Читать книгу Die Geschwister Bourbon-Conti - Ein fatales Familiengeheimnis - Bettina Reiter - Страница 8

4. Kapitel

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Die Bäume warfen bereits lange Schatten und die Abendsonne ließ ihre Kronen golden aufleuchten, als Luc querfeldein auf den Ehrenhof des Schlosses Chambord zuritt. Das braune Hauptportal öffnete sich. Sein Freund Hermann eilte die zwei Stufen herunter und schritt ihm entgegen. Dabei hob er die Arme und machte eine Handbewegung, als ob er ihn aufhalten wollte. Luc lachte und trieb sein Pferd zum Galopp an. Der prächtige Araberhengst hetzte auf Hermann zu, der sich nicht von der Stelle rührte. Im letzten Moment zog Luc die Zügel herum, da er wusste, dass sein Freund nicht freiwillig ausweichen würde.

„Brrrr“, Luc sprang vom Pferd und eilte auf seinen Kriegsgefährten zu. Lachend umarmten sie sich und schlugen sich gegenseitig auf die Schultern.

„Wie schön, dass du mein Angebot angenommen hast“, freute sich Hermann.

„Um nichts auf der Welt hätte ich das ausgeschlagen. Im viel gerühmten Schloss Chambord eingeladen zu sein ist eine Ehre.“ Luc nahm sein Pferd an den Zügeln, dessen weißes Fell glänzte. Dann blickte er sich um. Das Schloss galt als eines der herrlichsten in der Gegend des Loire–Tales. Der weiße Steinbau mit einer Vielzahl von Türmen, Kuppeln, Giebeln, Arkaden und Verzierungen ragte hoch in den blassblauen Himmel hinauf. Die Dachlandschaft erinnerte an eine zerklüftete Hochebene in gewaltigem Ausmaß. Genauso weitläufig war die Grünfläche, die das Schloss umgab, das sich im träge dahinfließenden Cosson spiegelte. „Die Leute haben nicht übertrieben. Ein Prachtbau, ganz wie es einem großen Kriegshelden wie dir gebührt.“

„Und du hast ein Prachtpferd. Aus Ungarn?“

„Ja, seit einem Jahr sind wir unzertrennlich.“ Luc tätschelte den Kopf seines Hengstes. „Ich nenne ihn Air.“

„Wind?“ Hermann fuhr sich durch die graue Lockenpracht, die zerzaust aussah, als wäre er gerade aus dem Bett gestiegen. „Kurz und bündig, wie man es von dir gewohnt ist.“

„Ja, ich mag es bescheiden. Genau wie du.“ Luc grinste zweideutig. „Wie viele Zimmer hat dein Schlösschen denn? Eins oder zwei?“

„Nur vierhundertvierzig Zimmer und vierundachtzig Treppen.“

„Für einen alleinstehenden Mann viel zu wenig Platz. Wie hältst du die Enge bloß aus?“

„Das frage ich mich auch. Aber im Ernst, du hast keine Ahnung, wie oft ich mich am Anfang verirrt habe. Es gibt eine doppelläufige Wendeltreppe, Verstecke, Geheimtüren und was weiß ich noch alles. Sogar die Umgebungsmauer erfordert einen ganzen Tagesmarsch, und der Wald ist fast so groß wie Paris. Komm, ich zeige dir alles.“

„Alles?“, tat Luc entsetzt.

„Witzbold.“ Hermann zog ihn mit sich und rief nach dem jungen Mann, der bei der Pferdekoppel stand. Eilig rannte er herbei. Luc übergab ihm die Zügel seines Hengstes, hob seinen Beutel herunter, schulterte ihn und schaute dem dürren Burschen flüchtig nach, der sein Pferd in Richtung Wassertrog führte.

„Keine Sorge, dein Araber ist in guten Händen.“

„Ich mache mir keine Sorgen.“

„Seit ich dich kenne, machst du dir ständig welche.“

Luc fühlte sich ertappt. Nun war er wieder auf französischem Boden und je näher er dem Schloss Ussé gekommen war, desto ruheloser wurde er. Obwohl es in der Ferne an manchen Tagen nicht viel besser gewesen war. Doch der Krieg hatte ihn wenigstens zeitweise abgelenkt. „Es wird langsam“, schwindelte Luc. „Von Tag zu Tag.“ Ein zweifelnder Blick traf ihn. Seit Prag wusste Hermann Bescheid über seine Gefühle für Henriette. Eines Abends hatte er zu viel getrunken und ihm alles erzählt. Es hatte einige Zeit gedauert, bis sein Freund die Sache verdaut hatte. Doch seither stand er ihm treu zur Seite und dass er ihn nicht dafür verurteilte, hatte Luc noch mehr für ihn eingenommen. Einen besseren Freund als Hermann würde es auf dieser Welt kaum geben.

„Dein Wort in Gottes Ohr. Und jetzt komm.“ Einträchtig schlenderten sie zur Menagerie, in der Hermann an die hundert Rehe hielt. Stolz erzählte er, dass sie aus seinem Heimatland stammten. Der Kurfürst von Sachsen hatte ihm die Erlaubnis gegeben, die Tiere zu importieren. Danach hörte Luc eine Menge über die Trockenlegung der Sümpfe, um die Seuchengefahr einzudämmen. Interessanter wurde es im Schloss, das sie während Hermanns Redeschwall betreten hatten. Jeder Korridor war riesig und hätte einem Bürgerhaus Platz geboten. Der Treppenturm stellte ein fantastisches Meisterwerk da Vincis dar und Schächte zur Entlüftung der sanitären Einrichtungen führten vom Keller bis zum Dach hinauf. Eine Erfindung wie diese hatte Luc nie zuvor gesehen.

„Damit werden schlechte Gerüche nach außen getragen“, erklärte Hermann mit stolzgeschwellter Brust und zog ihn weiter. Es gab viele Appartements, auch in den Türmen. Hermann hatte eines davon nach seinem Geschmack umbauen lassen. Die Wände waren mit Holzvertäfelungen und kostbaren Wandteppichen geschmückt, die Möbel aus exquisitem Walnussholz und überall standen exotische Mitbringsel aus aller Herren Länder.

„Was für ein imposanter Kachelofen.“ Luc ging auf das weiße Ungetüm mit sächsischem Wappen zu. Jede Kachel zeigte ein hellbraunes Motiv. „Meißner Porzellan, nehme ich an.“

„Nicht ganz. Der Ofen ist aus Fayence gefertigt. Vier dieser Prunkstücke habe ich mir aus meiner Heimat liefern lassen, da die Räume damit besser beheizbar sind. Wie findest du ihn?“

„Etwas zu überladen für meinen Geschmack, aber dir muss er letztendlich gefallen.“

„Jeder andere hätte mir Honig um den Bart geschmiert. Umso mehr schätze ich deine Ehrlichkeit“, sagte Hermann lächelnd. „Und nun ruh dich etwas aus.“

Vor dem Kachelofen befanden sich ein Tisch und zwei Bänke. Hermann bedeutete Luc sich zu setzen, was er umgehend tat. Die Müdigkeit steckte in seinen Gliedern, da er die letzte Nacht fast durchgeritten war und sich auch untertags keine Pause gegönnt hatte.

„Ich gebe in der Küche Bescheid. Du hast bestimmt Hunger. Lehn dich inzwischen an den Ofen. Chantal wird dich wärmen, bis ich wieder da bin.“

Luc deutete ungläubig auf den Ofen. „Du nennst ihn Chantal?“

„In diesem Schloss kann man ziemlich einsam sein.“ Grinsend verließ Hermann den Raum.

Lachend zog sich Luc den Beutel von der Schulter und legte ihn neben sich auf die Bank. Jetzt war er froh, dass er sich für die Stippvisite bei Hermann entschieden hatte. Ein Mann, der aus der Nähe noch beeindruckender war und auf eine glänzende Karriere zurückblickte. Die Soldaten an den Fronten – sogar die der feindlicher Lager – waren voller Respekt für ihn. ´Das Wunderkind von Halleˋ nannte man ihn mitunter immer noch, denn Hermann war der illegitime Sohn von August dem Starken und hatte mit zehn Jahren ein Studium in Musik und Philosophie begonnen.

Doch seine Karriere machte er auf dem Schlachtfeld. Im Regiment von Prinz Eugen hatte alles seinen Anfang genommen, dann war er zum Marschall ernannt worden und ihm unterstand ein eigenes Heer. Doch trotz seiner Erfolge blieb er ein bodenständiger Mann, für den die Anerkennung seiner Untergebenen die höchste Auszeichnung war.

Luc wandte sich kurz zum Kachelofen um und grinste. Chantal!

Hermanns einziges Laster waren die Frauen und es tat gut, dass auch er schwache Seiten hatte. So räumte er freimütig ein, dass er Frauen beglückte wie er Feinde in die Flucht schlug. Nur in der Liebe schien ihn das Glück zu verlassen. So hatte sich seine Ehe mit der reichen Gräfin Löben als lieblos erwiesen. Über das Ende war er noch heute erleichtert. Anders verhielt es sich mit seiner großen Liebe Adrienne Lecouvreur. Hermann schwärmte oft von ihr. Von der begnadeten Schauspielerin, die vor allem als tragische Heldin vom Publikum und vielen Künstlern gefeiert, jedoch von der Kirche geächtet wurde, die ihr Gotteslästerei unterstellte. Doch ihr größter Feind war die eifersüchtige Herzogin von Bouillon gewesen. Adriennes plötzlicher Tod wurde deshalb ihr zugeschrieben. Sie hatte Hermanns Geliebte angeblich vergiftet. Aber nicht nur Adriennes Tod quälte Lucs Freund, auch die Tatsache, dass die Kirche eine Bestattung in geheiligtem Boden verweigert hatte. Man ließ ihre Leiche auf den Schindanger werfen. Hermann und viele ihrer Anhänger hatten Adrienne dann heimlich am Ufer der Seine beigesetzt. Seitdem hatte er der Liebe abgeschworen.

„Worüber sinnierst du nach?“ Hermann schob mit dem Fuß die angelehnte Tür auf. In den Händen hielt er jeweils einen Holzteller. Den größeren stellte er vor Luc ab. Speck, unförmig geschnittener Käse, dicke Brotscheiben und Wurst befanden sich darauf, sowie Sauerkraut und ungeschälte Kartoffeln. Hinter Hermann trat ein dunkelhäutiges Hausmädchen ein, das einen weißen Porzellankrug und zwei Gläser brachte. Als sie alles auf dem Tisch platziert hatte, zog sie sich mit einem förmlichen Knicks zurück.

„Hast du die Mahlzeit selbst zubereitet?“, erkundigte sich Luc.

Wie erwartet nickte Hermann, der sich zu ihm setzte und seinen Teller ein paar Mal drehte, als könnte er sich nicht entschieden, womit er beginnen sollte. „Meine Köchin hat Bauchschmerzen. Ich habe gerade den Doktor rufen lassen und sie ins Bett geschickt.“ Hermann biss herzhaft vom Brot. „Dabei hätte ich sie dir gern vorgestellt“, sprach er mit vollem Mund weiter. „Marlene ist bezaubernd, aber wählerisch. Wenn ich nicht zu alt wäre … du hingegen hättest sicher Chancen. Außerdem würde dir etwas Ablenkung guttun.“

„Danke für das Angebot.“ Nicht zum ersten Mal versuchte Hermann ihn zu verkuppeln. Luc wusste, dass er es gut meinte. Trotzdem ging ihm das allmählich auf die Nerven. Liebe ließ sich nicht erzwingen, aber leider auch nicht zum Teufel jagen. Insofern war es vielleicht tatsächlich ein Fehler, seine Familie besuchen zu wollen. In Ungarn hatte es sich einfacher angefühlt und er hatte das Gefühl gehabt, sich wieder halbwegs im Griff zu haben. Obendrein wollte er wissen, ob es allen gut ging. Doch jetzt in diesem Augenblick wurde ihm klar, dass er sich nur etwas vorgemacht hatte, denn wozu gab es Briefe. Nein, es war die Sehnsucht, Henriette zu sehen, die ihn hergeführt hatte. Und sei es nur für einen kurzen Augenblick. „Die Kartoffeln sind roh“, stellte Luc fest und hob eine davon in die Höhe. Es schadete nicht, das Thema zu wechseln.

Hermann schluckte seinen Bissen hinunter, schaute ihn verwundert an und klopfte auf die Kartoffel. „Und steinhart.“

Nun musste Luc schmunzeln. „Mich wundern die Bauchschmerzen der Köchin nicht, wenn ihr eure Mahlzeiten auf diese Weise zubereitet.“

„Sie wird es überleben und du auch. Gegessen wird, was auf den Tisch kommt“, meinte Hermann ungerührt, nahm den vor sich stehenden Krug und verteilte den purpurschimmernden Wein in beide Gläser, deren Kristall–Schliff ebenfalls das sächsische Wappen zeigte. Dann stellte er den Krug ab. Seine rauchblauen Augen suchten Lucs Blick. „Wie lang bleibst du?“

„Willst du mich schon wieder loswerden?“

„Im Gegenteil. Also, wie lange darf ich dich um mich haben?“

„Ein, zwei Tage. Dann reise ich zu meiner Familie weiter“, erwiderte Luc und schob sich ein Stück Wurst in den Mund, obwohl ihm der Hunger vergangen war, denn er war zwischen seiner Vernunft und seinem Herzen hin– und hergerissen.

„Bleib lieber bis Sonnabend.“ Hermann griff zu seinem Glas, neigte es ein wenig zur Seite und hielt es wieder gerade. Ein öliger Fleck blieb an der bauchigen Glaswand zurück. Eingehend betrachtete Hermann den Wein, bevor er einen Schluck trank. Mit genießerischer Miene stellte er das Glas zurück, behielt es jedoch in der Hand. „Ein Hausierer ist heute dagewesen. Er kommt jedes Jahr mit den schönsten Teppichen, edlem Email und anderen Dingen vorbei. Ich habe ihm fast alles abgekauft, aber du kennst diese Leute ja. Sie sind wie Plaudertaschen, wenn man ihnen den kleinen Finger reicht.“ Er räusperte sich. „Am Wochenende gibt deine Großmutter ihren Sommerball, zu dem auch ich eine Einladung erhielt. Allerdings habe ich sie wieder vergessen, weil ich ohnehin aus Termingründen nicht teilnehmen könnte.“ Er schaute Luc zwingend in die Augen. „Du solltest es auch bleiben lassen. Arbeite stattdessen mit mir eine Taktik gegen die Österreicher aus und begleite mich.“ Hermann fixierte wieder das Glas und drehte es. Vermutlich feilte er in Gedanken bereits an einem Angriffsplan.

„Beteiligt sich Sachsen am Erbfolgekrieg?“ Luc schob den Teller von sich und lehnte sich zurück. Hermanns verlorener Feldherrenblick konzentrierte sich wieder voll und ganz auf ihn.

„Das wird sich zeigen, aber die Österreicher werden es schwer haben, nachdem sie in der Schlacht gegen die Türken viele Männer einbüßten. Maria Theresias Heer ist geschwächt, das der Preußen zu allem bereit und legendär in der Kampfführung. Sie haben sich im Frühjahr mit Frankreich verbündet, seit einigen Tagen mit Bayern und Spanien. Dein Heimatland und Österreich sind seit jeher Erzfeinde. Spanien wird sich das zunutze machen und versuchen, verlorene Gebiete in Italien zurückzuerobern.“ Hermann zupfte an seiner nachtblauen Halsbinde herum. „Derzeit besetzen die Bayern Passau und Althaus. Die Engländer ziehen sich zurück und es sieht danach aus, als würde auch Sachsen in die Allianz eintreten. Es laufen Verhandlungen mit dem Kurfürsten von Bayern. Man bietet ihm einen Kuhhandel an, so sehe ich das zumindest. Unter anderem macht man ihm eine neue Ordnung der Erbländer schmackhaft. Obendrein sichert man ihm die Unterstützung in seiner angestrebten Königswürde zu. Mal sehen, ob ihr Wort etwas wert ist.“

„Glaubst du, Karl Albrecht verbündet sich mit Frankreich?“

„Er will König werden, dafür wird er alles tun. Frankreich ist ein mächtiger Alliierter.“

„Du ziehst also in den Kampf?“

„Meine Uniform liegt seit Tagen auf dem Bett.“ Hermann riss sich das Band unwirsch vom Hals und warf es auf den Tisch. „Ich frage mich, weshalb ich mich diesem Modediktat unterwerfe. Es schnürt einem die Kehle zu.“ Ein kratzendes Geräusch war zu hören, als er über seine stoppeligen Wangen fuhr. Sein fülliges Haar war fast zur Gänze silbergrau, nur die Spitzen waren noch braun wie die dichten Augenbrauen. Die Nase war energisch, die Lippen schmal, auf denen meist ein nicht ernstzunehmender Spott lag. Am Kinn hatte er eine kleine Einkerbung. Ansonsten war Hermann muskulös und konnte es mit jedem Milchbart aufnehmen. Davon abgesehen wirkte er auch im Gesicht um einiges jünger als vierzig.

„Du starrst mich an, Kleiner“, riss Hermann ihn aus seinen Gedanken.

„Weil ich gerade daran gedacht habe“, erwiderte Luc grinsend, „welche Schönheit wir mit dir auf dem Schlachtfeld haben.“

„Neidisch?“

„Träum weiter.“

„Nun, wenn es dich tröstet: Du verdrehst auch vielen den Kopf. Damit meine ich jedoch nicht die Soldaten.“ Hermann lachte und zeigte ein teegelbes kräftiges Gebiss. „Zugegeben, ich bin neidisch auf dich.“

„Über mangelnde Frauenbekanntschaften musst du dich zuletzt beklagen.“

Hermann wurde ernst und Luc las plötzlich Mitleid in seinen Augen. „Ich schätze dich sehr, mein Junge.“ Er beugte sich näher und legte Luc väterlich die Hand auf die Schulter. „Deshalb lass dir meinen Vorschlag durch den Kopf gehen. Am Sonntagmorgen werde ich abreisen. Schließ dich mir an und verzichte auf den Besuch bei deiner Familie.“ Der Druck seiner Finger verstärkte sich. „Um deinetwillen.“

Der Freitag schien sich endlos hinzuziehen und es herrschte ein Wetter wie im April. Die Sonne kam und ging, genau wie der Regen. Doch jetzt lag zwielichtige Düsterkeit über der Landschaft, gleichzeitig herrschte drückende Schwüle vor. Henriette saß wie üblich in ihrem ausrangierten Sessel im Salon und empfand die Laune der Natur wie eine Warnung. Deshalb konnte sie sich kaum auf ihre Stickarbeit konzentrieren, die das Wappen ihrer Familie zeigte.

Nach einer Weile vergeblichen Bemühens legte sie den Rahmen auf den Beistelltisch und beobachtete ihre Mutter, die am Tisch wieder eifrig Briefe an die Geschwister schrieb. Alle – bis auf Tante Alexandrine – hatten ihre Teilnahme am Ball abgesagt. Besser gesagt: Keine Antwort war auch eine Antwort. Doch ihre Mutter nahm das nach wie vor hin. Sollte sie doch, Henriette war es egal, weil sie noch immer wütend auf sie und Lotti war.

Antoine ahmte den Laut eines Pferdes nach. Er saß zu Dianas Füssen, die ein Leintuch ausbesserte, und spielte vergnügt mit den Holztieren, die Louis für ihn geschnitzt hatte. Die Großmutter schlenderte von einer Vase zur nächsten und arrangierte die darin gewässerten Gartenblumen ständig neu. Doch weder das kräftige Gelb, Rot und Weiß der Blüten noch der zarte Duft konnten die angespannte Stimmung verscheuchen. Die Ankunft der Großtante stand unmittelbar bevor und Henriette musste unwillkürlich an ein weiteres Märchen Perraults denken: ´Cendrillon ou la petite pantoufle de verreˋ. An das Aschenputtel mit dem gläsernen Schuh, die mit einer bösen Stiefmutter und deren verdorbenen Töchtern gestraft war.

Als Stimmengewirr in der Halle draußen die Ruhe aufscheuchte, zuckte die Großmutter unmerklich zusammen. Vermutlich einige Dienstboten, die sie eigens für das Fest eingestellt hatten. Sogar ein Orchester hatte Lotti verpflichtet, einige neue Kleider beim Schneider bestellt und die besten Köche weit und breit engagiert. Einen solchen Aufwand hatte sie noch nie betrieben und das auch noch angesichts der hohen Schulden!

„Warum soll das heurige Fest so pompös werden?“, rutschte es Henriette heraus, ehe sie sich zurückhalten konnte.

„Sieh an, deine Tochter spricht wieder mit uns“, sagte Lotti mit Blick auf die Mutter, die jedoch weiterschrieb, als hätte sie nichts gehört. „Nun, deine Zukunft wird in diesem Jahr besiegelt, Henriette. Dazu benötigt es einen angemessenen Rahmen. Das ist die schlichte Erklärung.“

„Ach, ihr tut das mir zuliebe?“ Henriette hätte am liebsten laut gelacht. „Die Wahl meines Ehemannes steht ohnehin fest. Warum der Aufwand? Oder lasst ihr euch von meinem Zukünftigen schon jetzt alles bezahlen?“

Diana blickte von ihrer Arbeit hoch. „Gib dem Herzog eine Chance, Henriette. Mein Bruder hat eine hohe Meinung von ihm und das will etwas heißen, denn er ist sehr wählerisch, was den Umgang mit anderen betrifft.“ Da ihre Schwägerin häufig Bettruhe hielt, hatte bisher die Gelegenheit gefehlt, um ihr von der Wendung zu erzählen. Vor allem davon, dass Dianas Bruder Henriettes zukünftiger Schwiegervater war! Ein Phantom, das sie bisher nie zu Gesicht bekommen hatte. Nicht einmal an Dianas Hochzeit hatte der Duc teilgenommen. Angeblich lebte Dianas Bruder sehr zurückgezogen und galt als äußerst menschenscheu.

„Du bist nicht ganz auf dem Laufenden, Diana, denn der Herzog …“, hob Henriette zu einer Erklärung an, „ist längst nicht mehr im …“

„Das Personal ist äußerst schlampig“, fuhr Lotti lautstark dazwischen und drehte die Vase nach allen Seiten. „In die Mitte des Tisches, habe ich gesagt. In die Mitte! Und jetzt hört auf zu reden, Kinder. Ich muss nachdenken.“

Offensichtlich wollte die Großmutter verhindern, dass Diana hinter ihre Pläne kam und hatte Henriette deshalb unterbrochen. Aber früher oder später würde es ihre Schwägerin ohnehin erfahren. Oder hatte Lotti Angst, dass sich Diana auf ihre Seite schlagen und versuchen würde, ihnen die Sache auszureden bevor sie unter Dach und Fach war? Schade, es wäre interessant gewesen, was ihre Schwägerin dazu gesagt hätte. Immerhin kannte sie Philippe am besten von allen in diesem Raum. Doch im Augenblick konnte sie schlecht danach fragen, weil Lotti eine Missachtung ihrer Anweisungen nicht duldete und Henriette hatte keine Lust auf weiteren Streit. Die Auseinandersetzung, die ihr womöglich bevorstand, würde ohnehin hart genug werden, denn kampflos würde sie nicht in diese Ehe gehen!

Das ungleiche Ticken der Standuhren klang durch den Raum, die sich am jeweiligen Ende der Fensterfront gegenüberstanden. Die Großmutter hatte sie unsinnigerweise hereinstellen lassen. Jede Uhr zeigte eine falsche Zeit, egal wie oft man sie einstellte.

Gelangweilt schaute Henriette aus dem Fenster. In der Nähe der Kapelle flanierten einige Höflinge durch den Park, die bereits ihre Unterkunft bezogen hatten. Vor zwei Tagen waren sie angekommen. Mit ihnen Philippe, dessen Blick gerade über die Fassade schweifte. Henriette sank tiefer in den Sessel, obwohl er sie unmöglich sehen konnte. Trotzdem. Bisher war sie ihm erfolgreich aus dem Weg gegangen und daran würde sie freiwillig nichts ändern. Sehr zum Ärger der Mutter, die zu allem Überfluss am Vortag sogar behauptet hatte, dass Philippe gar nicht schlecht aussehen würde. Pah!

Zugegeben, er war manierlich gekleidet, hatte weder einen Buckel noch war er grün im Gesicht. Der Schnurrbart wirkte frisch gestutzt. Das war es aber schon mit den positiven Seiten. Seine Haut war uneben, als hätten sich winzige Würmer von Pore zu Pore gewühlt. Das dunkelblonde, ins rötlich stechende Haar war ziemlich schütter und er hatte abstehende Ohren. Sicher, ein Oger wie aus einer ihrer Geschichten war er bestimmt nicht, aber weit entfernt von einem Traumprinzen. Von seinem Charakter ganz zu schweigen. Mit Schaudern dachte Henriette an die Begrüßung zurück. Er war blasiert aufgetreten und hatte Unnahbarkeit ausgestrahlt. Vielleicht, weil sie eine Frau war. Immerhin wurde ihm nachgesagt, dass er sich im Bett lieber mit Männern vergnügte. Natürlich würde ihn das nicht davon abhalten, sich eine Frau zu nehmen, um den Schein zu wahren.

Der Herzog von Penthiévre hatte das Schloss indessen nach einer halben Stunde wieder verlassen. Mit hängendem Kopf, weil die Mutter ihm vor Augen hielt, dass er ihrer Tochter nicht das Leben bieten könne, das ihr zustünde. Leider hatte Henriette vom Rest des Gespräches nur Bruchstücke verstanden, als sie an der Tür gelauscht hatte und fand es widersinnig, dass sie den Herzog für nichts und wieder nichts den weiten Weg zugemutet hatten. Vor allem, da die Argumente gegen eine Hochzeit eine Farce waren! Der Herzog war ein steinreicher Mann. Das wusste er, das wussten sie. Am liebsten wäre sie ihm nachgelaufen, denn mit ihm hätte sie sich anfreunden können. Ein stiller und bescheidener Mann. Zwar bezweifelte Henriette, dass sie ihn jemals würde lieben können, doch mit Philippe im Nacken wäre sie sogar vor dem Herzog auf die Knie gefallen, um ihm für den Antrag zu danken. Wie schnell sich das Blatt wenden konnte!

„Luzifer ist im Anmarsch“, verkündete Lotti und wollte aus dem Fenster zeigen, blieb aber mit ihrem Spitzenärmel an den Blumen hängen. Feiner Blütenstaub wirbelte hoch. Die Vase fiel um. Das Wasser verteilte sich in alle Richtungen und durchweichte die Briefe. Doch die Mutter regte sich nicht auf, sondern starrte auf den gelben Blütenstaub, der wie hauchzartes Pulver auf die glänzende Tischplatte oder in die Lache rieselte. „Macht euch bereit.“ Als hätte Lotti mit diesem Satz einen Schuss abgefeuert, sprangen plötzlich alle in die Höhe. Antoine stolperte über sein Spielzeug und drängte sich an Diana, die wie Lotti und die Mutter ans Fenster trat. Henriette blieb, wo sie war.

„Ich bin froh, wenn die Kutsche wieder in die andere Richtung fährt“, ließ Diana verlauten.

„Wem sagst du das“, stimmte die Großmutter zu. „Himmel, sogar die Pferde sehen hochnäsig aus. Seht nur, wie sie den Kopf nach oben halten.“ Mit spitzen Fingern betastete Lotti die Löckchen, die sie sich kunstvoll in die Stirn kämmen und zu einem Halbmond modellieren lassen hatte. Das übrige Haar türmte sich über eine Fontange, als hätte sie auf ihrem Kopf die Notre Dame verewigt. Damit begann der Kampf zwischen den Schwestern. Je höher die Frisur, desto mehr wurde die Gegnerin ausgestochen. Dass diese himmelhohe Haarpracht längst unmodern war, trübte dieses lächerliche Spiel nicht im Mindesten. „Schafft Ordnung und kommt dann zu mir ins Foyer“, befahl Lotti und verließ den Raum mit schlurfenden Schritten.

Henriette erhob sich lustlos vom Stuhl, bückte sich nach dem Spielzeug und warf es in den danebenstehenden Korb aus Birkenzweigen. Auch die anderen räumten in Windeseile auf und kurz danach stellten sie sich neben Lotti auf. Alle machten lange Gesichter. Unmerklich schüttelte Henriette den Kopf. Ihrer Familie war wirklich nicht mehr zu helfen.

Der neue Diener eilte herbei und verharrte dann wie ein Zinnsoldat vor der Pforte.

Als das Knirschen des Kieses verstummte, schnippte Lotti mit den Fingern. Sie hatte ihre eigene Art, Anweisungen zu geben. Der Diener öffnete die Tür bis zum Anschlag.

Ein Fuhrmann half der Großtante gerade aus der Kutsche. Ein unkontrolliertes Zittern ging durch Françoises Körper, woran sie seit Kindesbeinen litt.

„Was für eine Tonne“, flüsterte Henriette. Antoine kicherte.

Françoise schaute sich pikiert um und fächelte sich mit der wurstigen Hand Luft zu. Trotz der vorherrschenden Temperaturen trug sie einen Mantel, hatte ihn jedoch nicht zugeknöpft. Ihr üppiger Busen war wie üblich in ein zu enges Oberteil gepresst. Blauer Brokat mit aufdringlichem rotem Blumenmuster. An der Taille schloss ein brauner Taftrock an. Am schlimmsten war jedoch ihre Turmfrisur, die jedem Bergfried Konkurrenz machte. Es war ein Wunder, dass im Kutschendach kein riesiges Loch klaffte. Aber vermutlich hatte sie die Fahrt im Liegen hinter sich gebracht. „Wir hätten in Paris bleiben sollen“, echauffierte sich Françoise an ihre Tochter Charlotte gewandt, die ebenfalls die Kutsche verlassen hatte. „Stattdessen müssen wir uns dieser Siedehitze aussetzen. Lotti hätte mich ruhig warnen können!“

Henriette blickte zur Großmutter, die ihre Nase rümpfte und vermutlich kurz vor einem Kollaps stand. Zugegeben, sie war etwas schadenfroh.

„Ich habe dir gleich gesagt, dass diese Reise unnütz ist, Mutter.“ Charlotte schob den Umhang über ihrer Brust auseinander. Der Apfel fiel nicht weit vom Stamm. Unter dem ebenso enggeschnürten Oberteil ihres ockerfarbenen Kleides zeigten sich ähnliche Rundungen wie bei der Großtante. „Ich schwitze regelrecht unter meiner Kleidung.“

„Das riecht man.“ Die Großtante wandte sich den Stufen zu, während Charlottes Tochter Maria Fortunata d’Este – ein pummeliges und hübsches Mädchen mit leuchtend blondem Haar – übermütig auf einem Bein um die rothaarige Élisabeth herumhüpfte, die so reglos dastand wie der Diener vorhin. Aber ihre Gegenwart war ein kleiner Lichtblick.

„Was du riechst, ist die grauenhafte Landluft, Mutter.“ Charlotte klatschte mahnend in die Hände. „Hör endlich mit dem Rumhüpfen auf, Maria! Das ist schlecht für meine Nerven.“

Das Mädchen machte keine Anstalten, ihr zu gehorchen.

„Hast du deine Mutter nicht gehört?“, kreischte die Großtante mit schriller Stimme. Fast in derselben Sekunde verschwand die Kleine hinter Élisabeth, die sich zu ihr umdrehte und leise auf sie einsprach. „Was ist das überhaupt für ein Empfang?“, regte sich Françoise weiter auf, hob den Rock an und stieg unter lautem Schnaufen die ersten Stufen herauf. Dabei hatte sie Henriettes Familie fest im Blick. „Aber was wundere ich mich. Etikette war nie Lottis Stärke.“

„Wie gesagt, wir hätten nicht herkommen müssen.“ Charlotte folgte der Großtante und strich sich dabei über die Brüste, als würde sie eine Kostbarkeit berühren. Dann drapierte sie einige Locken ihres hüftlangen schwarzen Haares über die rechte Schulter, der Rest der Pracht steckte in einer Hochsteckfrisur, die allerdings um einiges schlichter war.

„Charlotte wird ihrer Mutter immer ähnlicher“, bemerkte Lotti nicht gerade leise, was Dianas Schwester prompt mit einem entrüsteten Blick kommentierte. Die engliegenden Augen waren ohnehin ständig auf der Suche nach Gemeinheiten, die sie abfällig unter das Volk bringen konnte. Um ihren kleinen Mund lag ein böser Zug und ihr Gesicht drückte diese Garstigkeit auch bildlich aus.

„Das wird ein Fiasko, Babette“, sagte Lotti zu Henriettes Mutter. „Und dafür musste ich mein Zimmer räumen? Nur weil die feine Madame glaubt, Anspruch auf den prunkvollsten aller Räume zu haben?“

Inzwischen walzte die fettleibige Familie ins Foyer. Keuchend stellte sich Françoise vor Lotti, Charlotte und ihre Tochter bezogen dahinter Stellung. Élisabeth hingegen küsste Diana auf beide Wangen, sprach einen allgemeinen freundlichen Gruß aus und bedankte sich für die Einladung. Sie war warmherzig, aber sehr scheu. Ihr Kopf neigte sich ständig nach rechts, als würde ihr die Kraft fehlen, ihn gerade zu halten.

„Stell dich gefälligst zu den anderen“, verlangte die Großtante. Mit einem verlegenen Lächeln kam Élisabeth der Aufforderung nach. „Du hast zugenommen, Lotti“, hob Françoise dann zur nächsten Gemeinheit an.

„Solange ich mich nicht seitlich durch jede Tür zwängen muss wie du, bin ich zufrieden“, konterte die Großmutter und strich sich über die schmalen Hüften. „Kinder, erinnert mich beizeiten daran, dass ich Ludwig darum bitte, die Türen verbreitern zu lassen. Ansonsten muss meine Schwester beim nächsten Ball leider draußen bleiben.“

Françoises Stirn runzelte sich. „Ein Umbau wäre unnötig. Erstens ist das meine letzte Teilnahme an dem unsinnigen Ball, der jedes Mal gähnend langweilig ist, und zweitens erschüttert mich die Kargheit des Hauses. Lässt es Ludwig jedes Jahr räumen, bevor du kommst? Aber wie dem auch sei, ich hoffe, dass es wenigstens Betten gibt.“

Lotti lächelte spöttisch, aber in diesem Punkt hatte Françoise nicht ganz unrecht. Das Schloss wurde mit jedem Jahr leerer, denn während ihrer jährlichen Aufenthalte wanderten immer wieder wertvolle Bildteppiche, Gobelins und teures Dekor in die Hände eines Hausierers. Nur die Prunkräume blieben vom Diebeszug der Großmutter verschont und wenn Besuch kam, wurden die verbliebenen Wertsachen auf jene Zimmer verteilt, die den Gästen zur Verfügung standen. Dass sie monarchisches Eigentum verkaufte, wies Lotti weit von sich. Als Tochter des verstorbenen Königs stünde ihr das zu und sie würde nicht daran denken, alles Françoise in den gierigen Rachen zu schieben. Allerdings sah Henriette das Ganze mittlerweile in einem anderen Licht. Die Großmutter brauchte Geld. Deswegen machte sie nicht einmal vor fremdem Eigentum Halt. Es war schrecklich, dass in dieser Familie gelogen wurden, dass sich die Balken bogen.

„Natürlich haben wir Betten, liebste Schwester“, säuselte Lotti mit honigsüßer Stimme, „fragt sich nur, wie lange sie vollzählig bleiben. Immerhin wirst du eines beziehen und ich befürchte, dass es unter deinem fetten Hintern zusammenbrechen wird.“

Henriettes Mutter trat einen Schritt vor. „Bitte, fangt nicht wieder zu streiten an.“

„Wer streitet denn, Babette?“, beschwerte sich Lotti verschnupft. „Wir kennen keinen anderen Umgang miteinander, sobald wir in einem Raum sind.“

„Darin stimme ich dir ausnahmsweise zu“, nahm Françoise sofort den Faden auf. „Denn auch ich hätte lieber einige Kontinente zwischen uns.“

„Warum bist du dann gekommen?“

„Du kennst die Antwort, meine Liebe“, kam es zweideutig zurück. „Und du“, sie deutete mit dem Zeigefinger auf Henriettes Mutter, „solltest dich raushalten, Narbenfratze.“ Die Großtante machte ein angewidertes Gesicht. „Es dauert Wochen, bis man sich von deinem Anblick erholt und selbst ich, die daran gewöhnt sein müsste, bin immer wieder aufs Neue schockiert.“

„Was erlaubt Ihr Euch?“, verteidigte Henriette trotz allem ihre Mutter, die ihr jedoch mit strenger Miene bedeutete, still zu sein.

„Sieh an, dir scheint es immer noch an Manieren zu fehlen.“ Françoises Miene verfinsterte sich. „Aber dem wird bald Abhilfe geschaffen. Übrigens hatte ich auf dem Weg hierher eine weitere blendende Idee“, wandte sie sich an Lotti. „Ich möchte, dass dein Urenkel Antoine meine Enkelin Maria heiratet, sobald sie im entsprechenden Alter sind.“

Diana erstarrte zur Salzsäule. „Nur über meine Leiche, Mutter!“ Der Junge drängte sich an Diana und vergrub die Finger in den Falten ihres Kleides.

„Komm zu mir, Maria.“ Françoise drehte sich zu dem Mädchen um, das erschrocken die Augen aufriss. Noch ehe sich’s die Kleine versah, zerrte die Großtante sie am Kragen zu sich. „Eine wohlerzogene Braut.“ Françoise schob Maria vor Lotti hin. Die Lippen der Kleinen, die im selben Alter wie Antoine war, bebten. In ihren Augen schwammen Tränen. „Du warst schon immer aufsässig, Diana. In Lottis Haus wird sich das um einiges verschlimmert haben. Aber du kannst dich winden wie eine Schlange, letztendlich wirst du dich fügen, weil ich es von dir erwarte. Wir müssen schließlich den Fortbestand unserer Dynastie sichern und mir persönlich ist es egal, ob du an der Hochzeit lebend oder im Sarg teilnimmst. Geheiratet wird in jedem Fall.“ Diana erbebte. „Und du, Babette, beabsichtigst also Philippe in deine Familie aufzunehmen?“ Françoise setzte ein falsches Lächeln auf. „Du nimmst mir eine große Bürde, denn wie du ja weißt, wollte ihn keine andere. Umso erleichterter bin ich über deine Zusage, obwohl ich dafür deine Familie in Kauf nehmen muss, aber was tut man nicht alles, nicht wahr? Du hast ja ebenfalls keine Skrupel, deine Tochter zu opfern.“ Der boshafte Seitenblick auf Lotti glich einem imaginären Fausthieb. „Philippe wird Henriette guttun und ihr die nötige Erziehung angedeihen lassen. Und keine Angst, seine Wutanfälle hat er inzwischen halbwegs im Griff.“

Henriette warf ihrer Mutter einen verzweifelten Blick zu, die kreidebleich geworden war. Ebenso wie Diana, der das Entsetzen förmlich ins Gesicht geschrieben stand. „Darüber ist noch nicht das letzte Wort gesprochen“, ergriff Henriette Partei für sich selbst, weil es sonst keiner tat. „Außerdem gibt es bereits einen Anwärter, der mir sehr gut gefällt.“

„Halt den Mund“, wurde Lotti zornig.

„Lass sie doch“, gewährte Françoise und musterte Henriette. „Meinst du den Herzog von Penthiévre?“

„So ist es“, bestätigte sie und fragte sich, woher Françoise das schon wieder wusste.

Die Großtante lächelte. „Der Herzog ist uns auf dem Weg hierher begegnet und hat sich über die Abfuhr deiner Mutter beklagt.“ Sie raffte ihren Rock. „Womit alles gesagt ist. Du wirst Philippe heiraten, ansonsten wird deine Familie ihres Lebens nicht mehr froh.“

Charlottes triumphierender Blick traf Henriette, die am liebsten davongelaufen wäre. Élisabeths Miene drückte Mitleid aus. Der Diener hüstelte vornehm und führte die Großtante samt Gefolge die Treppen hinauf, um ihnen die Zimmer zuzuweisen. Das Schließen einiger Türen hallte bedrohlich zu ihnen herunter.

„Wie konntest du eine Hochzeit mit Philippe auch nur ansatzweise in Erwägung ziehen, Babette?“, warf Diana ihr vor. „Henriette ist deine einzige Tochter und Philippe für seine schlagkräftigen Argumente bekannt. Mein Bruder hat mir Dinge über meinen Neffen erzählt, die mir noch jetzt das Blut in den Adern gefrieren lassen. Sogar er fürchtet sich vor seinem Sohn!“

„Das weiß ich selbst“, entgegnete Henriettes Mutter und ging in den Salon zurück. Die anderen folgten ihr. „Und ich verfluche mich dafür, dass wir …“ Sie brach ab.

„Dass ihr was?“ Diana ließ sich ächzend auf Henriettes Stuhl nieder und strich sich über den Bauch. „Du musst das wieder in Ordnung bringen! Auch für Antoine möchte ich alles andere, aber sicher keine enge Bindung zu Mutter. Je weniger wir miteinander zu tun haben, desto besser.“

„Es ist zu spät. Zumindest für Henriette“, ließ Lotti verlauten, die mit dem Rücken zu ihnen stand und aus dem Fenster starrte. Schiefergraue Wolken türmten sich am Himmel auf. Der Wind zerrte an den Bäumen und bog die schwächsten unter ihnen gen Erde. Sein Heulen und das Rütteln an den Balken verstärkten Henriettes Angst. Sie ahnte, dass sie verloren hatte.

Lotti räusperte sich. „Philippe suchte mich heute Morgen auf. Françoise hat ihn in alles eingeweiht. Kurz und gut, ich habe seinen Antrag auch in deinem Namen angenommen, Babette.“

Henriettes Hände umklammerten die Stuhllehne. Ihre Beine schienen wie mit Blei gefüllt. Durch ihren Kopf rasten tausend Gedanken und schreckliche Bilder.

„Du hast das ohne Rücksprache mit mir entschieden?“, hörte Henriette die Mutter und blickte zu ihr. Mit zorniger Miene umfasste sie Lottis Schultern und drehte sie unwirsch zu sich herum.

„Es war unsere gemeinsame Entscheidung!“, herrschte Lotti sie an.

„Und wenn schon.“ Die Mutter schüttelte den Kopf. „Weshalb musst du mich ständig übergehen?“

„Du tust gerade so, als hätten wir das nicht nächtelang durchgekaut. Das Ganze war auch in deinem Sinn oder willst du das etwa abstreiten?“

„Nein, aber ich …“

„Dann ändere nicht ständig deine Meinung. Wir haben ohnehin keine Wahl.“

„Ihr sprecht, als wäre ich nicht anwesend“, mischte sich Henriette ein. Ihre Mutter ließ von der Großmutter ab. „Und nur damit ihr es wisst: Ich habe keinesfalls vor, diesen Mann zu heiraten! In den letzten hundert Jahren hat sich viel geändert. Heutzutage sind weder eine Trennung noch eine Weigerung zu heiraten verboten. Deshalb denke ich nicht im Traum daran, mit diesem Mann vor den Altar zu treten. Philippe kann mir gestohlen bleiben und du auch, Großmutter, wenn du weiterhin darauf bestehst, dass ich diesem Teufel mein Ja–Wort gebe. Zusage hin oder her, sie ist nichts wert, wenn ich nicht will.“

„Mäßige dich, junge Dame“, schimpfte Lotti, schaute dabei jedoch Henriettes Mutter in die Augen. „Bring deine Tochter gefälligst zur Vernunft, Babette“, zischte sie ihr zu.

„Wenn Louis davon erfährt, könnt ihr euch auf etwas gefasst machen“, drohte Henriette ihnen.

„Dein Bruder weiß es bereits“, informierte Lotti sie. Diana und Henriette wechselten einen entsetzten Blick. „Er unterstützt unseren Plan mit Philippe.“

Ob den Herzog … oder einen anderen, kamen ihr Louis’ Worte in den Sinn und plötzlich wurde Henriette einiges klar. Seine überstürzte Abreise hatte nichts mit der Großtante zu tun, sondern damit, dass er wusste, wie sie auf Philippe als Bräutigam reagieren würde! „Von wegen Versöhnung“, stieß sie mit einem kalten Blick auf die Mutter aus, „Ich hatte recht, dass das nur ein vorgeschobener Grund ist. Auf meine Kosten und auf die des Herzogs. Wieso habt ihr ihn herbemüht?“

Er bat um diese Unterredung, nicht wir“, bemüßigte sich ihre Mutter zu einer Erklärung. „Natürlich haben wir ihm diese Bitte nicht verwehrt.“

„Wie edelmütig ihr seid und für alles habt ihr eine passende Ausrede.“

„So einfach ist es nicht, Kind.“

„Oh doch, Mutter, so einfach ist es! Was mich jedoch am meisten entsetzt, ist die Tatsache, dass ihr euch einen Dreck um mich schert.“

„Die Sache mit Philippe ist wesentlich komplizierter als du annimmst.“ Lotti strich sich eine Strähne aus der Stirn.

„Was kommt jetzt? Eine weitere Lüge? Vielleicht die, dass ihr von Françoise erpresst werdet?“

In Lottis Augen flackerte etwas auf. „Akzeptiere es einfach und alles ist gut“, fuhr sie ihr über den Mund. „Heiraten musst du so oder so.“

„Gut, dein Wunsch ist mir Befehl. So lange es nicht Philippe ist.“

„Auch darüber wird nicht mehr diskutiert.“

„Großmutter, das kannst du nicht von mir verlangen. Ihr alle nicht!“

„Wir können und wir werden“, zeigte sich Lotti ungerührt.

Henriette starrte sie fassungslos an, bevor sie auf dem Absatz kehrtmachte und aus dem Schloss rannte. Regen peitschte ihr ins Gesicht, als sie auf den Wald zulief. Der Wind riss an ihrem zinnoberroten Kleid. Ein tiefhängender Zweig am Waldrand streifte sie an der Wange und hinterließ einen brennenden Schmerz. Doch Henriette rannte weiter, ohne ein Ziel zu haben. Sie wollte fort, möglichst weit fort, weil sie es in der Nähe ihrer Familie nicht mehr aushielt.

Die Geschwister Bourbon-Conti - Ein fatales Familiengeheimnis

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