bürgerliche!“
„Meine Herkunft wird kein Hindernis sein und ja, mein Vormund unterstützt mich. Er nennt mich sogar ´Reinetteˋ. Die kleine Königin muss die letzte Hürde allerdings ohne seine Hilfe schaffen, doch früher oder später wird Ludwig meinen Reizen erliegen. Das ist so sicher wie das Amen im Gebet.“ Jeanne schürzte ihre Lippen, als würde sie Ludwig bereits im Geiste küssen.
„Du bist verheiratet“, wandte Henriette ein.
„Und ich bekomme ein Kind.“
„Was?“, entfuhr es Henriette. „Trotzdem spinnst du diese verrückten Pläne weiter?“
„Sieh mal.“ Jeanne machte eine bedeutungsvolle Pause. „Mir wurde mein Schicksal vorausgesagt und damals war ich so weit von Ludwig entfernt, wie man es nur sein kann. Doch dank meines Vormundes stieg ich in der Gesellschaft auf, bin aufgrund meiner Heirat finanziell gut situiert und besitze durch Charles ein Anwesen, das sich in der Nähe des Waldes von Sénart befindet.“
„Ludwigs Jagdgebiet“, murmelte Henriette und rieb sich das Gesäß.
„Das Château d’Étiolles war ein Hochzeitsgeschenk meines Vormundes, seit kurzem besitzt Ludwig das Schloss Choisy in der Nähe.“ Verschwörerisch beugte sie sich zu Henriette. „Kann das Zufall sein?“
„Eigentlich hat er es für seine Mätresse gekauft.“
„Mätressen“, wurde Henriette sogleich berichtigt. „Momentan hat er zwei.“ Sie war besser informiert als Henriette, die etwas bestürzt war. Das hätte sie Ludwig nicht zugetraut. „Jedenfalls habe ich in meiner Kutsche Ludwigs Wald erkundet. Leider hat es mir die jüngere seiner Mätressen bis auf weiteres verboten, aber ihr vehementes Auftreten ist die beste Bestätigung, die ich bekommen kann. Sie sieht eine Gefahr in mir. Wer, wenn nicht eine Mätresse, kennt den Geschmack des Königs besser?“
Henriette musterte ihre Freundin und dachte an Élisabeths Standpunkt über die Liebe. Auch Karolina geisterte durch ihren Kopf. Eine Frau, die Henriette sehr schätzte. Was war nur los auf dieser Welt? Bekam niemand mehr den Hals voll? Genügte sich niemand selbst?
„Worum geht es dir im Eigentlichen? Um finanzielle Besserstellung oder bist du in Ludwig verliebt?“ Sie wollte wenigstens versuchen, Jeanne zu verstehen.
„Hast du mir nicht zugehört? Wir sind uns noch nie begegnet. Und Liebe …“, äußerte sich Jeanne abfällig, aber ihre Züge wurden sofort weicher, als sie Lucs Bild betrachtete. Beinahe zärtlich fuhr sie mit den Fingerspitzen darüber. Wieder erfasste Henriette ein ungutes Gefühl. Sollte sie mit Ludwig machen was sie wollte, aber Luc stand nicht zur Debatte. Denn so gern sie Jeanne hatte, in Bezug auf Männer klafften ihre Ansichten erheblich auseinander, wie sie wiederholt feststellen musste. „In deinen Bruder könnte ich mich verlieben. In diese Augen, das markante Gesicht. Er wirkt sensibel und stark, energisch und sanft. Der spöttische Zug um seinen Mund ist sehr reizvoll, auch die kleine Kerbe am Kinn.“ Henriette verscheuchte das Bild, wie Luc von Jeanne geküsst wurde. „Du hast ihn so lebensecht gemalt, dass man das Gefühl hat, er würde vor einen stehen.“ Sie schien sich kaum sattsehen zu können!
„Mein Cousin sieht tausendmal besser aus als Luc“, log Henriette, „das Volk nennt Ludwig sogar den schönsten Mann Frankreichs. Aber das wirst du bestimmt wissen.“
„So ist es, doch solange ich mich nicht selbst davon überzeugen kann, geht es in erster Linie nur darum, sein Herz zu gewinnen.“
„Und was ist mit deinem? Spielt Liebe keine Rolle? Geht es jedem heutzutage nur um Macht und Reichtum?“ Henriette erhob sich, nahm Lucs Bild an sich und verbarg es hinter ihrem Rücken.
„Ich bin enttäuscht, dass du mich derart verkennst“, sprudelte es aus Jeannes kleinem Mund, der immerzu schimmerte. Auch sie stand auf und ging einige Schritte. „Ich bin kein schlechter Mensch. Aber ein Mensch mit vielen Ideen, die ich in der Kleinbürgerlichkeit meines Lebens keinesfalls umzusetzen vermag. Mit einem König an meiner Seite wäre es anders, denn ich interessiere mich für vieles. Ob Politik oder Kunst, Wissenschaft oder Porzellan. Ich möchte etwas verändern. In meinem Leben und für Frankreich. Sogar den Soldaten fühle ich mich verbunden und ihren verwaisten Familien. Und natürlich möchte ich meiner eigenen mehr bieten, als uns zur Verfügung steht.“ Jeanne blieb stehen. Sie hatte Tränen in den Augen.
„Was soll ich dazu sagen? Es ist dein Leben“, gab Henriette nach. Das Gespräch würde unweigerlich zum Streit führen, weil ihr nach wie vor das Verständnis fehlte. Jeanne hatte Charles. Außerdem war sie in anderen Umständen. Trotzdem konnte sie sich scheinbar nichts Schöneres vorstellen, als die Geliebte des Königs zu werden. Doch wer wusste schon, ob ihre Saat tatsächlich aufgehen würde? „Du bist anders als ich, Jeanne, aber weil mir unsere Freundschaft wichtig ist, werde ich vergessen was du mir soeben erzählt hast.“ Henriette öffnete die Truhe und legte Lucs Bild vorsichtig hinein.
„So wie ich vergessen werde“, kam es leise zurück, „wie du das Portrait deines Bruders gemalt hast und es jetzt betrachtest.“
Henriette richtete sich abrupt auf. „Wie denn?“ Ihre Wangen brannten.
„Beides spricht von tiefer Liebe.“
„Er ist mein Bruder. Wieso sollte ich ihn nicht lieben?“
„Natürlich, du hast recht. Doch da ist noch etwas anderes. Ich sehe meinen Bruder jedenfalls nicht auf diese Weise an. Aber keine Angst, ich schweige wie ein Grab. Mir ist ohnehin nichts fremd auf dieser Welt.“
Henriettes Herz hämmerte regelrecht gegen die Brust. „Was reimst du dir da zusammen?“
„Verzeih“, Jeanne hob beschwichtigend die Hände, „ich bin zu weit gegangen. Doch wie du den Platz an Lucs Seite verteidigt hast und sein Bild …“
„Das höre ich mir nicht länger an!“, fuhr Henriette ihr über den Mund. All die aufgestaute Wut brach aus ihr heraus. Hastig hob sie ihr Kleid an und lief die Stufen hinunter. Jeannes Rufe schallten durch das Gewölbe, aber sie rannte weiter, denn sie hatte die Nase voll von Anspielungen jeglicher Art. Sei es von Jeanne, Philippe oder der Großtante.
Demonstrativ schlug sie die Tür hinter sich zu. Genauso würde sie es mit dem heutigen Abend tun!
Henriette zog sich die Decke über den Kopf. Sie hatte schlecht geschlafen und schaffte es kaum die Augen zu öffnen, da die Müdigkeit bleiern auf ihnen lag. Wie spät es wohl sein mochte?
Pferde wieherten, laute Stimmen dröhnten vom Innenhof herauf. Schritte hallten eilig durch den Gang. Jemand schleifte etwas hinter sich her. Eine Truhe? Womöglich brachen die ersten Höflinge zur Heimfahrt auf.
Lustlos schlug sie die Decke zurück und rieb sich die Augen, bevor sie zu den verstaubten grünen Vorhängen schaute. Ein schmaler Lichtstreifen drang durch den Spalt und teilte den Holzboden. Nahe dem Bettpfosten wurde er von einem waagrechten Streifen gekreuzt. Wie ein Kruzifix. Henriette schüttelte sich, aber nicht deswegen, sondern weil ihr die Unterhaltung mit Jeanne in den Sinn kam. „So etwas Absurdes“, flüsterte sie, verbat sich jedoch jeden weiteren Gedanken daran und verließ das Bett. Dann zog sie die Vorhänge auf. Sonnenlicht drang herein und tauchte die Kammer in grelles Licht. Sie wollte gerade zum Wasserkrug hinter der Waschschüssel greifen, als sie aufhorchte. Die laute Stimme der Großtante schallte durch den Gang. Gleichzeitig hörte sie Dianas, die nicht viel leiser sprach. Offensichtlich stritten sie sich.
Schnell schlüpfte Henriette in die Pantoffeln, streifte sich den sandfarbenen Morgenmantel über das zarte Spitzennachthemd und lief hinaus.
Diana stemmte erbost die Hände in die Hüften und schaute die Großtante zornig an. Élisabeth, selbst noch im Morgenrock, war sichtlich mit der Situation überfordert.
„Du wirfst mich allen Ernstes aus dem Schloss?“ Françoise lachte affektiert. „Dazu hast du kein Recht!“ Henriette beschleunigte ihre Schritte.
„Nachdem ich hinter deine ungeheuerliche Machenschaft gekommen bin, habe ich jedes erdenkliche Recht dazu. Also pack gefälligst deine Sachen, Mutter, und verschwinde aus unserem Leben!“
„Selbst wenn ich das täte, würde es nicht das Geringste ändern. Und falls du auf Lottis oder Babettes Schützenhilfe zählst, vergiss es. Sie werden keinen Finger rühren.“
„Bitte, hört auf“, mischte sich Élisabeth ein, neben der Henriette nun stand, und hielt Françoise am Arm fest. Mit einem Ruck befreite sich die Großtante, ordnete die Falten ihres Kleides und wischte sich über den Ärmel, als würde es sie vor Élisabeths Berührung ekeln.
„Kann mir mal jemand sagen, warum ihr euch streitet?“, fragte Henriette und blickte zu Françoise. Dabei zog sie den Gürtel ihres Morgenmantels enger und stellte sich demonstrativ an Dianas Seite, die rotgeweinte Augen hatte.
„Meine Tochter und ich sind wieder einmal verschiedener Ansicht“, tobte Françoise, deren Zittern nie stärker gewesen war. „Sie glaubt zu allem Überfluss, dass sie mich erpressen könnte. Aber da hat sie sich geschnitten.“
„Ha, dass ich nicht lache“, stieß Diana aus. „Wer erpresst hier wohl wen?“
Henriette hielt ihre Schwägerin sanft an den Schultern fest. „Du musst dich beruhigen. Vor allem deinem Kind zuliebe.“
„Du hast ja keine Ahnung, was hier gespielt wird. Aber ich sollte tatsächlich auf mein Zimmer gehen, das hier hat ohnehin keinen Sinn. Begleitest du mich? Es gibt nämlich einiges, das du wissen solltest, Henriette.“ Ihre Schwägerin zog sie an der Hand mit sich.
„Willst du schon wieder die Flucht ergreifen?“, kreischte Françoise und stellte sich ihnen in den Weg. Diana ließ Henriette augenblicklich los, machte kehrt und eilte zur Treppe. Henriette folgte ihr, wie auch die Großtante und Élisabeth. Plötzlich wurde Henriette an den Haaren zurückgerissen. Sie schrie auf und konnte sich gerade noch am Geländer festhalten. Wie eine Furie drängte Françoise sie beiseite und verfolgte Diana mit einer Schnelligkeit die Stufen hinunter, die man ihr nicht zugetraut hätte. Unten im Foyer bekam sie ihre Tochter zu fassen und schubste sie in den Rücken. Diana strauchelte, behielt jedoch das Gleichgewicht und drehte sich zornig zu ihr um.
„Was willst du denn noch, Mutter? Mich umbringen?“
Henriette war wie erstarrt, als Françoise plötzlich schallend lachte. Aber es endete genauso abrupt wie es angefangen hatte. Mit verengten Augen stierte sie Diana an, die vor der Rosenholzkommode stand. „Du wirst keinen Ton sagen, hast du mich verstanden?“
„Und ob! Henriette sollte wissen, dass Luc nicht …“
Plötzlich stieß die Großtante einen wütenden Schrei aus und schubste Diana von sich. Mit weit aufgerissenen Augen taumelte sie nach hinten, verlor den Halt und prallte mit der Schläfe gegen die Kante der Kommode, bevor sie auf den Boden stürzte und hart mit dem Kopf auf dem Marmor aufschlug.
Das knacksende Geräusch fuhr Henriette bis ins Mark. „Diana!“, schrie sie auf, hetzte die Treppe hinunter und drängte Françoise zurück. Élisabeth wimmerte leise. Diana lag leblos vor ihnen. Henriette fühlte sich wie gelähmt, als plötzlich die Eingangspforte aufgestoßen wurde.
„Was schreit ihr hier so … Kind, was um alles in der Welt …“, Henriettes Mutter schlug sich die Hand auf den Mund und blickte auf Diana. Dann schaute sie Françoise an. „Was hast du getan?“
„Mach dich nicht lächerlich“, verteidigte sich die Großtante. „Es war ein Unfall. Sie wird schon wieder.“
„Das war kein Unfall!“, widersprach Élisabeth und blickte zur Treppe hoch. „Und Ihr? Was gafft Ihr wie Holzklötze? Macht, dass Ihr verschwindet.“ Die Marquise und Rosalie blickten verstört zu Diana und hatten wenige Sekunden später das Palais verlassen. Die Pforte stand weit offen. Ein kühler Lufthauch wehte herein.
„Wir brauchen einen Arzt.“ Die Mutter blickte sich um. „Wo sind die verdammten Dienstboten?“ Sie beugte sich zu Diana und legte Zeige– und Mittelfinger an ihren Hals. „Ich fühle einen Puls. Aber er ist schwach.“
Henriette zögerte, bevor sie sich zu Diana kniete und ihr über das wächserne Gesicht strich. Aus ihrem Mund floss ein dünnes Rinnsal Blut, an der Schläfe zeigte sich eine tiefe Fleischwunde. „Sie fühlt sich so kalt an.“
„Du meine Güte, Diana!“ Lotti kam aus dem Salon. Wut stieg in Henriette hoch. Die Großmutter musste den Streit gehört haben. Weshalb hatte sie nicht eingegriffen? „Was ist mir ihr?“
„Sie ist gestürzt“, sagte Henriettes Mutter und hielt die flache Hand über Dianas Mund. „Ihr Atem wird schwächer. Élisabeth, lauf zu den Stallungen. Einer der Burschen soll unser bestes Pferd nehmen und sofort nach Chinon reiten, um den Arzt zu holen. Los, lauf! Sonst stirbt sie uns unter den Händen weg.“
„Ich werde nach Chinon reiten!“
Henriette war wie vom Donner gerührt, als sie hochblickte.
Luc stand in Uniform und mit eherner Miene in der offenen Tür. Seine weiße Hose steckte in hohen schwarzen Lederstiefeln, die bis zum Schaft mit Dreck beschmutzt waren. Er trug einen blauen Rock mit rot–weißem Abzeichen. In den sehnigen Händen hielt er eine schwarze Pelzkappe mit weißer Kordel. Ihre Blicke trafen sich. Sekundenlang trat alles andere in den Hintergrund. Henriette spürte nur ihren schnellen Herzschlag. Nie zuvor hatte sie Luc im Ehrenkleid der Nation gesehen. War er ihr deswegen fremd und doch vertraut zugleich?
„Ein Desaster folgt dem nächsten! Was tust du hier?“ Lottis Stimme klang schrill. „Aber wenn du schon helfen willst, schaff einen Arzt herbei und damit ist deine Schuldigkeit getan. Gute Reise, wo auch immer sie dich als nächstes hinführt.“ Die Großmutter eilte in den Salon zurück und ließ die Tür mit lautem Knall hinter sich zufallen. Henriette war entsetzt über Lottis Gehässigkeit, die Mutter blickte Luc entschuldigend an.
„Ich bin bald zurück“, sagte er, legte die Sturmhaube auf die Kommode und hetzte hinaus.
„Für mich gibt es nichts mehr zu tun.“ Françoise ging auf den Salon zu.
„Nein, du hast genug getan“, pflichtete die Mutter ihr mit brüchiger Stimme bei. „Henriette, wir müssen Diana warmhalten. Hol eine Decke.“ Die Salontüre fiel erneut lautstark ins Schloss.
„Dafür ist keine Zeit.“ Mit fiebrigen Fingern öffnete Henriette die Schlaufe ihres Gürtels, zog sich den Morgenmantel aus und breitete ihn über Diana. Élisabeth sank auf die unterste Treppenstufe, als hätte sie keine Kraft mehr. Dann faltete sie ihre Hände und murmelte leise vor sich hin. Aus dem Salon hörte man gedämpften Streit.
„Wir müssen Dianas Wunde reinigen und verbinden. Ich hole Verbandszeug und Wasser.“ Die Mutter richtete sich auf und bat Élisabeth ihr zu helfen. Henriette blieb mit ihrer Verzweiflung allein zurück.
„Hen…riette?“ Dianas Lider flatterten.
Endlich! Sie war aufgewacht. Hoffnung kam in Henriette hoch. Gleichzeitig kämpfte sie gegen ihre Tränen an. „Schsch, keine Sorge, der Arzt ist bald da. Hast du Schmerzen?“
„Nein“, Diana lächelte tapfer, „ich spüre kaum etwas.“
„Du musst kämpfen. Für dich und das Kind. Außerdem brauchen dich Louis und dein Sohn, genau wie ich.“ Sie legte ihre Hand auf Dianas Bauch. Das Kind bewegte sich ohne Unterlass.
„Es ist …“ Dianas Stimme war nicht mehr als ein leiser Hauch. „Ich habe … nicht mehr viel Zeit.“
„Sag das nicht.“ Ihre Augen füllten sich mit Tränen. „Bitte, sag das nicht“, flüsterte Henriette mit erstickter Stimme.
„Mir ist kalt … fürchterlich kalt“, auch Diana weinte und verzog schmerzvoll das Gesicht, „Ich will … Antoine aufwachsen sehen, aber …“, sie hielt sich plötzlich schwerkeuchend an Henriettes Arm fest. „Sag Louis und meinem Sohn, dass ich sie liebe und da ist noch etwas, das du unbedingt wissen …“ Diana stöhnte qualvoll auf. Das Strampeln des Kindes wurde schwächer. Henriette begann zu wimmern und spürte etwas Nasses unter sich. Als sie hinschaute, sah sie Blut, das durch Dianas Kleid sickerte. Sie schluchzte auf, weil die Kindsbewegungen schwächer wurden. Dann verharschten Dianas Züge, als würde sie unter Aufbietung ihrer letzten Kräfte gegen den Tod ankämpfen … bis der Druck ihrer Hand nachließ, die schließlich auf den Boden sank.
Entsetzt starrte Henriette auf Dianas Brust, die sich nicht mehr hob. Auch ihr Kind bewegte sich nicht mehr. „Nein! Diana, nein!“ Schluchzend nahm sie die leblosen Hände und küsste sie unablässig. „Wach auf!“, rief sie anklagend, „du musst aufwachen! Was wird aus Antoine? Aus mir?“
Ein Topf zerschellte auf dem Boden. Wasser platschte auf. Tränenblind erkannte Henriette die schemenhafte Gestalt ihrer Mutter, die unbeweglich vor ihr stand, während Élisabeth mit schleppenden Schritten auf sie zukam. Dabei entglitt ihr der Wundverband.
„Darf ich meine Schwester halten?“, fragte sie und ließ sich auf die Knie sinken.
Henriette nickte und küsste Diana auf die Stirn, bevor sie aufstand und zu ihrer Mutter ging. Ihre Schritte fühlten sich an, als würde sie durch flüssiges Blei waten. Die Scherben knirschten unter ihren Schuhen.
„Wie soll ich das bloß Louis beibringen?“ Die Mutter war kaum zu verstehen, obwohl es sogar im Salon still geworden war, und zog Henriette in ihre Arme. Sanft strich sie ihr über das Haar. „Und Antoine?“
„Gottes Wege sind unergründlich“, sagte plötzlich jemand. Henriette blickte hoch. Philippe kam die Stufen herunter. Er trug einen Hut und nach wie vor den blauen Anzug, der jetzt wie eine lächerliche Verkleidung aussah. „Wo ist Françoise?“ Kein Bedauern war ihm anzuhören, auch die Miene war unergründlich. Dicht vor ihnen hielt er ein. Sein Blick glitt über Henriettes Körper.
„Ich dachte, Ihr hättet unser Schloss bereits verlassen.“ Die Mutter zog Henriette enger an sich.
„Wie ich sehe, wäre es besser gewesen. Aber Françoise hatte noch etwas zu erledigen.“
„Was denn? Diana umbringen?“, machte Henriette ihrer Verzweiflung Luft.
„Gute Heimfahrt“, sagte die Mutter. „Françoise wird sicherlich bleiben. Wir müssen ihre Tochter begraben.“
Sein Blick blieb starr auf Henriette gerichtet. „Guten Tag, die Damen.“
„Kein Wort des Beileids?“, flüsterte die Mutter, als er sich umdrehen wollte.
Philippe hielt inne. „Um Diana tut es mir leid. Aber die Erde dreht sich weiter.“
„Ihr wisst ja, wo der Ausgang ist!“, fuhr die Mutter ihn eisig an und zeigte zur Pforte. Philippe lüftete kurz den Hut und durchmaß dann das Foyer mit großen Schritten. An der Tür drehte er sich noch einmal um, als ob er etwas sagen wollte. Doch schließlich schritt er hinaus.
„Was für ein Widerling“, stürzte es aus Henriette heraus.
„Beschäftige dich nicht weiter mit ihm.“ Die Mutter strich ihr eine Strähne hinter das Ohr zurück. Dianas Tod relativierte vieles und schuf wieder Nähe zur Mutter. Trotzdem zermarterte sich Henriette das Gehirn, was Diana ihr hätte sagen wollen. „Zum Glück sind die meisten Gäste frühzeitig aufgebrochen, aber Jeanne und ihr Gatte könnten jederzeit vom Besuch auf dem Markt in Chinon zurückkommen. Ich möchte vermeiden, dass sie Diana so sehen. Vor allem Antoine, den sie mitgenommen haben. Deswegen müssen wir sie umgehend in ihr Zimmer bringen und nach dem Priester schicken lassen.“ Sie klang seltsam gefasst. „Und du, Henriette, lauf in den Park und hol ein paar Rosen. Aber zieh dir zuerst etwas an.“
Erst jetzt wurde Henriette bewusst, dass sie lediglich ihr dünnes Spitzennachthemd trug. Es war mit Blut besudelt. Mit Dianas Blut. Sie löste sich von ihrer Mutter und fühlte sich plötzlich schutzlos. Allein. Mit allem überfordert.
Als sie ihr Zimmer betrat, fiel ihr Blick auf das Kleid, das sie zum Ball getragen hatte. Es lag am Fußende des Bettes. Das Fest schien Jahre her zu sein, aber die gemeinsamen Momente mit Diana waren nahe wie nie. Henriette sah sie vor sich und streckte die Hand aus, weil sie glaubte, sie berühren zu können. Doch sie griff ins Leere.
Weinend sank sie auf das Bett. Ein Leben ohne Diana war unvorstellbar. Sie war ein so wundervoller Mensch gewesen. Viel zu jung, um zu sterben. Zu gut, um schon gehen zu müssen. Louis würde am Boden zerstört sein und Antoine, der gestern noch eine liebende Mutter hatte, war heute Halbwaise geworden. Doch nicht nur Diana war gestorben. Ihr ungeborenes Kind ebenso.
Kraftlos wischte sich Henriette über das Gesicht, kleidete sich an, holte sich ein Messer aus der Küche und lief in den Park. Dianas Tod verfolgte sie, während sie die Rosen schnitt. Aber auch Lucs Rückkehr. Wie leer und ausgehöhlt sie sich fühlte!
Plötzlich rutschte sie mit dem Messer ab und verletzte sich am Zeigefinger. Blut trat aus der Wunde. Wie hypnotisiert starrte Henriette darauf. Es brannte, aber sie spürte etwas. Spürte sich selbst. Ihr ganzes Denken richtete sich auf diese kleine Wunde. Auf das Pochen unter der Haut. Bis sie sich eine Närrin schalt und den blutigen Zeigefinger am Kleid abwischte.
In Dianas Kammer bekam sie dann einen regelrechten Weinkrampf. Man hatte ihrer Schwägerin ein sauberes schwarzes Kleid angezogen und das Haar seitlich drapiert, um die Verletzung zu überdecken. Liebevoll strich Henriette ihr über die gefalteten Hände, um die man einen Rosenkranz geschlungen hatte und schluchzte auf, bevor sie die Blumen auf ihren gewölbten Bauch legte. Als sie hinter sich das Knarren der Tür hörte, wischte sie sich über die Augen und wandte sich um.
Luc trat zögernd herein. „Ich mochte Diana sehr, obwohl ich sie nur flüchtig kannte.“ Seine Stimme war tiefer geworden. Das gebräunte Gesicht markanter und männlicher, die Schultern breiter. Henriette starrte ihn an, wie er sie anstarrte. Erst als der Arzt und ihre Mutter in das Zimmer kamen, lösten sich ihre Blicke voneinander. Am liebsten hätte sie sich in Lucs Arme geworfen und glaubte zu spüren, dass er ihr gerne beigestanden hätte. Aber sein verschlossenes Gesicht verunsicherte sie wiederum und es machte sie traurig, weil es ganz danach aussah, dass die Kluft zwischen ihnen nach wie vor da war.
„Ich werde sie untersuchen“, informierte der Arzt, deponierte seine Tasche auf dem Nachttisch und öffnete sie. Henriette stellte sich zum Fenster und blickte hinaus. „Ich muss Eure Schwiegertochter öffnen“, vernahm sie ihn und hörte ein metallisches Geräusch, „und das Kind herausschneiden.“ Henriette fuhr herum.
„Untersteht Euch!“, kam die Mutter ihrem Einwand zuvor. „Niemand wird Diana von ihrem Kind trennen. Wir werden die beiden gemeinsam zu Grabe tragen.“
„Das wird kein Priester zulassen, Madame.“ Im silbernen feinen Messer, das in der ruhigen Hand des Arztes lag, spiegelten sich die Rosen wider.
„Lasst das unsere Sorge sein.“ Luc fuhr sich durch das braune Haar. Eine Strähne fiel ihm in die Stirn. Der Erbring blitzte auf, als er sie zurückstrich und erst jetzt bemerkte Henriette ein rotes Brandmal in der Größe einer Säbelspitze nahe seinem Ohr.
„In drei Tagen werden Diana und ihr Kind begraben“, sagte die Mutter. „Bis dahin müssen wir Louis irgendwie erreichen.“ Ermattet lehnte sie sich gegen die Kommode. „Den Boten habe ich bereits nach Paris geschickt. Auch mein Sohn würde niemals zulassen, dass Ihr Diana verstümmelt, Monsieur.“
„Wozu habt Ihr mich dann holen lassen? Dass die junge Dame tot ist, sieht ein Blinder.“
„Als wir Euch rufen ließen, hat sie noch gelebt“, erwiderte die Mutter mit unterschwelligem Zorn. „Außerdem solltet Ihr nicht so taktlos sprechen.“
Der Arzt legte sein Instrument in die Tasche zurück und verschloss sie. „Wie dem auch sei, für mich gibt es hier nichts mehr zu tun. Aber erlaubt mir die Bemerkung, dass ich Eure Forderung ketzerisch finde. Kein Priester auf dieser Welt wird eine Bestattung wie diese gutheißen geschweige denn seinen Segen dazu geben.“
„Wir werden sehen.“ Luc schob die Tür weiter auf. Grußlos verließ der Arzt das Zimmer.
„Ich möchte nicht, dass man Diana in der Pariser Familiengruft beisetzt. Noch dazu wird es dort um einiges schwieriger sein, sie mit dem Kind gemeinsam bestatten zu lassen“, äußerte sich die Mutter und atmete einige Male tief durch, als müsste sie sich zur Ruhe zwingen. „Aber wir sind es ihr schuldig, dass sie zusammenbleiben dürfen, weil Diana ihr Kind nie hergeben würde, denn sie liebte es … wie sie dieses Schloss liebte. Deswegen könnten wir sie hier bestatten, wo es weniger Fragen gibt. Es ist sicher auch in Louis’ Sinn.“
„Dazu brauchen wir Ludwigs Erlaubnis“, gab Luc zu bedenken und schaute zu Henriette, die seinem Blick auswich. „Immerhin gehört das Anwesen ihm.“
„Mit dem König werde ich mich schon einigen.“
„Diana mochte den Hügel“, sagte Henriette mit Tränen in den Augen. „Besonders den Platz unter der Traubeneiche.“
„Stimmt“, pflichtete die Mutter ihr bei.
„Obwohl ich euch verstehe, gebe ich noch einmal zu bedenken, dass wir ohne Ludwigs Zustimmung nichts tun können und warum sollte er sie uns geben, Mutter? Das wäre dasselbe, als würden wir im Park unserer Châteaus eine von Ludwigs Mätressen bestatten.“ Ihr Bruder würde aus allen Wolken fallen, sobald er erfuhr, dass ihnen die Besitztümer nicht mehr gehörten. „Mir ist klar, dass der Vergleich hinkt, allerdings will ich damit nur verdeutlichen, dass …“
„Willst du mir helfen“, unterbrach ihn die Mutter, „oder mir die Sache ausreden?“
Luc trat zum Bett und betrachtete Diana, die aussah, als würde sie schlafen. „Natürlich möchte ich dir helfen. Allerdings habe ich mehr Abstand zu meiner Schwägerin als ihr.“ Er hob den Blick, der sich kurz zu Henriette verirrte, bevor er die Mutter in Augenschein nahm. „Deswegen sehe ich die Sache etwas nüchterner und wollte nur einen Denkanstoß geben.“
„Ich rede nachher mit Françoise. Wenn wir in dieser Hinsicht an einem Strang ziehen, wird Ludwig sicherlich seine Zustimmung geben, denn im Augenblick fällt mir keine andere Lösung ein.“
„Am liebsten würde ich Françoise vom Schloss jagen.“ Henriette spürte Lucs Blick fast körperlich. „Ich hasse sie dafür, was sie Diana und uns allen angetan hat!“
„Trotz allem: Sie ist ihre Mutter, und obwohl deine Großtante ein schlechter Mensch ist, traue ich ihr nicht zu, dass Absicht dahinter lag“, erwiderte die Mutter. „Wir werden also Geduld aufbringen müssen, bis die Totenmesse vorüber ist.“
„Absichtlich oder nicht, Diana wollte mir irgendetwas sagen. Im selben Moment hat Françoise ihr einen Stoß gegeben.“ Die Mutter wirkte betroffen. „Mag sein, dass sie Dianas Tod nicht beabsichtigt hat, aber er scheint sie auch nicht sonderlich zu stören.“
„Wie üblich wird die Wahrheit irgendwo dazwischen liegen, mein Kind.“
„Die Wahrheit“, wiederholte Henriette bitter und blickte zu Diana. „Es gibt nicht viele Menschen in unserer Familie, die ehrlich sind.“
„Bleibst du noch eine Weile bei ihr?“, erkundigte sich die Mutter mit zitternder Stimme. „Ich würde gern einiges mit Luc besprechen.“
Henriette fing wieder seinen Blick auf und hatte keine Kraft, sich daraus zu lösen. „Ja“, stammelte sie und ertappte sich Minuten später dabei, dass sie noch immer den Punkt fixierte, wo er gestanden hatte.